ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Das Panikwort

d'Lëtzebuerger Land vom 19.11.2021

Lange war Inflation das Panikwort der Wirtschaftspolitik. In den Achtzigerjahren unterlag die Arbeiterbewegung. Das nannte man „Neoliberalismus“. In den Nachbarländern nutzten die Unternehmer die Inflation, um das Reallohnniveau zu senken. Hierzulande stand ihnen das automatische Indexsystem im Weg.

Der Index ist ein alter Sieg der Arbeiterbewegung. Er hat die Zeiten überdauert. 30 Jahre lang schürten die Unternehmerlobbys Inflationspanik, um seine Abschaffung zu erreichen. Politiker, Journalisten und andere Experten schürten mit. Sie hielten das für ökonomische Kompetenz. Die Unternehmer kamen nicht durch. Mehr als befristete Indexmanipulationen schlugen sie nicht heraus. Dann schien die Geldentwertung zu verschwinden. Man wechselte das Thema.

Dabei war die Inflation nie verschwunden. Sie hatte atemberaubend zugenommen: In fünf Jahren ist der deutsche Börsenindex Dax 40 um 50,4 Prozent gestiegen, der französische Cac 40 um 57,1 Prozent, der amerikanische Dow Jones 30 um 90,7 Prozent. Das entspricht 20 bis 36 Index-Tranchen. Die Zentralbanken bezuschussen mit Milliarden zinslosem Geld den Aktienkauf. Auch über Investitionsfonds mit Luxemburger Hinterstuben. Bis auf einsame Warnungen vor einer Blase störte die Inflation der Aktienpreise niemand.

Wo sollen die Besitzer vielen Geldes dieses auch anlegen? Als Alternative bleiben nur Immobilien. Nicht nur den bösen ausländischen Spekulanten. Auch brave Luxemburger Mittelschichtenfamilien investieren lieber in Ertragshäuser als in zinslose Sparbücher. Zwischen 2016 und 2020 stiegen die Preise von Neubauwohnungen um 51,2 Prozent. Das meldet das Observatoire de l’habitat. Das entspräche 20 Index-Tranchen. Die Inflation der Immobilienpreise stört im Grunde niemand. Denn sie wird mit einem Mangel an Sozialwohnungen erklärt.

Nun steigen die Verbraucherpreise. Das Statec hatte für das laufende Jahr eine Inflation von zwei oder 2,2 Prozent vorgesehen. Vergangene Woche erhöhte es seine Vorhersage auf 2,5 Prozent. Ein Jahr nach der Corona-Rezession, bei sechs Prozent Wirtschaftswachstum ist das lächerlich gering.

Der Entwurf des Staatshaushalts für 2022 ging von einer Inflation von 1,7 Prozent im nächsten Jahr aus. Das Statec schätzt nun 2,5 Prozent. Das wäre noch immer kaum der Rede wert. Der Budgetentwurf plant eine Erhöhung der Steuereinnahmen um 15,6 Prozent, der staatlichen Ausgaben um 8,5 Prozent.

Der Anstieg der Verbraucherpreise war vorhersehbar: Mit dem Abklingen der Corona-Rezession nahm die Nachfrage schneller zu als die Produktion. Der globalisierte Transport von Rohstoffen und Fertigprodukten klemmt. Wird wieder genug produziert und ist das während der Seuche Ersparte ausgegeben oder von den hohen Energiekosten aufgebraucht, könnten die Preise wieder sinken. Wenn es keine Monopolpreise sind.

Derzeit trägt der drastische Preisanstieg von Erdgas und anderen Energiequellen zur Inflation bei. Die einen schieben das illiberalen Politikern im Osten in die Schuhe. Die anderen sehen eine Anpassungskrise beim Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energieträgern. Manche wollten für diese Energiewende eine Generation Haushalte mit niedrigen Einkommen opfern. Das haben die Gilets jaunes über Frankreich hinaus vereitelt. Zum Preis von zwei Toten, fünf abgerissenen Händen und 27 zerplatzten Augäpfeln. Hierzulande macht der Index den Klassenkampf weniger blutig. Trotzdem legte Premier Xavier Bettel in seiner Erklärung zur Lage der Nation die Indexierung des Kindergelds, kostenlose Schulmahlzeiten und eine Erhöhung der Teuerungszulage drauf.

Früher drosselten die Zentralbanken die Inflation mit Zinserhöhungen. Heute bedroht das die Konjunktur und viele Unternehmen. Sie waren schon vor der Seuche schuldenfinanziert. In der Corona-Krise haben sich die Staaten verschuldet, ohne umzusehen. Nun brauchen sie Inflation statt Zinserhöhungen.

Romain Hilgert
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