Deutschland

Diskussionsorgien

d'Lëtzebuerger Land du 24.04.2020

Es ist soweit: Die deutsche Hauptstadt tappst zurück in Richtung Normalität – was vermuten lässt, dass in den vergangenen vier Wochen irgendetwas anders gewesen sei. Die allmorgendlichen Pendlerstaus waren kürzer, Fahrgäste der Berliner Verkehrsbetriebe hatten mitunter einen Bus ganz für sich alleine. Bei Geschäften galt das Anstehen als erste Pflicht des Bürgers, wobei es den meisten Menschen nicht klar war, warum ein Ramschladen geöffnet bleiben durfte, während wieder andere gänzlich schließen mussten. Ansonsten blieb alles in der alten Gewohnheit. Man traf sich in Parks im Sonnenschein oder beim Verkauf durch die offene Ladentür, trank im Restaurant sein Bier auf dem Gehsteig und erklärte viele Dinge des alltäglichen Lebens als systemrelevant.

Nun geht es in Richtung Normalität, seit vorgestern haben die Läden wieder geöffnet. Ab Montag gilt eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, wobei ein Schal oder Tuch um Mund und Nase geschlungen ausreichen. Der Einzelhandel darf mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 Quadratmetern öffnen, egal ob als Kaufhaus oder Lebensmittelladen. Die Größenbeschränkung fällt gänzlich für Auto-, Fahrrad- und Buchläden. Der Zutritt zu den Läden muss von den Besitzern streng reglementiert werden, wobei ein Richtwert von maximal einer Person auf 20 Quadratmetern gilt. In kleineren Shops darf sich höchstens jeweils nur ein Kunde aufhalten. Überall muss ein Abstand von 1,50 Metern eingehalten werden und in den Wartebereichen vor den Läden dürfen sich höchstens zehn Personen aufhalten. Diese dürfen nicht sitzen. Ab dem 4. Mai dürfen auch wieder Frisöre öffnen, wobei Kunde und Frisör einen Mund-Nasen-Schutz tragen müssen. Weiterhin geschlossen bleiben andere körpernahe Dienstleistungen wie Tattoo-Studios oder Fußpflege-Salons. Gaststätten und Restaurants bleiben auch weiterhin zu. Ab dem übernächsten Montag dürfen dann wieder Gottesdienste mit bis zu 50 Gläubigen zelebriert werden. Auch darf es wieder Versammlungen unter freiem Himmel geben: Demonstrationen mit bis zu 50 Personen sind ab dem Tag grundsätzlich genehmigungsfrei. Ein Bußgeld bei Verstößen gegen all diese Lockerungsauflagen hat der Berliner Senat jedoch nicht geplant. Die vergangenen Wochen hätten gezeigt, so Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, dass sich die Menschen in der Stadt auch ohne Strafandrohung an die Regeln halten würden.

Berlin folgt damit den Vorgaben, die die Bundesregierung am vergangenen Mittwoch gemacht hatte. Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte so die „Öffnungsdiskussionsorgien“ – wie Merkel die öffentliche Diskussion in einer internen Telefonkonferenz bezeichnete – in einzelnen Bundesländern unterbinden, und die Länder auf möglichst gemeinsame Maßnahmen verpflichten. Genutzt hat es jedoch wenig. Ob der getroffenen Wortwahl wurde Merkel sogar unterstellt, sie wurde die zwischen einzelnen Landesregierungen heftig geführte Debatte gar gänzlich verbieten. Sie habe nichts gegen diese Diskussion, präzisierte Merkel später, man dürfe sich jetzt nur nicht in Sicherheit wiegen. Doch wie immer es auch sei, die Befugnisse aus dem Infektionsschutzgesetz sind in Deutschland Ländersache – und nicht Aufgabe des Bundes.

Das Land Berlin hat es sich nicht leicht gemacht mit seinem Maßnahmenkatalog. Fünf Tage nach allen anderen Bundesländern hatte dann auch der Berliner Senat eine neue Corona-Verordnung auf den Weg gebracht. In diesen fünf Tagen zerlegte sich der Wunsch nach einem einheitlichen Vorgehen auf Bundesebene, wobei sich Politikerinnen in der Wechselwirkung von abflachender Neuinfektionskurve und steil ansteigender Leichtsinnigkeit gefangen sahen, ebenso in dem Dilemma, dass derzeit kein Virologe, keine Politologin und kein Astrologe vorhersagen kann, welche Folgen die getroffenen Maßnahmen haben werden und wann eine Rückkehr zur völligen Normalität wieder gegeben sein wird. Erst im Nachhinein sind alle schlauer. Aus den bisherigen Vorkehrungen lässt sich jedoch subsummieren: Nicht eine einzelne Einschränkung oder Lockerung ist entscheidend, sondern vielmehr das Signal, das insgesamt von der Politik ausgeht.

Wozu die Lockerungen in einzelnen Bundesländern zum Wochenbeginn führten, zeigte sich recht schnell: Die Straßen füllten sich rasch, das gewohnte Leben nahm an Fahrt auf, die Menschen standen überall dort an, wo ihnen der Anschluss an ihr altes Leben vor Corona verkauft wurde. Und: Die Anzahl der Neuinfektionen stieg wieder an. Die Profilierungssucht manch eines Landeschefs – ob nun in München oder Düsseldorf – um den richtigen Kurs in der Corona-Krise, war ein Vierfaches an die Bürgerinnen und Bürger. Erstens: Wir wissen auch nicht so genau, was richtig ist. Zweitens: Wir trauen uns trotzdem was zu. Drittens: Ohne die Mitwirkung der Bürger kann das alles jedoch nicht funktionieren. Viertens: Ich bin der beste Kanzlerkandidat für die nächste Bundestagswahl.

Doch es gibt auch Zeichen des Unmuts: Denn der bisherige Weg der politischen Willensbildung in einer Demokratie mit Rede, Gegenrede, Kompromiss, Entscheidung und – wenn nötig – Reform musste in Zeichen der Corona-Krise oftmals auf Eilentscheidungen und Verordnungen verkürzt. Nur dass nun Fehler bei Entscheidungen nicht bloß fatal, sondern auch letal sind. Und mehr noch: Eine nachfolgende Entscheidung kann die Fehler der vorherigen nicht abheilen. Die Bürgerinnen und Bürger, auf deren Wohlwollen und Mitmachen es bei den Lockerungsverordnungen ankommt, fühlen sich nicht genügend informiert und schauen verwundert darauf, dass das Tragen einer Maske in einem Bundesland Pflicht, in einem anderen lediglich empfohlen ist.

Martin Theobald
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