d’Land: Herr Mossong, worin unterscheidet sich der Blick eines Epidemiologen auf eine Pandemie wie Covid-19 von dem eines Virologen?
Joël Mossong: Virologen arbeiten entweder im Labor, um Viren zu studieren, oder sie nehmen Diagnosen und Behandlungen am Patienten vor. Oft sind sie Experten für nur einen Virus. Epidemiologen schauen mehr von oben auf die Situation: Wie wirkt eine Epidemie sich auf die gesamte Bevölkerung aus? Wer infiziert sich, welche Übertragungswege gibt es, welche Effekte haben Schutzmaßnahmen und Impfungen? Mich fasziniert an meinem Fach, dass es dabei um ansteckende Krankheiten geht, um deren Wirkung auf andere und die ganze Gesellschaft.
Stehen Virologen zu Covid-19 mehr in der Öffentlichkeit als Epidemiologen?
In Deutschland mag das so aussehen. Dagegen haben zum Beispiel in Großbritannien Epidemiologen sehr viel zu sagen. Manche stellen mathematische Epidemie-Modelle auf. In diesen Bereich kam ich: Ich habe in Großbritannien studiert und über die Modellierung der Wirkung von Masern-Impfungen promoviert. Das Prinzip kann man auch auf Covid-19 anwenden, wenngleich bei Masern die Immunität sehr lange anhält, bei Covid nicht.
Sie hatten am Laboratoire national de santé gearbeitet, wurden im Frühjahr 2020 ans Gesundheitsamt abgestellt und sind dort seit Anfang dieses Jahres fest tätig. Hat das Gesundheitsamt nicht genug Epidemiologen?
Offenbar nicht (lacht). Im Ernst: Epidemiologische Expertise ist nicht nur in Luxemburg, sondern in ganz Europa knapp. Man dachte lange, Infektionskrankheiten seien dank Impfungen oder Antibiotika kein Problem mehr.
Welche Aufgabe haben Sie im Gesundheitsamt?
Ich leite ein kleines Team aus Epidemiologen und wissenschaftlichen Mitarbeitern, das sich ausschließlich mit Covid-19 beschäftigt. Wir schauen uns die verschiedenen Daten an und analysieren Trends, darunter die Wirksamkeit der Impfstoffe. Jede Woche fertigen wir einen Bericht für die Gesundheitsministerin und die Krisenzelle an. Ich bin Mitglied des Covid-Begleitkomitees für die Schulen, das sich mehrmals wöchentlich trifft, und ich berate die nach dem Waringo-Bericht eingesetzte Kommission für die Alten- und Pflegeeinrichtungen. Ich versuche, einen möglichst objektiven Überblick über die Situation zu haben und ihn den Entscheidungsträgern zu vermitteln.
Ist es in Luxemburg leichter, gegen eine Seuche vorzugehen? Das Land ist klein, verglichen mit großen Ländern kann die Politik sozusagen lokal ansetzen.
Ja, wie schwierig es in großen Ländern sein kann, sieht man in Deutschland, wo es politische Diskussionen auf Bundes- und auf Länderebene gibt. Die haben wir zum Glück nicht. Gut ist auch, dass bei uns die Maßnahmen vom Parlament getragen werden und jeden Monat ein aktualisiertes Gesetz verabschiedet wird. Andererseits aber hat das Infektionsgeschehen wieder angezogen und man sollte vielleicht über verschiedene Maßnahmen nachdenken. Aber das ist nicht so einfach, da das aktuelle Covid-Gesetz bis zum 18. Dezember gilt und man solange warten will, um nicht vorzeitig an dieses Gesetz zu rühren.
Sie würden früher Zusatzmaßnahmen ergreifen? Welche?
Ich meine, es wäre nützlich, verschiedene Maßnahmen flexibler handhaben zu können. Zum Beispiel steht seit September im Covid-Gesetz, unter welchen Umständen in den Schulen Masken getragen werden. Darauf hatte der Staatsrat bestanden. Im Juni war das noch nicht gesetzlich geregelt, also bestand mehr Flexibilität. Im Moment haben wir vor allem eine Epidemie unter den Kindern im Grundschulalter, die Zahlen gehen seit Wochen konstant nach oben.
Wie gefährlich ist das? Kinder werden ja nur selten regelrecht Covid-krank, oder?
Kinder sind trotz der vielen Infektionen noch immer wenig symptomatisch und überwinden Covid gut. Ganz selten muss ein Kind ins Spital: Seit September gab es nur einen Fall, da musste ein Kind ins CHL eingewiesen werden, weil es neben Sars-CoV-2 noch ein anderes respiratorisches Virus erwischt hatte. So dass man sagen könnte, der Impakt der Kinder auf das Gesundheitssystem ist nicht groß. Aber: Infizierte Kinder stecken ihre Eltern an. Das ist die andere Altersgruppe, in der die Inzidenz wächst, das sieht man an den Zahlen klar. Und: Die Pädiatrien in den Spitälern sind zurzeit wegen anderen Atemwegserkrankungen am Limit. Kleine Kinder, die noch nicht im Schulalter sind, werden deshalb hospitalisiert, manchmal sogar auf der Intensivstation. Das geht schon seit Wochen so. Deshalb sage ich, Masken wären auch gegen solche Viren gut, und es wäre wichtig, diese Frage aktuell breiter zu sehen, auch über Covid-19 hinaus.
Wie ist die Lage in den Alten- und Pflegeheimen?
Ruhig! In den Heimen werden Covid-Infektionen oft gar nicht bemerkt oder erst, wenn getestet wird. Es gibt also viele asymptomatische Fälle, wenig Krankenhauseinweisungen, und wenn doch, verläuft die Krankheit selten lebensbedrohlich.
Obwohl es immer wieder heißt, bei Älteren wirke der Impfstoff nicht so gut, ihr Immunsystem sei geschwächt?
Es scheint gut zu klappen. Deshalb ist es so wichtig, die dritte Impfdosis zu verabreichen. Es gab bekanntlich einen Ausbruch in einem Altenheim in Sanem. Er ereignete sich nur ein paar Tage, nachdem die Auffrischungsimpfung möglich und auch verabreicht wurde. Der Booster wirkt relativ schnell, deshalb war der Ausbruch nach zwei Wochen vorüber. Ohne die dritte Dosis wäre er wahrscheinlich größer gewesen und es hätte mehrere Todesfälle gegeben. So aber starb nur eine Person, und die hatte nur kurz vorher ihre erste Impfdosis bekommen.
Bevölkerungsweit sind 15 Prozent der über 60-Jährigen noch nicht geimpft. Macht Ihnen das Sorgen?
Auf jeden Fall. Heimbewohner sind supergut geschützt im Vergleich zu der Altersgruppe im Rest der Bevölkerung. Fast alle haben ihre Booster-Impfung erhalten. Neu hinzukommende Bewohner sind meist bereit, sich impfen zu lassen. Die Impfrate beim Personal ist ebenfalls relativ hoch. Wir haben zwar keine genauen Angaben darüber und es gibt Mitarbeiter, die sich nicht impfen lassen wollen, doch nach allem, was ich höre, unterschätzt der offiziell bekannte Impfgrad den tatsächlichen.
Wie lassen die noch nicht geimpften Älteren sich erreichen?
Es werden viele Anstrengungen unternommen. Die mobilen Pflegedienste arbeiten mit, aber natürlich sind nicht alle Älteren pflegebedürftig. Die Apotheken einzuschalten, wäre gut, und generell überall dort Impfangebote zu machen, wo ältere Menschen sich aufhalten, vielleicht auch in Supermärkten.
Ist die Frage vor allem die des leichten Zugangs oder ist in erster Linie Überzeugungsarbeit nötig?
Der Zugang muss so leicht wie möglich sein, auch das kann Hemmschwellen abbauen. Generell, würde ich sagen, sind Ängste das größte Problem. Durch Desinformationen werden sie zusätzlich verstärkt. Aber noch haben wir keine Daten darüber, weshalb viele Ältere sich nicht impfen lassen – ob dabei tatsächlich vor allem Ängste eine Rolle spielen oder ob diese Leute das Thema Covid-19 satthaben und nichts mehr davon hören wollen. Ob sie sich nicht sagen lassen wollen, was sie tun sollen, oder ob sie einfach abwarten.
Wenn man zurückschaut auf die letzten Monate, wurde in erster Linie darüber informiert, welche Impfstoffe es gibt, wo und wie sie verabreicht werden. Impfbereitschaft wurde dabei unterstellt. Eine gezielte Kampagne für die Impfung wurde noch nicht geführt.
Die „richtige“ Kampagne zu führen, ist nicht einfach. Unter anderem, weil es kulturelle Unterschiede gibt, das haben wir bei den Impfbemühungen in den Lyzeen gesehen: Bestimmte Gemeinschaften erreicht man schwer. Wichtig wäre, zu sagen, dass die Impfstoffe, über die wir verfügen, gut sind. Sie sind nicht perfekt, aber sie sind das Beste, was wir haben. Wir müssen die noch bestehenden Impflücken möglichst schließen und gerade jetzt die dritte Dosis geben. Dass die Booster-Impfung gerade jetzt ganz wichtig wird, müsste man besonders deutlich machen. Denn wir sehen ziemlich oft, dass Geimpfte sich anstecken und das Virus an Vulnerable weitergeben. Das ist ein Problem.
Haben wir eine Pandemie der Ungeimpften oder eine Pandemie?
Im Moment haben wir ganz klar eine Pandemie der Ungeimpften und der Geimpften. Absolut gesehen, werden bei den über 18-Jährigen mehr Infektionen Geimpfter registriert. Das liegt einfach schon daran, dass in dieser Altersgruppe eine große Mehrheit geimpft ist. Betrachtet man Geimpfte und Ungeimpfte getrennt, ist unter Letzteren die Infektionshäufigkeit zurzeit zwei Mal höher.
Es stecken sich also, insgesamt gesehen, vor allem Geimpfte an?
Ja, leider. Meist liegt die zweite Impfung dann schon lange zurück. Wir sehen zwei Dinge: Der Schutz vor schweren Krankheitsverläufen und Hospitalisierungen ist lange gegeben. Der Schutz vor der Infektion hingegen nimmt nach ein paar Monaten ab. Nach vier bis fünf Monaten ist er nicht mehr top. Deshalb ist gerade jetzt die Auffrischungsimpfung mit der dritten Dosis so wichtig: Nicht in erster Linie, um Hospitalisierungen der Geimpften zu vermeiden, wenngleich auch das funktioniert, sondern um die Übertragung des Virus insgesamt ganz stark zu bremsen.
Und das klappt auch?
Israel hat das klar gezeigt. Dort war früh ein hoher Impfgrad erreicht. Die Schutzwirkung vor der Infektion sank in der Bevölkerung ebenfalls früh. Die Delta-Variante des Coronavirus sorgte dafür, dass die Infektionen wieder zunahmen, aber durch die Booster-Impfung bekam Israel die Ausbreitung wieder in den Griff. Die israelischen Studien wurden zwar kritisiert, weil das Land einen besonderen Vertrag mit Pfizer/Biontech hat und die wissenschaftliche Neutralität in Frage stand. Aber schaut man darüber hinweg, finde ich die israelischen Resultate überzeugend, und sie wurden auch in Großbritannien bestätigt. Die EU dagegen hat nicht schnell genug reagiert. Nun wird die dritte Dosis sechs Monate nach der zweiten gegeben. Doch dafür gibt es keine gute wissenschaftliche Basis, das wurde administrativ so festgelegt. In Israel wird der Booster nach fünf Monaten geimpft. Man könnte auch in der EU darüber nachdenken, die Frist zu verkürzen, denn unter den infizierten Geimpften, die wir erfassen, sind ganz viele, bei denen die zweite Injektion um die fünf Monate zurückliegt. Ihnen allen den Booster innerhalb von nur einer Woche zu verabreichen, wird nicht klappen. Hinzu kommt: Wer mit dem Vakzin von Astrazeneca geimpft wurde, erhielt die zweite Dosis zwei Monate nach der ersten, bei Pfizer und Moderna beträgt der Abstand nur einen Monat. So dass, wer Astrazeneca erhielt, nun doppelt benachteiligt ist: Zum einen ist dieser Wirkstoff gegen die Infektion weniger effektiv – das wurde in Großbritannien bewiesen. Zum anderen müssen damit Geimpfte einen Monat länger auf die dritte Dosis warten. Das ist nicht ganz glücklich.
Wie schnell führt die dritte Impfung zum Schutz vor Infektion und Virusübertragung?
Etwa eine Woche nach der dritten Dosis ist dieser Schutz wieder so gut wie nach der zweiten Impfung und wahrscheinlich sogar besser.
Könnte Luxemburg die Frist bis zur Auffrischung unilateral verkürzen oder muss das für die EU entschieden werden?
Die Frist wurde von der EU-Medikamentenagentur (Ema) festgelegt. Ärzte können eine Impfung auch früher vornehmen. Doch das ist dann ein „off-label use“, für den der impfende Arzt die Verantwortung übernehmen muss.
Was weiß man über diejenigen, die Covid-19 hatten? Der Status „Genesen“ wird derzeit für sechs Monate zuerkannt und mit einer Komplettimpfung gleichgestellt. Ist das auch eine administrative Festlegung, die man überdenken könnte?
Die Daten weisen klar darauf hin, dass die Immunität nach einer Infektion weniger gut ist als nach einer Impfung. Das Beste ist, wenn man beides hat. Also sind auch Genesene gut beraten, sich frühestens einen Monat nach der Krankheit impfen zu lassen, um möglichst gut geschützt zu sein.
Was war vor einem Jahr, als in Luxemburg pro Tag 700 bis 800 neue Fälle gezählt wurden? Lautete der Ansatz damals, die Bevölkerung auf natürlichem Weg zu durchseuchen?
Damals war auch ich betroffen und drei Wochen lang nicht im Einsatz. Ich erfuhr am eigenen Leib, dass es besser ist, Covid-19 nicht zu bekommen. Zu Ihrer Frage: Wir wurden damals überrannt. Das Contact Tracing, aber auch die Labore wurden von der Welle überwältigt.
Aber wenn man zurückschaut, hatten die Fallzahlen damals schon Mitte Oktober zugenommen, reagiert wurde erst Ende November.
Die entscheidende Phase war nur zwei Wochen lang. Da wuchs die Inzidenz von einem Stand, der für die Kontakt-Nachverfolgung noch zu meistern war, auf ein dreimal so hohes Niveau. Das war eine ziemlich dramatische Situation im Gesundheitsamt. So weit werden wir dieses Jahr hoffentlich nicht kommen. Wir sind besser vorbereitet, wir haben zum Beispiel vergangene Woche 40 zusätzliche Mitarbeiter für das Contact Tracing bekommen. Aber der Druck wächst.
Glauben Sie, dass wir ohne zusätzliche Einschränkungen durch die kalte Jahreszeit kommen werden?
Wird jetzt nicht schnell genug geboostert und hat das keine große Wirkung auf die Übertragung des Virus, wird man noch andere Maßnahmen ergreifen müssen. Im Moment dauert es vier Wochen, bis die Inzidenz sich verdoppelt. Aber bei den Kindern zum Beispiel geht es schneller. Die Frage, wann man da eingreifen muss, stellt sich. Die größte Wirkung auf die Übertragung hätte die Impfung der Kinder von fünf bis elf. Damit ließen sich ganz viele Transmissionen verhindern. Je eher es diese Impfung gibt, desto besser für die ganze Gesellschaft.
Was hat der Covid-Check in den Betrieben bisher gebracht?
Dazu kann ich nicht viel sagen. Er ist ein wichtiges Signal, sich impfen zu lassen. Um das Instrument Covid-Check mache ich mir allerdings Sorgen: Es gab recht große Cluster bei Feiern, trotz Covid-Check.
Da wurde der Covid-Check angewandt?
Und trotzdem steckten Covid-Positive andere an, sogar im großen Maßstab. Das sind Situationen, in denen man lange in geschlossenen Räumen zusammen ist, miteinander feiert, isst, trinkt und tanzt. Man spricht laut und produziert Aerosole. Diese Mechanismen haben sich leider nicht geändert, so dass der Covid-Check womöglich eine falsche Sicherheit suggeriert. Ich denke mit Unruhe an die Weihnachtsfeiern, die demnächst in den Betrieben stattfinden. Ich fürchte, sie werden zu größeren Clustern führen.
Also besser keine Party, wie letztes Jahr?
Man könnte zusätzlich zum Covid-Check vorher jeden einen Antigentest machen lassen. Oder Masken tragen, wenn viele zusammen sind, und Distanz halten. Die bekannten Maßnahmen sind noch immer wichtig. Es hat sich die Auffassung breit gemacht, „Covid-Check ist gleich Covid-frei“.
Das war im Juni offiziell so verkündet worden.
Leider stimmt es heute nicht mehr so ganz. Man vermindert das Risiko, aber es wird nicht null. Zumal derzeit viele die Booster-Impfung nicht haben. Doch das sind verhältnismäßig neue Erkenntnisse. Das wurde erst in den letzten zwei Monaten klar. Die Daten der Impftstoffhersteller hatten auf eine längere Wirksamkeit hingedeutet, aber sie bezogen sich nicht auf die Delta-Variante. Zuerst sah man in Israel, dann immer häufiger auch in den USA, dass Geimpfte das Virus übertragen können, wenn sie sich anstecken.
Demnach wäre auch eine „2G-Regel“ keine Lösung, denn um sicher zu gehen, müsste man immer noch testen?
Man könnte vielleicht diskutieren, einen 2G-Status an die Booster-Impfung zu knüpfen. Und zu sagen: „Geimpft heißt, drei Impfungen.“ Der Booster macht wirklich viel aus. Ich habe Zahlen aus England gesehen, laut denen der Schutz vor Infektion und Transmission von 20 Prozent auf 90 Prozent zunimmt, das ist wirklich beeindruckend. Man muss einfach eine gewisse Bescheidenheit gegenüber diesem Virus und der ganzen Situation entwickeln. Unsere Kenntnisse ändern sich ständig. Konnten wir bestimmte Dinge vor zwei Wochen oder drei Monaten noch nicht wissen? Nein, verschiedene Zusammenhänge werden erst jetzt klar. Als wir dachten, zwei Impfdosen seien ausreichend, war das beim damaligen Wissensstand richtig. Nun sehen wir, dass man drei Dosen braucht. Vielleicht wird das zum Standard. Aktuell wären sie ganz wichtig, um über Winter zu kommen. Sie könnten dazu beitragen, größere Kontakteinschränkungen zu vermeiden.
Was halten Sie von einer Impfpflicht?
Das ist ein ganz heikles Thema, auch vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheit aus. Nur selten hört man Plädoyers für eine Impfpflicht, und was in Österreich gerade geschieht, ist ein gewagtes Experiment. Denn einerseits hieße Impfpflicht, die Impfungen auch erzwingen zu müssen. Wie will man das erreichen?
In Österreich sollen ab Februar Geldstrafen drohen.
Das ist eine politische Entscheidung. Ich meine nicht, dass man einen Menschen zwingen kann, sich eine Spritze verabreichen zu lassen. Damit wäre man in einem autoritären System. Und da kommt der zweite Punkt: Eine Impfpflicht könnte der allgemeinen Impfpolitik schaden, denn bisher sind Impfungen freiwillig. Was man tun kann, ist, die Schraube gegebenenfalls anzuziehen. Und es zu begründen, indem man beispielsweise sagt: Neben bürgerlichen Freiheiten gibt es auch bürgerliche Pflichten. Angesichts von Covid-19 kann es eine bürgerliche Pflicht sein, das Krankenhaussystem zu erhalten. Wir möchten ja alle ein leistungsfähiges System. Bei Unfällen oder Herzinfarkten sollen die Spitäler reagieren können und nicht durch Covid-19 blockiert sein.
Wie kommen wir aus Covid-19 wieder raus? Wird es eines Tages eine Herdenimmunität geben? Oder wird jedes Jahr nachgeimpft werden müssen?
Unmittelbar wichtig sind die nächsten zwei bis drei Monate. Wie ich schon sagte: Impflücken schließen, die Booster geben und schauen, ob die Möglichkeit besteht, auch die Kinder zu impfen. Wenn wir das in den nächsten Wochen über die Bühne bekommen, bin ich optimistisch, dass die Winterwelle bei weitem nicht so schlimm wird wie die vor einem Jahr. Was danach kommen wird: Sars-CoV-2 scheint ein saisonales Phänomen zu sein. Im Mai wird es ruhig, im September/Oktober müssen wir schauen, wo wir dran sind. Bis dahin werden wir wissen, wie lange die dritte Dosis wirkt. Vielleicht wird ein weiterer Booster nötig.
Bis dahin werden viele sich auf natürlichem Weg infizieren. Wird das Virus sich vielleicht doch eines Tages totlaufen?
Ich denke, wir werden damit leben müssen, auch weiterhin Übertragungen zu unterbinden. England versucht derzeit, auf natürliche Infektionen zu setzen. Viele Einschränkungen wurden aufgehoben, viele Menschen sind geimpft und stecken sich nun an. Noch halten die Hospitalisierungen sich in Grenzen, aber das englische Gesundheitssystem ist belastet, und lässt man dem Virus weiter freien Lauf, könnte es doch eine Überlastung geben. Das heißt: Eine gewisse Herdenimmunität wird sich einstellen. Aber wahrscheinlich eine dynamische, eine, die nicht lange anhält. Dann infiziert man sich, dadurch nimmt die Immunität wieder zu, doch mit der Zeit lässt sie nach und man wird erneut empfänglich für das Virus. Das ist anders als zum Beispiel bei den Masern. Wer die mal hatte, infiziert sich nicht mehr; für die Masernimpfung gilt das auch. Gegenüber Sars-CoV-2 dagegen werden wir über die nächsten Jahre einem Zyklus von Impfungen und Infektionen ausgesetzt sein.