Schmetterlingsschatten

Gestapo-Geisterbahn

d'Lëtzebuerger Land vom 29.11.2001

Ein jüdisches Mädchen schreibt zwischen dem 1. Mai 1940 und dem 13. Oktober 1941, vom deutschen Einmarsch bis zur Verschleppung und Ermordung der Luxemburger Juden, sieben Briefe und sieben Gedichte an eine Freundin. Sie erzählen von unbeschwerten Frühlingsfreuden und der ersten Liebe, dem Einbruch der Katastrophe in die angebliche Idylle, von der Unterdrückung und Verfolgung der Juden, der "Ordonanz zur Regulierung des jüdischen Lebens", bis zur Gefangennahme und zu befürchtenden Ermordung der Briefeschreiberin.

Der Mut des grünen Lehrers Michel Grevis ist beträchtlich. Im Januar hatte er in Dies Irae versucht, die letzten Stunden des zum Tod verurteilten Mathes vu Miedernach darzustellen und sich dabei literarisch an der existentiellen Extremsituation verhoben. Nun versucht er, noch verwegener, sich in ein anderes Opfer zu versetzen, das gleich für sechs Millionen steht. Mit Ana-Lena Blumfeldts Schmetterlingsschatten erfindet er den Berichten verfolgter Jüdinnen und Juden noch einen eigenen im antiquiert empfindsamen Stil hinzu, dichtet nach Celan noch einmal mit Blumen-, Sternen- und anderen Naturmetaphern um die Schoah herum.

Anne Franks Tagebuchbriefe an die fiktive Freundin Kitty sind ein Dokument. Kann sie sich literarisch noch einmal auszudenken, etwas Anderes als Betroffenheitsliteratur ergeben? Am Beispiel des mit einem zarten Schmetterling in Verbindung gebrachten jungen Mädchens die Schoah zu beschreiben, stellt in der Vorstellung des männlichen Autors die Wehrlosigkeit des absoluten Opfers dar und schafft so implizit auch den absoluten Täter. Eine Perspektive, die mehr Mitleid als historische oder politische Einsicht produziert.

Unterbrochen von kurzen, melancholischen Liedern zur Musik von Camille Kerger, liest Evelyn Matzura die Briefe ohne viel Pathos abends vor kleinem Publikum am Kamin der Villa Pauly. Denn Regisseurin Jacqueline Posing-Van Dyck und das stets um ausgefallene Spielorte bemühte Théâtre national bespielen, wie das im Theaterjargon heißt, den ehemaligen Sitz der Gestapo in Luxemburg.

Oder vielmehr wohnen die Zuschauer zuerst Matzuras Lesung bei und werden danach zum Sight seeing durch einige Stockwerke und den Garten der Villa Pauly getrieben. Dort spielen dann Statisten in einzelnen Büros Nazischergen in Uniform, hören Feindsender oder irren als Verfolgte durch das welke Laub im Treppenhaus, ehe die in Decken gehüllten Zuschauer unter einer Kellertreppe zusammengepfercht werden, um Ana-Lena Blumfeldts letzten Brief zu hören, während im Foyer die Nazis tanzen, bis das Licht ausgeht.

Den ehemaligen Sitz der Gestapo als Geisterbahn für Eventkultur einzurichten, kann nur effekthascherischen Kitsch ergeben, weil es eine politisch erschreckende Regression in der historisch mühsam angeeigneten Erkenntnis über Theater und Illusion darstellt. Die Vermischung und Geschmacklosigkeit gipfelt in einem Kind, das in einem der Büros Menschenhaar zusammenfegen muss, so als sei die Villa Pauly unser kleines nationales Auschwitz. Und die Opfer bekommen auch noch einen Teil ihres Leids genommen, weil sie es zwecks Mit-Leids mit Theaterpublikum teilen müssen, das fünf Minuten mit einer Decke unter einer Treppe auf den Fortgang des Spektakels wartet.

 

Weitere Aufführung am 1., 2., 6., 8., 9., 13., 14., 15. und 16. Dezember um 18.30 bzw. 20.00 Uhr in der Villa Pauly, 57, bd. de la Pétrusse, Vorbestellungen nachmittags über 26458870.

 

 

 

Romain Hilgert
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