Interview mit dem Europaabgeordneten Claude Turmes (Grüne)

"Noch immer keine Strategie"

d'Lëtzebuerger Land vom 18.09.2008

d’Land: Herr Turmes, anscheinend haben Sie letzte Woche den EU-Richtlinienvorschlag über die erneuerbaren Energien gerettet.

Claude Turmes: So umstritten ist die Richtlinie in den Fraktionen des Europaparlaments aber nun auch wieder nicht.

Der von Ihnen erreichte Agrofuel-Kompromiss wird in Brüssel aber als große politische Leistung anerkannt. Nicht nur die Umweltschutz- und Dritt-Welt-Verbände sind begeistert.

Agrofuel war ein ganz schwieriges Thema, schwieriger als der Rest der Richtlinie. Ich wollte verhindern, dass die Differenzen über das Beimischungsziel die Fraktionen spalteten. Sonst wäre die Einigung in den anderen Fragen viel schwerer gefallen. Immerhin haben wir in den letzten Wochen insgesamt 1 200 Änderungsanträge in am Ende 300 Kompromissen zusammengefasst. Zu Agrofuel schlossen wir die letzten vergangenen Donnerstagmorgen um halb sechs, nur ein paar Stunden vor der Abstimmung im Ausschuss.

Jetzt soll den Kraftstoffen weniger Agrofuel beigemischt werden, aber rücken die Erneuerbare-Energien-Ziele dadurch nicht in weitere Ferne?

Als Kommissionspräsident Barroso im Januar das Plenum besuchte, sagte ich ihm, falls die Kommission nicht die Courage habe, das Beimischungsziel abzuschwächen, würde ich dafür sorgen, dass das Parlament es tut. Das ist mir gelungen. Für mich ist die Nahrungsmittelproduktion prioritär. Ich bin froh, dass ich eine Mehrheit für einen Kompromiss gefunden habe, der dem Rechnung trägt: Das Zehn-Prozent-Beimischungsziel, für das vor allem der Kommissionspräsident und die Fraktion der Europäi-schen Volkspartei (EVP) eintraten, wurde abgeschwächt, und 2014 wird eine Halbzeitbilanz gemacht. Dort werden der Stand der Agrofuel-Entwicklung, aber auch die Welternährungslage analysiert werden, und man wird weiter sehen.

Wie geht es mit der Richtlinie weiter?

Im Mitentscheidungsverfahren von Ministerrat und Parlament sind wir nun an dem Punkt, wo ich versuchen muss, im Rat eine Mehrheit für den Kompromisstext des Ausschusses zu finden. Gelingt das, kann die Richtlinie schon in erster Lesung vom Europaparlament verabschiedet werden. Die Chancen dafür stehen gar nicht schlecht. Die Ambition, eine Energiewende in Europa hinzubekommen, halte ich für mehrheitsfähig. Und die Kommission hat ein Interesse daran, dass der Text bis Ende des Jahres unter Dach und Fach ist, damit die EU bei den nächsten Klimaschutzverhandlungen mit einer Stimme sprechen kann. 

Die EVP-Fraktion wollte in Ihrem Bericht eine Klausel unterbringen, wonach, wer sein Ziel an erneuerbaren Energien nicht erreicht, aber in Kernkraft investiert hat, dies angerechnet bekommen sollte. Woher kommt so eine Initiative?

Die Atom-Klausel war ein Nebenkriegsschauplatz, mit dem die EVP mich ärgern wollte.

Die deutsche CDU will die Klausel noch immer.

Es wird von vielen Seiten her versucht, die verbindlichen nationalen Ziele aufzuweichen. Darum geht es eigentlich. Ob die EVP vor zwei Wochen noch wollte, dass Investitionen in erneuerbare Energien, die ein EU-Staat irgendwo unkontrolliert auf der Welt tätigt, seiner nationalen Bilanz angerechnet würden, oder ob der sozialistische Abgeordnete Robert Goebbels vorschlug, dass Luxemburg die Möglichkeit erhalten sollte, seine nationale Zielvorgabe neu zu verhandeln, falls es sie nicht einhalten kann.

Sie sind dagegen?

Robert Goebbels‘ Änderungsantrag ist der gefährlichste, der momentan auf dem Tisch liegt. Im Ausschuss wurde er von allen Fraktionen abgelehnt, sogar von der sozialistischen. Aber die Regierung hat den Vorschlag auch im Ministerrat gemacht, und ich werde alles tun, damit sie da keinen Fuß auf den Boden bekommt. Kaum lag der Antrag im Rat vor, liefen in Brüssel die Telefone heiß. Großbritannien und Italien, die größten Gegner verbindlicher Ziele, waren hocherfreut, dass Luxemburg sich anbot, ihr Spiel zu spielen.

Umweltminister Lux hält die elf Prozent bis 2020 für Luxemburg dennoch nicht für realistisch. Da der Gesamtenergieverbrauch betrachtet wird, inklusive Tanktourismus, seien mehr als 4,5 Prozent nicht drin. Ohne Tanktourismus könnten es neun werden. Es ärgere ihn, auf die spezielle Situation des Landes in Brüssel immer wieder hinweisen zu müssen.

Dass Luxemburg eine gewisse Anstrengung abverlangt wird, stimmt. Aber das Klima- und Energiepaket der EU ist, darauf darf man ruhig hinweisen, als solidarische Unternehmung der 27 Mitgliedstaaten konzipiert. Die nationalen Zielvorgaben hat die Kommission absichtlich nicht ausschließlich an nationalen Potenzialen orientiert. Sonst hätte jede Regierung mit eigenen Potenzialstudien kontern können und über die Richtlinie würde ewig verhandelt. Stattdessen hat die Kommission eine Art Flatrate festgelegt, die für jeden Staat gilt. Plus ein Zusatzziel, das sich am jeweiligen nationalen BIP orientiert. Dadurch werden die osteuropäischen Staaten relativ entlastet, reichere Staaten, die bisher wenig unternommen haben, wie Großbritannien, Italien, Belgien und Luxemburg, belastet. Sie erhalten allerdings die Möglichkeit, sich an gemeinsamen Projekten mit anderen EU-Staaten zu beteiligen.

Der Tanktourismus ist doch aber mehr ein fiskal- als ein energiepolitisches Problem. Er hat Einfluss auf fast ein Fünftel der Staatsfinanzen und damit auch auf das BIP.

Der Tanktourismus verursacht auch Kosten. Und die Regierung benutzt ihn regelmäßig als Ausrede, um den hohen Energieverbrauch generell nicht reduzieren zu müssen. Ihr eigentliches Problem ist, dass sie nach wie vor keine Klimaschutz- und Energiestrategie hat. Seit zehn Jahren wissen wir, dass der Tanktourismus ein Problem ist. Ausstiegsszenarien gibt es nicht. Jedem müsste einleuchten, dass die Verbindung von Altbausanierung, energieeffizienten Neubauten mit moderner Gebäudetechnik Arbeitsplätze schafft. Wo ist ein strukturierter Ansatz dafür? Die Gemeinde Beckerich ist mit ihrem Energiekonzept europaweit ein Vorzeigemodell. Denkt man daran, es anderen Luxemburger Landgemeinden zu empfehlen? Davon habe ich noch nichts gehört. Ich sage nicht, es sei nichts gemacht worden. Aber wenn sich hierzulande etwas getan hat in Sachen Energieeffizienz und erneuerbare Energien, dann gingen diese Initiativen stets von unten aus. Was man braucht, ist eine Strategie, die alle Akteure einbindet. Die fehlt, und deshalb kann der Umweltminister nur noch klagend auftreten.

Auf Ihr Betreiben hin hat der Industrieausschuss den Richtlinienentwurf um Zwischenziele und ein Strafgeldsystem ergänzt. Eine Geste an säumige Mitgliedstaaten wie Luxemburg?

Ich möchte vor allem, dass es schneller geht. Der Ausschuss hat sich vergangene Woche auf verpflichtende Zwischenziele geeinigt, sowie auf das Prinzip, ein Strafgeld pro Megawatt zu erheben, das bis zum nationalen Zwischenziel noch fehlt.

Gibt es auch genügend Produktionspotenzial europaweit?

20 Prozent erneuerbare Energien in der EU bis 2020 soll ja beispielsweise 35 Prozent grüner Strom heißen.Jedes Dorf, jede Stadt hat zunächst mal lokale Potenziale. Die müssen genutzt werden, das muss die Basis sein. Abgesehen davon gibt es enorme Potenziale, die in Großprojekten erschlossen werden sollen. Windkraft in allen Nordsee-Anrainerländern zum Beispiel oder Solar-Großkraftwerke im Mittelmeerraum. In Osteuropa gibt es zum Teil sehr viel Biomassepotenzial viele ausgedehnte Wärmenetze. Heute wird dort zur Wärmegewinnung noch überwiegend Kohle eingesetzt, Biomasse soll sie ersetzen. Allein in der Nordsee sind derzeit Windkraftprojekte für 65 000 Megawatt in Planung. Das entspricht über 40 Cattenom-Reaktoren.

Von denen man dann ein paar abschalten könnte?

Ich glaube nicht, dass es eine Renaissance der Kernkraft geben wird. EU-weit werden vielleicht ein paar neue AKWs gebaut werden, aber nicht Dutzende. Nur ein Beispiel: Es gab Gerüchte, wonach in Holland AKWs neu gebaut werden sollten. Nun hat Tennet, der niederländische Netzbetreiber, mitgeteilt, dass in Holland die Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen, vor allem aus Wind, sich bis 2015 verdreifachen soll. Holland würde damit zum Stromexporteur. Bislang ist es ein Großabnehmer französischen Atomstroms.

Wie würden Sie Luxemburg energiestrategisch aufstellen?

Luxemburg muss seine Hausaufgaben machen bei der Nutzung der erneuerbaren Energien, das ist der erste Punkt. Muss man zukaufen, braucht man – zweiter Punkt – eine klare Strategie dafür. Ich hielte eine Benelux-Kooperation für sinnvoll. Elia, der belgische Netzbetreiber, ist nun anscheinend daran interessiert, den schon viel diskutierten Zusammenschluss des deutschen und des belgischen Netzes via Luxemburg herzustellen, und zwar in der Nähe des Viandener Pumpspeicherwerks. Vorausgesetzt, man erreichte eine Änderung des Staatsvertrags mit Deutschland über die Nutzung des Pumpspeicherwerks, das derzeit noch ausschließlich der RWE zugute kommt, könnte man einen Verbund mit Coo in Belgien herstellen, wo es ebenfalls ein großes Pumpspeicherwerk gibt. Weiter zur belgischen und holländischen Nordseeküste – dort könnte man sich an Groß-Windanlagen beteiligen.

Und der Fusions-Energiekonzern aus Cegedel, Soteg und SaarFerngas?

Ich denke, dass die strategischen Interessen von ArcelorMittal, wo man Gas für die Walzstraßen braucht, und Luxemburg, das Gas und Strom möglichst umweltfreundlich braucht, übereinstimmen. Die Zukunft liegt in der Kombination erneuerbarer Energien mit hocheffizienten Gaskraftwerken, wie wir bei Esch/Alzette schon eins haben. 

Für manche Vordenker der erneuerbaren Energien, wie etwa Herrmann Scheer, Gründer und Präsident von Eurosolar, hat die Energiewende mit Dezentralisierung zu tun und damit, dass sozusagen Fotovoltaikpanels auf jedem Hausdach die Macht der Energiekonzerne brechen müssten. Ist das für Sie eine Autarkie-Utopie, weil sie Großabnehmern keinen ausreichend kontinuierlichen Stromfluss zur Verfügung stellt?

Das ist eine Frage, die in der Umweltschutzbewegung und bei den Grünen viel diskutiert wird. Was Autarkie angeht, denke ich, dass sie im ländlichen Raum, wie heute schon in Beckerich, zu 100 Prozent möglich ist. Diese Produktion aus Biogas, Fotovoltaik und Wind muss den Sockel bilden. Darüber hinaus benötigt man meiner Meinung nach trotzdem die schon erwähnten Großprojekte zur sicheren Versorgung von Großabnehmern. Europa ist ein Industriestandort und soll es auch bleiben.

Peter Feist
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