Leitartikel

Marodes System

d'Lëtzebuerger Land du 13.11.2015

Als die Staatsanwaltschaft vergangene Woche bestätigte, dass sie gegen einen Richter ermittele und ihn vom Dienst suspendiert habe, pfiffen die Spatzen es bereits von den Dächern. Der Richter war am 20. Oktober von seinem Arbeitsplatz ausgesperrt und Hausdurchsuchungen waren angeordnet worden. Aber nicht wegen Korruption, wie es im Wort stand, sondern weil dem Vormundschaftsrichter vorgeworfen wird, eine irreguläre Beziehung zu einer Person zu unterhalten, über die er zu urteilen hatte. Seit der Fall an die Öffentlichkeit kam, werden weitere Vorwürfe laut: So soll der Richter missbräuchlich einem ausgewählten Kreis von Anwälten die Führung von Geschäften von Personen anvertraut haben, die selbst dazu nicht mehr in der Lage waren. Wenn das stimmt, gehören weitere Personen auf die Anklagebank. Zunächst gilt jedoch die Unschuldsvermutung.

Unabhängig davon, zu welchem Ergebnis die Ermittler kommen werden: Dass unser Vormundschaftsrecht eklatante Lücken aufweist, warnen Experten seit Jahren. Auch der Richter hatte diesbezüglich wiederholt Kritik geäußert. Ein Richter, der für mehrere Tausend Vormundschaftsfälle in der Hauptstadt zuständig ist, das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Und doch lief es viele Jahre lang genau so.

Nicht nur, dass der Richter allein darüber entschied, ob eine kranke Person einen Vormund an die Seite brauchte – einer der schwersten Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte überhaupt. Er wählte zudem diejenigen Personen aus, denen er die Vormundschaft übertrug. Erfahrungsgemäß sind das oft Familienangehörige, aber weil das Vormundschaftsrecht den Schwerpunkt auf die Geschäftsfähigkeit legt, sind es vielfach Anwälte. Die psychosoziale Betreuung, das Wohl und das Recht des Mündels auf Förderung und Entwicklung kommen dabei zu kurz. Anwälte haben diese schieflage, die enorme Verantwortung und Machtfülle vergebens kritisiert. Trotzdem blieb die Entscheidungsgewalt bei einer Person. Denn dem Richter oblag außer der Vergabe auch die Kontrolle der Betreuung. So viele Fälle ernsthaft zu prüfen – wie soll das gehen? Zum Teil sind komplizierte Angelegenheiten dabei, wo Familien über Werte streiten, wo genauestens geprüft werden muss, ob eine Vormundschaft geboten ist, wie die Interessen und das Wohl der Person am besten geschützt werden können.

Dass das System generalüberholt gehört, ist ein offenes Geheimnis – und die Regierung hatte eigentlich eine rasche Reform versprochen. Doch bis heute sind nicht einmal Grundzüge davon bekannt. Dabei darf es nicht nur darum gehen, mehr Vormundschaftsrichter einzustellen. Auch muss geprüft werden, ob überhaupt nur ein Richter allein mit solch weit reichenden Entscheidungen befasst sein sollte, oder ob es nicht besser wäre, drei Richter daran zu beteiligen. Oder zumindest die Kontrolle der Vormundschaften von anderen vornehmen zu lassen, um den Verdacht des Favoritismus gar nicht erst aufkommen zu lassen. Eignungskriterien für die Betreuer definiert das Gesetz nicht. Bisher müssen Anwälte lediglich jährlich einen Betreuungsbericht schreiben, doch man muss kein Mathegenie sein, um zu wissen, dass Tausende Fälle zu kontrollieren, Akten zu studieren, alle Beteiligten zu hören, geradezu übermenschliche Kräfte erfordern würde.

Es ist unklar, ob der Richter auf seinen Posten zurückkehren kann: Seine Glaubwürdigkeit steht und fällt mit der Unparteilichkeit und die Vorwürfe, die momentan erhoben werden, tragen nicht dazu bei, das Vertrauen zu stärken. Aber lediglich einen anderen Richter an die Spitze des Vormundschaftsgerichts zu berufen, wird die gravierenden Strukturdefizite nicht beheben. Die Affäre ist ein Weckruf für Staat und Justiz, ihrer Pflicht, Schutzbedürftige zu schützen, besser nachzukommen: mit einer Modernisierung des Vormundschaftsrechts, die den Namen wirklich verdient.

Ines Kurschat
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