Luxemburg und die Wissensgesellschaft

Wir wollen’s wissen

d'Lëtzebuerger Land du 30.10.2015

Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) dürfte die gute Nachricht demnächst offiziell verkünden: Luxemburg soll ein zweites Forschungs-Exzellenzzentrum erhalten. Das erste wurde im April in der Biomedizin gegründet. Es soll sich der Parkinsonschen Krankheit widmen und Resultate liefern, die in der klinischen Praxis anwendbar sind (siehe den Artikel auf S. 25 dieser Beilage).

Doch während das Parkinson-Zentrum auf eine Idee des nationalen Forschungsfonds FNR zurückgeht, kam die Initiative für das zweite aus der Industrie – ganz ursprünglich aus dem Good-year-Forschungszentrum in Colmar-Berg und der Forschungsabteilung von Dupont de Nemours in Contern. Der Auftrag dieses Zentrums wird lauten, an neuen Verbundwerkstoffen (Kompositen) zu arbeiten. Eine Machbarkeitsstudie ergab, dass zwanzig Betriebe an dieser Art Forschung interessiert sind und es auf diesem Gebiet 25 potenzielle größere Projekte geben könnte, die allen Beteiligten zugute kämen. Angesiedelt werden soll das Zentrum am List, dem Luxembourg Institute of Science and Technology, zu dem Anfang des Jahres die öffentlichen Forschungszentren Henri Tudor und Gabriel Lippmann zusammengeschlossen wurden. Finanzieren sollen es der Staat und die beteiligten Unternehmen gemeinsam.

Dass der Anstoß für das Vorhaben aus dem Privatsektor kam, ist bemerkenswert. Bislang wurde das nicht für möglich gehalten. Vor drei Jahren klagte der damalige Forschungsminister François Biltgen (CSV) in einem Gespräch mit dem Land, dass der Versuch, die Luxembourg School of Finance nicht nur zu einer Ausbildungsstätte, sondern obendrein zu einem Forschungszentrum für die Finanzbranche zu machen, ebenso wenig Erfolg hatte wie das Angebot des Gabriel-Lippman-Forschungszentrums, ein Labor ganz auf den Bedarf der heimischen Automobilzulieferer auszurichten. „Eine gemeinsame Forschungsstrategie aufzustellen“, meinte Biltgen, scheitere im Privatsektor entweder „an der großen Diversität der Betriebe“ oder daran, „dass viele von ihnen keine Luxemburger Unternehmen sind, sondern Unternehmen in Luxemburg“ (d’Land, 26.10.2012).

Wie die Dinge nun liegen, stimmt das doch nicht. Wenngleich die Einigung auf das Komposit-Exzellenzvorhaben dem Vernehmen nach nicht einfach war und es zwischenzeitlich ernsthaft zu scheitern drohte.

Kann dieses Exzellenzzentrum Vorbildcharakter haben? Immerhin enthält es Aussicht auf Innovationen auf hohem Niveau, auf hochwertige Produkte und Technologien, die einer Branche hohe Produktivität sichern und Wachstumschancen bieten. So etwas sucht das Wirtschaftsministe-rium beinah händeringend in einer Zeit, da eine Souveränitätsnische nach der anderen geschlossen werden muss, zuletzt die Mehrwertsteuerregelung im elektronischen Handel, dann das Bankgeheimnis, nun die Steuer-Rulings, und die Staatseinnahmen aus dem Tankstellengeschäft mit billigen Diesel, Tabak und Kaffee sind ebenfalls rückläufig. Dass etablierte Unternehmen sich zusammentun und gemeinsam darüber nachdenken, welchen Bereich sie in den nächsten fünf Jahren gemeinsam voranbringen könnten, wie zum Komposit-Projekt geschehen, ist wirtschaftspolitisch von großer Bedeutung.

Und es wirft die Frage auf, ob hierzulande Innovationen auf hohem Niveau sich organisieren lassen könnten, so dass eine Branche längerfristig davon zehren kann. In den USA zum Beispiel übernimmt der Staat dabei eine führende Rolle. Dass ein Unternehmen wie Apple allein durch den Verkauf des I-Phone vergangenes Jahr einen Rekordgewinn von elf Milliarden Dollar einfuhr, ist darauf zurückzuführen, dass vorhandene Technologien auf raffinierte Weise in einem Produkt zusammengeführt wurden, es mit einem originellen Design versehen wurde, es schlau vermarktet wird und um das Produkt herum eine ganze Palette von Dienstleistungen geschaffen wurde.

Die Mobiltelefonie dagegen hat Apple ebenso wenig erfunden wie den Touchscreen oder die Mi-krochips, die in einem Smartphone stecken. Diese Technologien zu entwickeln, ging auf staatliche Entscheidungen zurück, nicht nur in den USA, aber vor allem dort. Anschließend vermögen Firmen sie in Innovationen zu nutzen. Und erst Ende Juli ordnete US-Präsident Barack Obama per Dekret an, dass alles zu unternehmen sei, damit die USA im High performance computing in den kommenden Jahrzehnten weltweit führend bleiben. Viel Geld aus öffentlichen Quellen wird mit solchen Executive orders nicht gleich mobilisiert. Sie setzen aber eine Forschungsagenda und schaffen die Voraussetzung für Netzwerke zwischen öffentlichen und privaten Forschungseinrichtungen und besonders forschungsintensiven Firmen. Und in der Regel ist der Staat der erste, der neu entwickelte Technologien einkauft, meist über das Verteidigungsministerium, die Weltraumbehörde Nasa oder auch das Energieministerium.

Diese Zusammenhänge sind so spezifisch amerikanisch, dass sie sich vermutlich nicht einmal auf größere europäische Länder ganz einfach übertragen lassen. Geschweige auf Luxemburg mit seiner offenen Volkswirtschaft. Die Frage, wie Technologieentwicklung und Innovationen beeinflusst und organisiert werden könnten, stellt sich aber trotzdem. Die OECD kam im Frühjahr in einem Bericht über das Luxemburger „Innovationssystem“ zu dem Schluss, es fehle an einer Strategie, die Forschungsprioritäten von Staat und nationalem Forschungsfonds sollten überdacht werden, die Wirtschaftsförderung funktioniere zu stark nach dem Gießkannenprinzip. Im Jahresbericht über die Wettbewerbsfähigkeit hat sich das Wirtschaftsministerium vergangene Woche vom Observatoire de la compétitivité schreiben lassen, es sei an der Zeit darüber nachzudenken, ob die fünf prioritären Branchen zur Diversifizierung der Wirtschaft noch „pertinent“ sind (S. 213).

Derselbe Bericht schreibt auch, Luxemburg scheine auf dem Weg in die „Wissensökonomie“ nachzulassen. Lagen 2007 noch sieben der 15 Indikatoren im „grünen Bereich“, sind es jetzt nur noch drei: die Zahl der pro Million Einwohner angemeldeten Patente, die der Mobiltelefone pro tausend Einwohner und die der abgesicherten Web-Server pro hunderttausend Einwohner – in den beiden letztgenannten Rubriken ist Luxemburg EU-Spitze. Und der Bericht warnt, dass im Privatsektor die Investitionen in Forschung und Entwicklung seit dem Krisenausbruch 2008 abgenommen hätten. Öffentliche und private Forschung zusammengenommen hätten mit ihren Ausgaben 2013 nur bei 1,3 BIP-Prozent gelegen. Dabei hat Luxemburg sich in seiner nationalen Strategie zur Erfüllung des Horizon 2020-Programms der EU vorgenommen, die Forschungsausgaben bis zum Ende des Jahrzehnts auf 2,3 bis 2,6 BIP-Prozent zu steigern – auf 1,5 bis 1,9 Prozent im Privatsektor und 0,7 bis 0,8 Prozent im öffentlichen. Allein Letzterer aber lag 2013 mit 0,68 BIP-Prozent im Zielbereich.

Grund, die Alarmglocken zu läuten, besteht aber wahrscheinlich trotzdem nicht. Politisch rumort es in Sachen Forschung und Innovation seit dem Amtsantritt der DP-LSAP-Grünen-Regierung. Das DP-geführte Forschungsministerium insistiert auf „Forschung mit Impakt“ auch gegenüber der Universität und will diese sowie die drei öffentlichen Forschungsinstitute zum Abgleich ihrer Strategien bewegen, um Konkurrenz im Inland abzubauen. Der seit einer zum Jahresbeginn in Kraft getretenen Gesetzesänderung in seinem Verwaltungsrat von Unternehmervertretern geführte Forschungsfonds FNR hat sich ebenfalls „Research with impact“ auf die Fahnen geschrieben und Programme für öffentlich-private Partnerschaften aufgelegt. Man kann den Eindruck haben, Politiker und Unternehmer versuchten verzweifelt die Indienststellung der Forschung für Innovationen durchzusetzen – ohne aber genau zu wissen, wofür, wie die OECD ja festgestellt hat.

In Wirklichkeit aber ist das Rumoren einerseits Ausdruck dessen, dass die liberale Regierung auch forschungs- und innovationspolitisch besser sein will als ihre CSV-dominierte Vorgängerin, andererseits Ausdruck großer Entwicklungspoten-ziale. Die Ausgaben für die öffentliche Forschung haben sich seit 2008 nahezu verdoppelt. Die Zahl der Vollzeit-Stellen liegt in der öffentichen Forschung bei rund 1 800, im Privatsektor bei 1 600. Die Cité des sciences in Belval wird bezogen, das fusionierte List kann heute auf ein Projekt, wenn es sein muss, 80 Forscher ansetzen, bei Tudor und Lippmann waren es noch vor Jahren fünf bis sechs. Und so rückläufig, wie die verfügbaren Statistiken das suggerieren, können die Forschungsaktivitäten im Privatsektor nicht sein: Das Wirtschaftsministerium fördert im Jahr hundert bis zweihundert private Forschungsvorhaben. Daran hat sich vor allem im Bereich der „neuen Industrien“ nichts geändert, der Trend ist seit dem Krisenausbruch 2008 sogar positiv.

Und eines muss man der Regierung und ihrer Vorgängerin lassen: Die Entscheidung zu den öffentlichen Invstitionen in die nationale IT-In-frastruktur war – neben dem Biotech-Bekenntnis von 2008 – der strategische Beschluss der letzten Jahre. Prozentual gesehen, sind Luxemburgs IT-Investitionen höher als beispielsweise die in Deutschland. Damit wurde etwas geschaffen, das Innovationen ermöglicht. Fragt sich nur, was man damit macht. Von Fintech sprechen derzeit viele, aber noch ist es ein Buzzword. Biosystem-Forschung und ihre Anwendung über Big Data? Dieser Weg scheint vielversprechend, wenn man sieht, wohin das erst sechs Jahre alte Luxembourg Center for Systems-Biomedicine sich derzeit entwickelt. Eine übergreifende Idee lautet, dass Luxemburg eine Rolle spielen soll bei der zunehmenden „Digitalisierung“ aller möglichen Bereiche der Gesellschaft. In dieser Linie steht auch die bei dem Ökonomen Jeremy Rifkin bestellte Studie über die „dritte industrielle Revolution“, was vielleicht hochtrabender klingt, als es ist. Letzten Endes geht es darum, herauszufinden und gut zu begründen, was in Luxemburg besser gemacht könnte als anderswo.

Hinter den Kulissen läuft im Moment ziemlich viel, und so manches läuft zusammen. Der FNR hat einen Plan entwickelt für öffentlich-private Exzellenzzentren. Die Universität unter ihrem neuen Rektor überdenkt ihre Strategie, dabei steht unter anderem die Luxembourg School for Finance zur Diskussion und man denkt darüber nach, ob sich dort vielleicht ein Exzellenzzentrum einrichten ließe. Ein Exzellenzpol Logistik ist ebenfalls im Gespräch: Was an „hochwertiger“ Logistik bis hin zum so genannten supply chain management am Logistikstandort Luxemburg stattfindet, weiß niemand; die offiziellen Statistiken erfassen allein den Warentransport, von dem es vor zehn Jahren hieß, er sei nicht alles, was über den Logistik-Aktionsplan der Regierung ausgebaut werden soll.

Als regelrechter Erfolg von allen Seiten wird der Beschluss des FNR gewertet, einen Teil der Doktorandenstipendien gebündelt für Forschungsprojekte zu vergeben. Wiederum die Universität und mehr und mehr Unternehmen versuchen dafür Sorge zu tragen, dass die Betriebe möglichst die Master- und Doktor-Absolventen von uni.lu erhalten, die sie brauchen, organisieren Absprachen über Human ressources und Informationsaufenthalte für angehende Absolventen zum Kennenlernen Luxemburger Betriebe. Die Regierung hat verstanden, dass die Cité des sciences in Belval vor 15 Jahren nicht als großer Uni-Campus gedacht war, auf den viele Geisteswissenschaftler umziehen würden, sondern als Technologie-Drehscheibe, auf der sich in erster Linie Naturwissenschaftler und Ingenieure begegnen sollen und wohin innovationswillige Firmen nachziehen. Anfang kommenden Jahres will sie einen Gesetzentwurf nachreichen, der die Finanzierung von wenigstens zwei zusätzlichen Laborbauten in Belval festschreiben soll.

Und im Wirtschaftsministerium wird gehofft, dass sich eine ähnliche Initiative wie die in der Materialforschung vielleicht aus der heimischen Autozulieferindustrie ergeben könnte. Die „kritische Masse“ an Betrieben dürfte vorhanden sein; fehlt nur eine gemeinsame Agenda – wie 2011, als aus dem Automotive-Lab im Lippmann-Forschungszentrum nichts wurde.

Ob ein die Branche verbindender Forschungsschwerpunkt sich jetzt finde lässt, muss sich zeigen. Ein Ansatz der Regierung lautet, Luxemburg als Testumfeld für Elektrofahrzeuge und selbstfahrende Autos anzubieten. Eine Voraussetzung dafür sollen die 800 öffentlichen Ladesäulen schaffen, deren Installation übers Land verteilt demnächst beginnen soll. Gleichzeitig wird am Bereich Ingenieurwissenschaften der Uni und an ihrem Forschungszentrum für IT-Sicherheit an Elektroantrieben und autonomous driving geforscht (siehe auch den Artikel auf S. 30 dieser Beilage). Autohersteller, die Luxemburg in ein paar Jahren als Testfeld nutzen würden, könnten vielleicht zustimmen, im Gegenzug Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten hier anzusiedeln, lautet eine Überlegung der Regierung. Gespräche mit Herstellern laufen schon. Auf diesem Weg wüchse der Automotive-Sektor noch und erhielte ein verbindendes Thema vielleicht gleich mit.

Man könnte also sagen: Luxemburg ist dabei, die Aufbauarbeit an seiner Forschungslandschaft abzuschließen, einiges noch hinzuzufügen, aber dann kommt es darauf an, innerhalb des Aufgebauten sinnvolle Verbindungen herzustellen. Was im „Land der kurzen Wege“, wo auf informelle Weise, wenn es sein muss, sehr rasch über Fragen von großer Tragweite entschieden wird, möglich sein dürfte.

Klar werden müsste man sich jedoch auch darüber, wie schnell man realistischerweise aus einer besser aufeinander abgestimmten Forschungs- und Innovationslandschaft Resultate erwarten darf. Forschung, im Sinne ihres Wortes, bedeutet auch Neugier und Spiel, und sie enthält immer auch die Eventualität des Scheiterns. Sich dessen nicht bewusst zu sein und vor allem der universitären Forschung nicht die Freiheit und die Mittel zu gewähren, die sie braucht, wäre kein Ausdruck von Innovationskultur. Denn eine entscheidende Voraussetzung für Innovationen ist nun mal das Vorhandensein hochqualifizierter Menschen. Und von ihnen müssen nicht alle eine gute Idee zunächst darauf abklopfen, ob sie am etwas am Markt auszurichten vermag.

Peter Feist
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