Coronavirus in Israel

Unwissen tötet

d'Lëtzebuerger Land du 17.04.2020

„Die außergewöhnlichen Ereignisse, die wir erleben, bedrohen die Grundlagen der ultraorthodoxen Lebensweise“, so Gilad Malach, der am Israelischen Demokratieinstitut in Jerusalem das Programm Ultraorthodoxe in Israel leitet. Ein Leben, in dem die Gemeinschaft und die Synagoge im Zentrum stehen, der Glaube an Rabbis, abgeschnitten vom Internet, ein Leben in ärmlichen Verhältnissen und ohne Lohnarbeit – dieses Leben könnte die Corona-Krise fundamental erschüttern.

Die ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaften sind besonders schwer vom Virus getroffen. Die Maßnahmen des social distancing, die Israel im Vergleich zu anderen Ländern, früh ergriffen hat, wurden in der ultra-orthodoxen Gemeinschaft nur mit zweiwöchiger Verspätung umgesetzt. Das hat zur Folge, dass mehr als die Hälfte der Corona-PatientInnen Ultraorthodoxe sind, dabei machen sie nur zwölf Prozent der Bevölkerung aus. Zahlreiche Köpfe der ultraorthodoxen Community sind an Covid-19 erkrankt, unter anderem auch der israelische Gesundheitsminister Yakov Litzman, der vor wenigen Wochen noch den Messias als Retter vor dem Virus ins Spiel gebracht hat. Anerkannte spirituelle Führer wie der ehemalige Oberrabbiner Bakshi Doron sind daran verstorben.

Um die Konsequenzen zu verstehen, die die Corona-Krise auf die ultraorthodoxen Gemeinschaften haben kann, muss man zunächst einen Blick auf die Gründe für das Scheitern werfen. Benny Brown, Professor an der Hebräischen Universität und Spezialist für ultraorthodoxes Denken und jüdisch-religiöses Gesetz, betont, dass es im Charakter der ultraorthodoxen Gemeinschaften liegt, dass es ihnen schwer fällt, staatliche Vorschriften umzusetzen. „Die ultraorthodox geprägte Stadt Bnei Brak ist die am dichtesten besiedelte Stadt Israels“, sagt Benny Brown, Als einziger säkularer Junge in seiner Nachbarschaft ist er genau dort in Bnei Brak aufgewachsen – der Stadt, die aufgrund der hohen Infektionsrate in den letzten Tagen in Israel im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stand. Einen Abstand von zwei Metern auf den Bürgersteigen einzuhalten, grenzt dort ans Unmögliche. „Und wenn du dir mit einer zehnköpfigen Familie eine Dreizimmerwohnung teilst: in welchem Zimmer willst du dich gegebenenfalls isolieren?“

Hinzu komme die Schwierigkeit, sich von der Gemeinschaft zu lösen. „Die ultraorthodoxe Gemeinschaft ist eine sehr soziale Gemeinschaft, mehr als man sich in westlichen Gesellschaften vorstellen kann.“ Das Leben findet rund um die ‚Shul‘ statt. Man lernt nicht nur in den religiösen Bildungseinrichtungen, sie sind eigentlich das zweite Zuhause, für einige das erste.

Entscheidend war für die verspätete Reaktion gegenüber Covid-19 in den ultraorthodoxen Communities wohl der Gehorsam der Religiösen ihren spirituellen Anführern, den Rabbis, gegenüber. Einer der einflussreichsten Rabbis, Chaim Kanievsky, ordnete wie die meisten Rabbis an, dass der Betrieb in den Synagogen weitergehen muss. „Doch er wusste nichts von der Pandemie“, sagt Brown: „Kanievsky ist 92 Jahre alt, nutzt natürlich kein Internet und ist nicht auf dem Laufenden.“

Anfang April, kurz vor Pessach, kam mit dem Schock über die ersten Toten und die zahlreichen Infizierten der Umschwung. Nachdem der Mentalitätswechsel vollzogen war, hatte die ultraorthodoxe Gesellschaft Israels, abgesehen von einigen Hardlinern, keine Schwierigkeiten, sich an die neuen Regeln der sozialen Distanzierung zu halten. Das jüdische Gesetz heiligt die Rettung von Leben vor allen rituellen Anforderungen, so dass die religiöse Begründung für die Aussetzung des Gemeinschaftslebens bereits vorhanden war. Man könnte meinen, sobald die Corona-Pandemie gebändigt sei, werde alles zum Alten zurückkehren. Doch die Corona-Krise greift das ultraorthodoxe Leben in seinem Kern an, das, was die ultraorthodoxen Communities zusammenhält: die Gemeinschaft, das gemeinsame Beten und Lernen, die Abgrenzung von modernen Lebensentwürfen.

Einige Veränderungen würden laut Gilad Malach vom Israelischen Demokratieinstitut bereits jetzt sichtbar. Bis zur aktuellen Krise nutzten nur 50 Prozent der Gemeinschaft das Internet, häufig „gefiltert“ für die Arbeit oder nur auf wöchentlicher Basis. Innerhalb eines Monats ist die Internetnutzung auf 60 Prozent der Bevölkerung angestiegen. Und im Vergleich zum Februar loggten sich ultraorthodoxe NutzerInnen im März 200 bis 600 Prozent häufiger ein. Dabei riefen sie auch Nachrichten von säkularen Seiten und nicht nur von ultraorthodoxen Websites ab. Insgesamt könnte laut Malach Corona eine Individualisierungsbewegung innerhalb der streng hierarchisch organisierten ultraorthodoxen Welt auswirken.

Auch Brown sieht das Potenzial dazu, allerdings werde eine Individualisierung nicht unmittelbar wegen Corona stattfinden. „Die Ultraorthodoxen sind schon durch tiefere Krisen, nämlich den Holocaust, gegangen. Auch damals, als sie ihre Anführer dafür angeklagt haben, das große Unheil nicht vorhergesehen zu haben, haben sie einen Weg gefunden damit umzugehen, ohne sich von ihren Rabbis oder Gott abzuwenden.“

Doch Brown sieht in Corona durch aus einen Auslöser für Veränderung. Für diejenigen, die ohnehin schon skeptisch sind, sei es nun leichter, die Kritik zu äußern. Vor allem aber könnte die drohende ökonomische Krise dazu führen, dass die soziale Unterstützung der ultra-orthodoxen Communities wegbricht, die Haredim könnten gezwungen sein, arbeiten zu gehen, zu studieren, möglicherweise auch zur Armee zu gehen wie die säkularen Israelis. Das wäre revolutionär für die ultraorthodoxe Welt und würde mit einem breiteren Modernisierungsprozess einhergehen.

„Noch ist es zu früh, um zu sagen, was genau sich ändern wird - aber man kann mit Sicherheit sagen, dass sich so viel ändern wird“, so Malach. Die Welt nach Corona wird nicht dieselbe sein, auch nicht und vielleicht gerade nicht für die Ultraorthodoxen.

Judith Poppe
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