Chez Pipo

Fluffy im Crossover

d'Lëtzebuerger Land vom 14.03.2002

Valerio bräuchte Kondome und Pizza; Leonce: Prozac und Lena: OB confort. Falls jemals wieder einer aus diesem gottverdammten Keller herauskäme, wäre es schön, wenn er die Einkaufsliste an der Wand berücksichtigen könnte. Denn Leonce, Lena und ihr unzertrennlicher Freund Valerio sind bei Anna Maria Krassnigg ganz schöne No-Future-Couch-Potatoes, die es sich in einem vergammelten Keller "bei Pipo" gemütlich gemacht haben und den lieben langen Tag nur herumhängen und sich furchtbar langweilen, in ihrer grenzenlosen, schmerzhaften Freiheit.

Und so haben sie Rituale erfunden, um sich Regeln zu geben, an die sie sich halten müssen: sie spielen Büchner. "Du erinnerst dich? Fragmentarisch vielleicht? Die Handlung ...", stichelt Valerio, die "Schauspieler" spielen immer auch den Metatext, das Stück um das Stück, und machen so jeweils Zeitsprünge von 166 Jahren vor und zurück. Und das Erstaunliche ist, dass weder die büchner'sche Sprache, noch die Handlung oder das Lebensgefühl des "armen Reichen" in irgendeiner Art als störend empfunden würden. Im Gegenteil, Büchners Bemerkungen zur Absurdität der Staatsführung, zur Arroganz des Kapitals oder zur Abgestumpftheit des Volkes scheinen passender denn je. Hießen die Zwergstaaten, deren Prinz und Prinzessin aus Staatsräson heiraten sollen, bei Büchner "Pipi" und "Popo", könnten sie dann nicht auch "Luxemburg" und "Liechtenstein" heißen?

Aber vielleicht wollte die österreichische Regisseurin Anna Maria Krassnigg auch nicht ganz so politisch sein. Vielleicht wollte sie besonders der "abgefuckten" Wohlstandsjugend vorführen, dass ihre Langeweile so neu eigentlich gar nicht ist. "Bei Leonce und Lena ist es ja auffällig: Es gibt keine Utopie mehr, es gibt keinen Sinn mehr, es gibt keine Bedeutung mehr, nur noch dieses Vakuum, dieser leere Raum ist da. Man weiß nicht, wohin man sich bewegen soll, welche Richtung einen Sinn hat. Also spielt man. Daraus entsteht das Spiel", kommentierte Heiner Müller das Stück in einem Gespräch mit Olivier Ortolani, das im Programmheft abgedruckt ist. Und in genau dieser Utopielosigkeit wird das Leben schier unerträglich. 

"Mein Leben gähnt mich an wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich voll schreiben soll, aber ich bringe keinen einzigen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist wie ein leerer Tanzsaal", beschwert sich Leonce, und diese Leere treibt ihn in den Wahnsinn. Im grauen Overall mit Boxerstiefeln ist er ebenso hype wie Lena in ihrem durchsichtigen Fusel auf schwarzem BH oder Valerio in seinen "engineered" Levi's Jeans. Alle drei sind sie Musiker, immer wieder stimmt Lena Tracy Bonhams Mother, Mother... an. 

Pipo ist der Musiker und Barbetreiber, André Mergenthaler, bald mit Saxophon, bald mit Cello, souverän wie immer, wenn auch etwas blass gegenüber der außergewöhnlich präsenten Daniel Kamen (Leonce), Katrin Stuflesser (Lena) und Raphael von Bargen (Valerio), drei Schüler des Max-Reinhard-Seminars in Wien, das das Stück mit dem TNL koproduziert. Ihre Kraft, ihre Akrobatik und ihr dennoch äußerst präziser Einsatz machen aus dem Stück einen wahren Theatergenuss. 

Denn manchmal hatte man schon den Eindruck, die Regisseurin sei jetzt definitiv abgehauen und habe die Schauspieler mit ihren "Fluffys" - synthetischen Pelzteilen in Neonfarben, die als Hauptrequisite Verwandlungen andeuten - kurz ein bisschen alleine "spielen" lassen. Und so ufern sie manchmal aus, verlieren sich in verbaler und physischer Gewalt, sogar die Liebe wird zur Aggression. Aber in Wirklichkeit haben sie natürlich absolut Recht: so läuft das, wenn Langeweile, Perspektivlosigkeit, Alkohol, Männer und Frauen in einem Keller aufeinander treffen.

Anna Maria Krassnigg hat die "Generation Golf", wie sie Florian Illies beschrieb, genauestens beobachtet, und so sind die drei auch ein bisschen fashion victims, lesen Man's Health, das sie eben ganz nebenbei aus einer Freitag-Tasche gezogen haben, fotografieren einander mit der Polaroid-Kamera und suchen im Neckermann-Katalog nach der großen Freiheit. 

Der Soundtrack ist ein bunter Crossover aus Bizets Carmen, Rockstandards, italienischen Melodien und Hip-Hop ..., alles live auf der Bühne gespielt. "Wer arbeitet, ist ein Schuft", findet Valerio, und irgendwie klingt das alles plötzlich so zeitgenössisch. Natürlich denkt man auch an Baz Luhrmanns auf jung getrimmten Romeo + Juliet, jedoch mit dem feinen Unterschied, dass Chez Pipo auch noch Sinn ergibt.

 

Chez Pipo - ein Leonce-und-Lena-Spiel - Inszenierung von Anna Maria Krasnigg nach Georg Büchner, Bühne: Bert de Raeymaecker, Kostüme: Eva Wandeler, Musik: André Mergenthaler und Raphael von Bargen, Dramaturgie: Olivier Ortolani, mit Daniel Kamen, Kathrin Stuflesser und Raphael von Bargen; eine Coproduktion des Théâtre national mit dem Max-Reinhardt-Seminar Wien wird noch am 16., 20.., 21. und 22. März jeweils um 20 Uhr in den Anciens établissements Peusch, 160, route de Longwy in Luxembourg-Merl gespielt. Reservierungen über Telefon 26 45 88 70 (von 15 bis 19 Uhr).

 

josée hansen
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