Xavier Bettel/DP

Die Partei der Vorsichtigen

d'Lëtzebuerger Land vom 13.09.2013

„In der Hauptstadt gibt es 17 Kirchenfabriken. Die einen erwirtschaften Überschüsse, die anderen verbuchen Verluste, die dann von der Stadt getragen werden müssen. Ich habe dem Erzbischof gesagt, dass es da eine Solidarität zwischen den Kirchenfabriken geben muss. Andernfalls stimmt der Gemeinderat im November das Budget wohl nicht. Dann muss der Innenminister seine Verantwortung übernehmen.“

Auch wenn Xavier Bettel vor knallbunten Comic-Gemälden in seinem Bürgermeisterbüro am hauptstädtischen Knuedler über landespolitische Fragen redet, veranschaulicht er sie gerne mit kommunalpolitischen Beispielen. Aber in einem Land, das schon nach einer Stadt benannt ist, ist selbst der Regierungschef nur ein Oberbürgermeister.

Dass Xavier Bettel am liebsten Bürgermeister der Stadt bleiben will, macht es seiner Partei nicht leichter. Seit den Gemeindewahlen vor zwei Jahren hat er laut Meinungsumfragen Premier Jean-­Claude Juncker den Rang des beliebtesten Politikers im Land abgelaufen, und der Sturz der Regierung vor zwei Monaten müsste die idealen Voraussetzungen schaffen, damit die sich seit einem Jahrzehnt verzweifelt erneuernde Demokratische Partei endlich wieder in die Regierung kommt. Wäre da nicht ausgerechnet ihr Publikumsliebling zu launisch, um den aufopferungsvollen Parteisoldaten zu spielen. Er ziert sich, Spitzenkandidat zu werden und gegebenenfalls ein Ministeramt zu übernehmen.

So ist Xavier Bettel offiziell nur Spitzenkandidat im Zentrumsbezirk. Aber selbstverständlich glaubt das niemand, auch er nicht. Denn derzeit erhält er alle paar Tage Einladungen zu Podiumsdebatten der nationalen Spitzenkandidaten. Auch seine Wortwahl ändert er behutsam: „Ich strebe nicht danach, in die Regierung zu kommen. Ich habe meine persönliche Wahl getroffen und möchte, wenn es möglich ist, Bürgermeister bleiben. Aber wenn die DP eine bedeutende Rolle in einer Koalition spielen wird, kann ich nicht Nein sagen.“

Ein wenig sieht das alles aus, als ob der nie ganz erwachsen gewordene 40-Jährige sich nicht zutraut, eine nationalpolitische Rolle zu spielen. Schließlich machte die DP den überragenden Selbstdarstellungskünstler nicht wegen seiner in entscheidenden Dossiers fehlenden Fachkompetenz oder wegen seines sehr mäßigen Organisationstalents, sondern unter dem Druck des Wählerwillens, wegen seiner steigenden Popularität erst zum Frak­tionssprecher und dann zum Parteivorsitzenden (d‘Land, 1.2.2013).

Über sich selbst meint der politisch schwer in der DP zu verortende Anwalt: „Ich gehöre zum sozial­liberalen Flügel. Ich war jahrelange Sozial­schöffe, wir führten die Cent Buttek ein.“ Denn „in gesellschaftspolitischen Fragen bin ich links, in wirtschaftspolitischen Mitte-rechts“. Das mag auch der den Liberalen oft vorgeworfene Opportunismus sein, den sie selbst Pragmatismus nennen. Aber wenn die Unternehmervereine 5vir12 und ­2030.luzu den lautesten Stimmen im Wahlkampf gehören, bemüht Bettel sich auffällig, die DP nicht in die Ecke der liberalen Wirtschaftspartei drängen zu lassen, wo die Wähler rar sind: „Wir sind nicht die Liberalen, die alles aufmachen. Die Krise kam auch, weil stellenweise nicht genug reguliert wurde.“ Er glaubt nicht, „dass alles dereguliert werden muss und die Märkte alles von selbst regeln“.

Deshalb scheut sich Xavier Bettel nicht, dem DP-Wahlkampf von 2009 zu widersprechen: „Wir sind keine Partei der Mittelschichten.“ In der DP seien „auch Leute, die das garantierte Mindesteinkommen beziehen“. Aber man müsse den Leuten helfen, „aus ihrer Lage herauszukommen. Deshalb verlangen wir Weiterbildungsangebote für RMG-Empfänger“. Andererseits seien im Arbeitsrecht „sicher Änderungen möglich“, wie das Beispiel der Sonntagsarbeit zeige. „Die Stadt Luxemburg konnte ihre Kindertagesstätten während der Urlaubszeit öffnen, weil ich mit den Beschäftigten geredet haben und Leute fand, die Interesse daran hatten, ihre Arbeits- und Urlaubszeit anders zu planen.“

Um keinen Wähler kopfscheu zu machen, lehnt ­Xavier Bettel mit den gleichen Worten wie LSAP und Grüne die von Handels- und Handwerkskammer verlangte Abschaffung des Index und den von der CSV angekündigten gedeckelten Index ab: „Der Index ist immens wichtig. In schwierigen Zeiten müssen wir uns aber vielleicht auf eine Tranche jährlich beschränken.“ Selbst für diesen Fall verlangt er aber „Gegenleistungen“. Dann müssen die Unternehmen beispielsweise „die eingesparten Mittel in die Ausbildung, Lehrstellen und die Beschäftigung von Jugendlichen investieren“. Fast nostalgisch hört es sich schon an, wenn er betont: „Die Tripartite ist immens wichtig, sie muss wiederbelebt werden. Aber in der Tripartite darf die Regierung keine Zuhörerin sein, sondern muss Vorschläge bringen.“

Dagegen will die Demokratische Partei, die 1999 die Wahlen mit den Stimmen der Staatsbeamten gewonnen hatte, ihr damals heiliges Prinzip Pacta sunt servanda außer Kraft setzen: „Wir können kein Gehälterabkommen stimmen, wenn wir gleichzeitig die Mehrwertsteuer um zwei Prozent erhöhen.“ Da müsse mit der CGFP diskutiert werden, eventuell um die bereits aufgeschobene Punktwerterhöhung zu strecken. Einen Zusammenhang mit der Reform des Beamtenstatuts will er nicht sehen, schließlich sei sie „nicht gegen die Beamten gerichtet“. Aber „die Sekundarschulreform kann so nicht umgesetzt werden“. Xaver Bettel bescheinigt LSAP-Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres zwar, „keine schlechten Absichten gehabt zu haben. Aber selten wurde eine Reform so einmütig von allen Seiten abgelehnt“.

Auch wenn die Liberalen im Herzen eine Steuersenkungspartei sind, sind sie bereit, mit einem künftigen Koalitionspartner die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um den Steuerausfall des elektronischen Handels auszugleichen. Aber für Xavier Bettel „genügt es nicht, die Mehrwertsteuer um zwei Prozent zu erhöhen. Mann muss auch die langfristigen Auswirkungen abwägen. Wie steht es beispielsweise mit der Besteuerung der Soparfi, welche Fonds haben durch diese Steuer den Finanzplatz verlassen?“ Beim Thema Steuerreform, in der die Mehrwertsteuererhöhung verpackt werden soll, bleibt er vage: „Wir müssen eine Steuerreform machen. Die Individualisierung der Besteuerung muss endlich eingeführt werden. In der Krise muss jeder einen Beitrag leisten. Aber wir bleiben der Überzeugung treu, dass breitere Schulten stärker belastet gehören.“

In gesellschaftspolitischen Fragen gibt sich die DP offen: „Ich bin für das Ausländerwahlrecht bei den Kammerwahlen nach einer Aufenthaltsdauer von sieben oder acht Jahren. Gleichzeitig soll aber auch der Zugang zur Staatsbürgerschaft vereinfacht werden, indem die Aufenthaltsdauer gesenkt und die Sprachenklausel vereinfacht wird.“ Xavier Bettel ist auch „für ein Referendum über die geplante Verfassungsreform, um diesen großen Entwurf zu legitimieren. Doch die Volksbefragung darf sich nicht auf den einen oder anderen Punkt beschränken und die Verfassung muss gut erklärt werden.“

Aber wenn es um Koalitionen geht, ist Xavier Bettel konservativ. „Es gibt auch bei uns eine Strömung, die eine Dreierkoalition befürwortet“, räumt er ein. Aber er gehört offenbar nicht dazu. „Ich will auf keinen Fall eine Koalition, die gegen jemand gerichtet ist.“ Vielleicht weil am Abend des 20. Oktobers die DP-Mandate bloß für eine Koalition mit der CSV reichen werden. Das könnte auch die Zurückhaltung erklären, mit der die DP Jean-Claude Juncker im Geheimdienstskandal kritisierte.

Zwar ist „das Argument, dass nach so langer CSV-Herrschaft ein Wechsel gut tun könnte, nicht von der Hand zu weisen. Aber wenn ich es anführte, könnte ich es auch gegen mich selbst richten“, lächelt Xavier Bettel. In der Hauptstadt ist die DP in der gleichen Lage wie die CSV auf nationaler Ebene: Mit Ausnahme von LSAP-Bürgermeister Paul Wilwertz zwischen 1964 und 1969 wird die Stadt seit einem Jahrhundert von liberalen Bürgermeistern regiert. „Schließlich kam Jean-Claude Juncker nicht durch einen Putsch an die Macht, sondern wurde von den Leuten gewählt“, wiederholt er eine der Lieblingsphrasen des CSV-Premiers.

Auch die Erneuerung, ein Lieblingsbegriff der LSAP und der anderen Oppositionsparteien, bringt Xabier Bettel nichts in Schwärmen: „Über die Erneuerung müssen zuerst die Bürger und Wähler entscheiden.“ Außerdem sei „das Land völlig in zwei geteilt: Jene, die Verständnis für Jean-Claude Juncker haben, und jene, die finden, dass es einen Wechsel geben müsste.“ Erst auf Nachfrage räumt er ein: „Sicher ist, dass wir nicht mit denselben Leuten von vorne beginnen können. Denn die Rezepte beziehungsweise Nicht-Rezepte der Vergangenheit sind wirkungslos.“

Das könnte sogar riskant werden. Denn ausgerechnet in der liberalen Hochburg, im Zentrumsbezirk, bietet die LSAP einen sich liberal gebenden Spitzenkandidaten auf, der unverfrorener als die DP Oppositionspolitik betreibt. Da muss Xavier Bettel abwägen: „Etienne Schneider ist ein Mann, der Zahlen lesen kann, der etwas von Wirtschaft versteht. Er ist ein Sozialliberaler, der genauso gut bei uns in der Partei sein könnte. Aber ich weiß, nicht ob seine Partei auch so sozialliberal ist wie er.“

Gleichzeitig will Bettel sich von Schneider unterscheiden: „Ich bin nicht Kandidat, um Premierminister zu werden. Die Arroganz für solche Ansprüche habe ich nicht, wenn die CSV derzeit 26 Sitze hat und wir neun oder die LSAP 13.“ Noch im Frühjahr schien die DP in den Meinungsumfragen zwei Sitze zu gewinnen und die LSAP zwei zu verlieren, so dass sie gleichstark geworden wären.

Romain Hilgert
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