In Zeiten von Donald Trump, Brexit, Front national, AfD und FPÖ wird darum gerungen, wer bei den Wahlen nächstes Jahr das populistische Terrain politisch besetzen kann

Im Namen der Sprachlosen

d'Lëtzebuerger Land vom 20.01.2017

Am Dienstag reiste Premierminister Xavier Bettel zum Weltwirtschaftsforum nach Davos, dem globalen Jahrmarkt der Reichen und Mächtigen. Dort wollte der liberale Regierungschef bei „wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entscheidungsträgern der Welt für die wirtschaftliche Attraktivität Luxemburgs“ werben. Er wollte laut seiner Pressestelle Unternehmer und Politiker unter vier Augen treffen und während eines Essens mit Jungunternehmern über die „Möglichkeiten und Herausforderungen der Digitalisierung für die Unternehmer der Zukunft“ diskutieren. Er wollte an einer Konferenz über „Responsive and Responsible Leadership in a Multipolar World“ teilnehmen und an einer Podiumsdiskussion über Weltraumtechnologie.

Am Vortag musste der Premier noch einmal zwei Stunden lang in der Enge des heimischen Parlaments sitzen, um sich anzuhören, wie ein kleiner, untersetzter Mann mit angegrautem Haar und einem grauen Wollpullover sich selbst immer wieder einen „einfachen Bürger“ nannte und im Namen aller sich von Sprachlosigkeit bedroht fühlenden einfachen Bürger Gehör verlangte. Mit einer Mischung aus Misstrauen und Stolz saß der Mann in diesem ganzen verlogenen Nostalgiekitsch von falschen Marmorsäulen, falscher Decke, falschem Goldzierrat, dunkelroten Quasten und Fransen, falschen Kerzenleuchtern, Wappenlöwen und Großherzögen und hatte vielleicht das ungute Gefühl, dass dies alles nur eine Kulisse von Demokratie und Vaterland war, um ihn und seinesgleichen irrezuführen.

Lucien Welter, der einfache Bürger aus Munsbach, der auf der Internetseite des Parlaments Unterschriften gesammelt hatte, hatte sich eine Rede vorbereitet, die er den „Hären an Dammen Deputéiert“ herunterlas. Natürlich war er aufgeregt, verhaspelte sich und stolperte über Fremdwörter. Doch gleichzeitig sonnte er sich in der Bedeutung, die ihm von all den wichtigen Leuten, dem Regierungschef, dem Kammerpräsidenten, den Abgeordneten und Amtsdienern, beigemessen wurde.

Der Vater von vier Kindern ist seit zehn Jahren Angestellter des Gemeindesyndikats Sigi in Contern. Zuerst gesundheitsbedingt als Telefonist, dann kümmerte er sich um die Internetseiten von Gemeinden, die ihre Einwohner über den Schöffenrat, den Tischtennisverein und den Sperrmüll informieren wollen. So zählen er und wohl viele Unterzeichner seiner Petition zu jenen Angestellten, Beamten, kleinen Geschäftsleuten und Handwerkern, die sich seit jeher für das richtige Volk halten, und zu jenen Arbeitern, Arbeitslosen und Rentnern, die nicht mehr glauben, dass ihre Kinder es einmal besser haben werden.

Wenn Lucien Welter erklärte: „Mit meiner Initia­tive will ich der Luxemburger Nationalsprache den Wert verleihen, der ihr zusteht“, dann will er in Wirklichkeit diesem Kleinbürgertum, diesen Arbeitern und Rentnern den Wert verleihen, der ihnen zusteht. Denn wenn er in seiner Petition schreibt, dass bei „einer Einwohnerzahl von 1,2 Millionen in nächster Zukunft [...] unsere Natio­nalsprache, wie die Verfassung es vorsieht, zum Aussterben verdammt ist“, dann meint er, dass dieses einfache Volk sich vom Aussterben bedroht fühlt inmitten eines Heeres überqualifizierter und weltgewandter Banker, Steuerberater, Europabeamter und Startup-Unternehmer, aber auch eines einfachen Volkes von Grenzpendlern und eingewanderter Arbeitern.

Mangels Vermögen, mangels Bildung fiel dem Kleinbürgertum zu seiner Verteidigung stets nur das Einzige ein, das es von der eingewanderten Konkurrenz unterscheidet: seine Luxemburgisch-Kenntnisse. Mit der Aufwertung des Luxemburgischen will es sich ein Bildungsprivileg verschaffen, um seinen befürchteten Untergang zu verhindern. Lucien Welter erklärte den Abgeordneten, vor Gericht verhalte es sich so, dass „die Partei, die sich in ihrer Muttersprache Französisch oder Deutsch ausdrücken kann, gegenüber dem Luxemburger im Vorteil ist, der sich mit einer Fremdsprache auseinandersetzen muss“. Deshalb träumt er vielleicht davon, dass, nicht vor Gericht, sondern in der Gesellschaft, der Spieß einmal umgedreht werden könnte. Je mehr Luxemburgisch in Gesetzen, auf Straßenschildern und amtlichen Internetseiten steht, um so wichtiger werden jene politisch und ökonomisch Sprachlosen, die sonst nichts besser können als Luxemburgisch. Mit dem Luxemburgischen hoffen sie, auf Kosten anderer Untermieter wieder Herr im eigenen Haus zu werden, dessen Vermieter sie noch nie gesehen haben.

Aber um Sprache geht es nur am Rande. Es geht um einen breiteren Aufstand aller seit 2013 verunsicherten Konservativen gegen die liberale Reformregierung, die angekündigt hatte, die Fenster weit aufzureißen. Hatte sie nicht mit Unterstützung der Unternehmerlobbys und der Presse versucht, allen das einfache Volk auf dem Arbeitsmarkt bedrohenden Einwanderern das Wahlrecht zuzugestehen? Weltraumbergbau scheint ihr wichtiger als die Heimatscholle, sie führt Krieg gegen die Kirche und die Tradition, sie hört, statt auf den Wähler, auf Jeremy Rifkin, der das einfache Volk durch Roboter ersetzen will. Statt Luxemburgisch sprechen Xavier Bettel und Etienne Schneider fließend Neolib, Gouvernance, Managerismus und Marketing; was früher „Heemecht“ hieß, nennen sie nun „Nation Branding“.

Zwei Dutzend Abgeordnete aller Parteien waren am Montag zu der öffentlichen Sitzung des parlamentarischen Ausschusses der Institutionen und Verfassungsrevision erschienen. Zuerst hörten sie dem einfachen Bürger mit demonstrativem Interesse zu, dann wurden sie langsam ungeduldig, weil sie sich doch lieber selbst reden hören. Ihr Respekt galt weniger dem Mann ohne Eigenschaften und Krawatte, als den 14 702 elektronischen Unterschriften seiner Petition. Alle versuchten sie, ihn zu überzeugen, dass die luxemburgische Sprache gar nicht aussterbe, sondern noch nie so viel gesprochen und geschrieben worden sei wie heute. Aber Lucien Welter ließ das nicht gelten, denn es ging ja gar nicht um das Luxemburgische.

Dahinter lauert die populistische Versuchung: Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise, der im ­Euro-Raum institutionalisierten Austeritätspolitik und dem modernen Sparpaket von DP, LSAP und Grünen befürchten Zehntausende, dass der Sozial- und Steuerstaat ihnen nicht mehr genügend umverteilt, und wollen um jede Krume streiten, mit ihresgleichen, wie Grenzpendlern, Eingewanderten und Asylsuchenden. In Zeiten von Donald Trump, Brexit, Front national, AfD und FPÖ geht es um die Frage, wer 2018 bei den Wahlen das populistische Terrain politisch besetzen kann; wer im Namen der schweigenden Mehrheit sprechen kann, damit sie nicht selbst zu Wort kommt.

Die erste Anwärterin, die ADR, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Weder in der Referendumskampagne, noch in der Terrorismushysterie oder der Sprachendebatte war es ihr gelungen, sich Gehör zu verschaffen. Und laut Wählerbefragung von Luxemburger Wort und RTL käme sie auch bei Wahlen nicht über ihre derzeit drei Parlamentsmandate hinaus. Die CSV schürt zwar wieder malthusianistische Ängste vor dem 1,1-Millio­nen-Einwohnerstaat, aber selbst ihre schärfsten Demagogen dürfen nicht viel mehr versprechen, als sie – einmal Minister – halten können.

Unterschriftensammler Lucien Welter hatte sich anfangs von Fred Keup und Tom Weidig unterstützen lassen, die vor zwei Jahren unter dem Namen „Nee 2015“ von RTL und verschiedenen Zeitungen zu Sprechern der Referendumsgegner aufgebaut worden waren. Weil sie angeblich sogar in Facebook-Anzeigen für die Petition investiert hatten, hatten sie darauf bestanden, mit Lucien Welter zusammen im Parlament auftreten zu dürfen. Lucien Welter hat nicht das Zeug zum Volkstribun, aber er wollte sich auch nicht die Schau von anderen stehlen lassen, die es besser können. Stattdessen nahm er am Montag Daniel Rinck und Vivi Bononi mit ins Parlament, die nach dem Referendum mit geringem Erfolg versucht hatten, aus ihrer Facebook-Seite „Groupe Neiwahlen“ eine Lëtzebuerger Biergerpartei zu machen.

Der ständige Versuch, die soziale Frage in eine nationale umzubiegen, politische und ökonomische Sprachlosigkeit mit dem Fremdsprachengebrauch zu erklären, kommt auch heute nicht ungelegen. Aber die Regierung, die größeren Parteien und wer sich sonst noch alles für Eliten hält, können sich keinen kulturellen Brexit leisten, der die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts gefährden würde. Deshalb waren sie sich schon vor der Ausschusssitzung am Montag einig, bis zu den nächsten Wahlen dem ganzen Populismus mit Symbolpolitik den Wind aus den Segeln zu nehmen: das Luxemburgische in der neuen Verfassung zu beschwören und seinen Rang als EU-Sprache zu beantragen. Dann flog der Premier nach Davos.

Romain Hilgert
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