Im Redinger Kanton wird eine Lokalwährung eingeführt. Ihr Großvater ist ein vom Geldfetisch geblendeter Kaufmann aus Sankt Vith

Komischer Gesell

d'Lëtzebuerger Land vom 24.08.2012

Um ein Haar – oder besser: um wenige Kilometer – wäre Silvio Gesell Luxemburger gewesen. Er wurde 1862 im belgischen Grenzstädtchen Sankt Vith geboren. Sein Geburtshaus war in der Rathausstraße Nummer 81.

Die Straße heißt heute Hauptstraße. Sie ist eine kleine, verkehrsberuhigte Einkaufsstraße mit sauber gepflasterten Parkplätzen, niedrigen Bäumen und zweistöckigen Nachkriegshäusern, in deren Erdgeschoss sich Bäckereien, Apotheken, Frisiersalons und Bekleidungsgeschäfte befinden. Von Gesells Geburtshaus ist nichts mehr zu sehen. In der Ardennenschlacht 1944 waren fast sämtliche Gebäude der Ortschaft zerstört worden.

Nur eine Silvio-Gesell-Straße erinnert heute noch in Sankt Vith an jenen, den das deutschsprachige Grenzecho im Frühjahr, zu seinem 150. Geburtstag, „den berühmten Sohn der Stadt“ nannte. Aber mit mehr als einem Artikel im Lokalblatt gedachte ihm die 10 000-Seelen-Gemeinde nicht.

Dafür soll nun diesseits der Grenze um so nachdrücklicher Gesells Erbe gewürdigt werden. Anfang nächsten Jahres soll auf Betreiben des grünen Abgeordneten und Beckericher Bürgermeisters Camille Gira eine Parallelwährung im Kanton Redingen eingeführt werden. Nach einiger Vorarbeit wurde vor einem Monat der Währungsverein De Kär a.s.b.l. gegründet, der das Lokalgeld in Umlauf bringen soll. Es soll den Namen „Beki“ tragen. Das klingt putzig und soll der grünen Kommunalpolitik in Beckerich ein Denkmal setzen.

Die Sympathie, die dem Redinger Lokalgeldprojekt entgegengebracht wird, ist so gut wie ungeteilt. Die Europäische Union schießt aus dem Leader-Programm für die Entwicklung des ländlichen Raums echte Euros für das „Regionalgeld als Entwicklungsfaktor“ zu, Banken und Supermärkte versprechen ihre Unterstützung. Das Luxemburger Wort riet am 24. Juli, „von den ethischen Grundgedanken des ‚Beki’ könnten sich so manche Finanz- und Wirtschaftsakteure eine Scheibe abschneiden“, und die Woxx stimmte am 17. August ein, der Beki sei „eine logische Begleiterscheinung des Euro“.

Im Namen der Regierung hatte Finanzminister Luc Frieden (CSV) schon im Mai grünes Licht gegeben, indem er auf eine parlamentarische Anfrage hin klar-
gestellt hatte, dass kein Gesetz die Ausgabe von lokalem Privatgeld verbiete. Als die um ihre Geldhoheit besorgte Zentralbank vor zwei Wochen vor Verwechslungen zwischen Lokalgeld und gesetzlich geregelten und garantierten Zahlungsmitteln warnte, wurde sie gleich als unbelehrbare Spielverderberin dargestellt.

In Zeiten der Globalisierung stehe eben jeder Fleck der Erde, „wenn es darum geht, Geld anzuziehen oder zu behalten, in Konkurrenz zu einer Vielzahl anderer Investitionsmöglichkeiten. Der Kanton Redingen steht in direkter Konkurrenz zu Regionen mit starkem Wirtschaftswachstum und muss mit Finanzprodukten konkurrieren, die 10, 20, 30 und mehr Prozent Rendite kreieren“, klagt die Internetseite des Beki. Deshalb soll nun die Lokalwährung „die Kaufkraft an die Region binden; die Arbeitsplätze in der Region erhalten; regionale Wirtschaftskreisläufe stimulieren und somit Produktion und Absatz regionaler Produkte und Dienstleistungen fördern; Transportwege kürzen und damit die Umwelt schonen”. So sollen die Redinger Lokalpatrioten nicht nur davon abgehalten werden, zum Einkaufen nach Shanghai oder wenigstens nach Trier zu fahren, sondern auch nach Mersch und Ettelbrück – bis diese ihrerseits einen „Merschi“ oder „Etti“ einführen.

Wenn der grüne Politiker Camille Gira als Vater des Beki gilt, dann ist Silvio Gesell der Großvater. Denn Gesell, der eine kaufmännische Lehre in Berlin gemacht und dann in Malaga, Braunschweig und Hamburg als Kaufmann gearbeitet hatte, war mit 25 Jahren nach Argentinien ausgewandert war, um medizinisches Material für Zahnärzte zu importieren. Unter dem Eindruck der Finanzkrise, die durch den Krach der Londoner Barings-Bank Argentinien besonders hart traf, machte er sich so seine Gedanken. Aus der Sicht des Kaufmanns, der auf seinen Waren sitzt und mit seiner Bank streitet, kam er zu der Überzeugung, dass die Welt krank sei, weil ihr Geld krank sei. Das sieht Camille Gira ähnlich, der die Einführung einer Lokalwährung gegenüber dem Luxemburger Wort (14.6.11) „durch die ‚kranke’ Entwicklung unseres gesamten Finanzsystems“ rechtfertigte.

Silvio Gesell begann, Broschüren, Bücher und Zeitschriften zu veröffentlichen, um das Geld zu heilen. Er glaubte, dass Geld einst in einer Art Naturzustand existierte und nichts als ein neutrales Werkzeug des Handels war, so dass Geld und alle anderen Waren in einer paradiesischen Eintracht lebten. Doch heute habe das flüssige und haltbare Geld die Herrschaft über die schwerfälligen und verderblichen Waren gewonnen. Denn die Geldbesitzer können ihr Geld zurückhalten und so die Warenzirkulation unterbrechen, bis sie genügend Zinsen erhalten. Was Absatzschwierigkeiten und Arbeitslosigkeit verursache.

Dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, aber eine Schuld durch Zinsenzinsen geometrisch wächst, hielt Gesell für widernatürlich, heute sagt man: „nicht nachhaltig“. Deshalb zeigte der Beckericher Projektkoordinator Max Hilbert bei einer Aufklärungsversammlung in der lokalen Mühle vor einem Jahr ein Lichtbild mit der bedrohlichen Steilkurve der Zinsentwicklung. „Was ursprünglich als Tauschmittel gedacht war, verkommt zum Spekulations- und Erpressungsmittel (siehe Forderungskatalog, der mit Krediten verbunden ist)“, heißt es auf der Internetseite der Lokalwährung. „Hinzu kommt, dass dieser Trend sich aufgrund des exponentiellen Wachstums der Geldvermögen durch Zins und Zinseszins selbst verstärkt und beschleunigt.“

Für Silvio Gesell war Geld folglich gut, wenn es nichts als ein Mittel ist, um Waren einzukaufen; es ist schlecht, wenn es selbst zur Ware wird und als Kapital Zinsen abwerfen soll. Dieses Prinzip liegt auch dem Beki zugrunde, wie Camille Gira dem Luxemburger Wort erklärte: „Die Regionalwährung soll dem Geld aber auch seinen primären Zweck wiedergeben, nämlich den des Tausch- und Zahlungsmittels und nicht den der Hortung und der Spekulation.“

Gesells Ziel war es folglich, das Geld, ebenso wie den Boden, in seinen angeblichen Naturzustand zurückzuversetzen und so Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld zu schaffen, wie sein 1916 erstmals erschienenes Hauptwerk heißt. Dazu sollen Geldbesitzer bestraft werden, wenn sie ihr Geld aus der Zirkulation nehmen und horten. Denn er hielt es für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wenn ihm die Lagerhaltung seiner Waren Kosten bereitete und die Waren auch noch verdarben, während die Geldhaltung noch mit Zinsen belohnt wurde.

Um dies zu ändern, erklärte der Kaufmann Gesell dem Geldkapital den Krieg und erfand das „Schwundgeld“: Wenn Geld jeden Monat administrativ um 0,1 Prozent entwertet wird und so künstlich „rostet“, wie die Zahnbohrer in seinem Lager und andere Waren, wird jede liquide Reserve mit einem Strafzins von 5,2 Prozent jährlich belegt. Wer Geld hat, muss also interessiert sein, es so schnell wie möglich los zu werden und gegen Waren einzutauschen, um keinen Verlust zu erleiden.

Dieses Prinzip übernimmt das Redinger Lokalgeld, wie Camille Gira dem Luxemburger Wort vor einem Jahr erklärte: „Hierfür wird das Regiogeld mit einem Umlauf-Impuls versehen, d.h., dass es alle drei Monate zwei Prozent bzw. beim Rücktausch in Euro fünf Prozent seines Wertes verliert.“ Zwar geht im Augenblick nur noch die Rede von fünf Prozent Strafe beim Umtausch der Lokalwährung in Euro, doch da sie keine Möglichkeit haben, ihre Beki zinsbringend auf ein Sparkonto zu setzen, haben die Besitzer der lokalen Geldnoten Interesse daran, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Von diesem Negativzins erhoffen sich die Erfinder eine beschleunigte Zirkulation der Geldmenge und damit eine Beschleunigung des Konsums zwischen Bigonville und Saeul.

Auf diese Weise hatte Gesell in Anlehnung an die französischen Physiokraten des 18. Jahrhunderts und den Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) eine Kapitalismuskritik von rechts erfunden. Geblendet vom Geldfetisch, wollte er das Geld heilen, ohne sich um die Gesundheit der Produktions- und Besitzverhältnisse zu scheren. Dies erklärt die breite Sympathie, welche der auf ihn zurückgehende Redinger Beki genießt. Denn in Zeiten von Finanzkrisen sind Geldheiler keine Ärzte, sondern ein Symptom der Krise. Dabei weiß die CSV wohl nicht einmal, dass Gesell lange vor ihr auch die „Mütterrente“ erfunden und vorgeschlagen hatte, die Mammerent zwecks demographischer Regulierung aus der Bodenpacht zu finanzieren.

In derselben rechten Ecke wie Gesell tüftelte fast zur selben Zeit auch der esoterische Erfinder der Waldorf-Schulen, Rudolf Steiner (1861-1925), an einer „natürlichen Wirtschaftsordnung“, in der das Geld ebenfalls „rosten“ sollte. Weil Gesells natürliche Wirtschaftsordnung ungehemmt sozialdarwinistisch war, ist sein Freigeld voll kompatibel mit jeder neoliberalen und libertären Mode.

Auch wenn sich Gesell persönlich dagegen wehrte – manche seiner Anhänger weniger –, griffen die Nazis seine Kapitalismuskritik von rechts und seine bodenständige Geldtheorie auf. Ihr Wirtschafts­theo­retiker Gottfried Feder (1863-1941) hatte schon 1919 in München Das Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes veröffentlicht. Er machte Gesells Unterscheidung zwischen produktiven und unproduktiven Kapitalbesitzern mit der griffigen Formel vom „schaffenden Kapital und raffenden Kapital“ populär, womit einerseits fleißige deutsche Handwerks- und Industriebetriebe und andererseits jüdische Bankiers an der New Yorker Wallstreet gemeint waren. Unter Berufung auf Feder, der Kontakt zu Gesell gesucht hatte, begeisterte sich Hitler in Mein Kampf (Bd.1, 8. Kap.) für die politischen Möglichkeiten dieser künstlichen Trennung: „Die scharfe Scheidung des Börsenkapitals von der nationalen Wirtschaft bot die Möglichkeit, der Verinternationalisierung der deutschen Wirtschaft entgegenzutreten, ohne zugleich mit dem Kampf gegen das Kapital überhaupt die Grundlage einer unabhängigen völkischen Selbsterhaltung zu bedrohen.“

Romain Hilgert
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