Estelle Née bricht eine Lanze für ihre Generation. Die sei in Luxemburg sehr diszipliniert gewesen

Stark und verletzlich zugleich

d'Lëtzebuerger Land vom 29.01.2021

Die Unel ist so aufgebaut, dass Pressesprecher dafür da sind, die Unel extern zu repräsentieren, steht in der Mail, als das Land ein Interview bei Luxemburgs Schüler- und Studentenvertretung anfragt. Wie bei den Profis vereinbaren wir einen Termin und etwas später sitzt Estelle Née im Visio-Chat. Die Jura-Studentin der Universität Luxemburg ist das junge Gesicht, dass die Anliegen der Unel nach außen vertritt.

„Ich kann mich nicht über Arbeit beklagen“, sagt die 21-Jährige und lacht. Derzeit wohnt sie zuhause, diese Woche hatte sie Prüfungen an der Uni, für die sie lernen musste, so wie viele ihrer Kommiliton/innen auch. Lernen unter erschwerten Bedingungen. „Die Bibliotheken hatten im Lockdown geschlossen.“ Von der Recherche, über Kurse bis zu Prüfungen, fast alles online. „Wir hatten es hier noch gut, andere Länder und Regionen sind digital schlechter ausgestattet“, bemerkt die Unel-Sprecherin.

Immerhin: Die Prüfungen fanden ohne Online-Aufsicht statt. Im vergangenen Frühjahr hatte die Idee der Uni Luxemburg, Studierende im Examen per Prüfungs-App überwachen zu wollen, für Aufregung gesorgt. Die App konnte offenbar nicht nur erfassen, was ein/e Studierende/r auf dem Computer für Programme während eines Examens geöffnet hatte, sondern hat das WG-Zimmer oder die Bude daheim über 360-Grad-Webkamera abgescannt, um beispielsweise unerlaubte Hilfsmittel zu finden. „Wir hatten erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken, und glücklicherweise waren wir nicht alleine“, erinnert sich Née. Schnell wurde die Politik auf die Problematik aufmerksam. Weil die nationale Datenschutzkommission CNPD die App noch nicht überprüft und genehmigt hatte, wurde das Ansinnen von der Uni vorerst fallen gelassen. „Es gibt Alternativen, zum Beispiel können Studierende über Visiokonferenz mündlich abgefragt werden“, findet Née.

Corona war für sie und ihre Kolleg/innen das alles dominierende Thema im vergangenen Jahr: „Es gab praktisch nichts anderes.“ Vorlesungen, die sonst im Hörsaal stattfanden, werden nun in hybriden Formaten gehalten: teils daheim am Schreibtisch im Internet, teils an der Uni im Hörsaal. Dann mit Mund-Nasen-Schutz und unter Einhaltung des Sicherheitsabstands. Trotzdem wurden auch bei Née Komiliton/innen krank. „Glücklicherweise waren wir in mehrere Lerngruppen aufgeteilt. So fielen dann nicht gleich alle aus.“

In den Schulen gelang es etwas länger, den Anschein von Normalität zu wahren. Den Anschein, wohlgemerkt. Denn wohl begann der Unterricht nach den Sommerferien wie üblich, aber von Lernen laut Lehrplan konnte dennoch keine Rede sein. „Wir machen uns echt Sorgen, dass Schüler den Anschluss verloren haben könnten“, sagt Unel-Sprecherin Née. Es ist inzwischen „ein komplettes Semester“, dass reguläre Kurse ausgefallen seien. Die Unileitung hatte, nachdem sich das Coronavirus unter Studierenden verbreitete, es den Professoren überlassen, ob sie zu Präsenz-Vorlesungen zurückkehren wollten. Nicht wenige entschieden sich dagegen. Was bedeutete, dass viele Studierende für sich daheim lernen mussten.

Trotz Lockdown und eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten gab es für die Studierendenorganisation allerhand zu tun. Immer wieder hatte sich die Unel im vergangenen Jahr zu Wort gemeldet, über die sozialen Netzwerke oder über die klassischen Medien: Als der Premierminister Xavier Bettel (DP) am 18. März den Notstand ausrief, hatte die Schülervertretung die Ausgangsbeschränkungen begrüßt, ebenso Bildungsminister Claude Meisch (DP) für das schnelle Handeln gelobt. Mit dem ersten Lockdown gelang es, die Infektionszahlen rasch zu drücken. Im Erziehungsministerium arbeiteten Beamte Tag und Nacht, um Online-Unterrichtsmaterialien auf die Webseite schouldoheem.lu hochzuladen.

Eine Hotline wurde eingerichtet, sowohl für Eltern und Schüler/innen, die sich mit dem landesweit angeordneten Homeschooling nicht zurechtfanden. Und für jene, die die Umstellung psychisch nicht gut verkrafteten (siehe S. 24). „Vielleicht hat die Krise dazu beigetragen, das psychische Wohlbefinden der Jugend stärker in den Fokus zu rücken“, hofft Estelle Née. „Es ist nie schwach, sich Hilfe zu holen, wenn man sie braucht“, sagt sie mit Blick auf die Hilfs-Angebote, die Schulen ausweiteten. Der schulpsychologische Dienst Cepas wurde umgebaut und setzte verstärkt auf Online-Beratung, um mit gefährdeten Jugendlichen in Kontakt zu bleiben. Allerdings berichteten dem Land während des zweiten Lockdown im Dezember, als die Infektionszahlen wieder anzogen, weil das Virus auch in den Schulen grassierte, Direktionen davon, das Cepas-Personal käme wegen des Tracing der schulinternen Covid-19-Fälle gar nicht dazu, seiner Kernaufgabe, der Beratung, nachzugehen. „Da hatten wir keinen Einblick, aber dass die psychologische Unterstützung unter fachfremden Aufgaben leidet, geht gar nicht“, sagt Née.

Mit der guten Figur, die die Politik noch zu Beginn der Pandemie im Krisenmanagement laut Unel gemacht hatte, war es spätestens im September vorbei: Bei der zweiten Infektionswelle waren es widersprüchliche Zahlen zu den Covid-Fällen und die Diskrepanz zwischen den beschwichtigenden Erzählungen von Erziehungsminister Meisch und den Erlebnissen der Schüler/innen, die die Studierenden-Organisation auf die Palme brachten. Sie war mit der Einschätzung nicht allein: Auch die Lehrergewerkschaften und Eltern berichteten von einem heillosen Durcheinander beim Tracing und Testen – während der Bildungsminister immer noch darauf beharrte, alles unter Kontrolle zu haben. Der letzte ausführliche Covid-19-Schulbericht zeigt im Rückblick einen exponentiellen Verlauf des Infektionsgeschehen Ende Oktober, Anfang November.

Wie die Lehrergewerkschaft SEW-OGBL, mit der die Unel in der Vergangenheit schon zusammengearbeitet hat, fühlten sich die Schüler/innen nicht ausreichend in die Planung des Krisenmanagements eingebunden. Um den Druck zu erhöhen, schrieb die Unel gemeinsam mit der Schülervertretung Cnel und dem SEW mehrere Briefe an den zuständigen Minister: In einem prangerten sie die fehlende Kohärenz und Transparenz der Sicherheitsmaßnahmen an und forderten beispielsweise bessere Lüftungssysteme in den Klassenräumen. In einem weiteren verlangen sie „einheitliche und klare Kriterien“ für alle Sekundarschulen in Bezug auf die A/B-Einteilung der Abschlussjahrgänge sowie „eine kohärente, einheitliche Strategie“ in Bezug auf die möglichen Covid-bedingten Kürzungen der Lehrpläne. Der Minister hatte dies zu planen den Schulen weitgehend selbst überlassen. Unel und Cnel betonen: Da die Abschlussjahrgänge ein nationales Abschlussexamen bestehen müssen, sei „die Chancengleichheit nur gewährt, wenn an allen Schulen einheitliche Kriterien“ in Bezug auf die A/B-Einteilung der Abschlussklassen gelten.

„Wir machen uns natürlich Sorge um die Vergleichbarkeit und über den Wert der Abschlüsse“, betont Estelle Née. Was die Studierenden betrifft, ist sie sich relativ sicher: „Ein Jahr unter diesen Ausnahmebedingungen hat wahrscheinlich zu Wissenslücken geführt.“ Studienkolleg/inen seien verunsichert, weil sie nicht wüssten, wie groß die Lerndefizite sind und wie sie sich auf ihr Studium auswirken werden.

Das Fass zum Überlaufen brachten schließlich zwei Gesetzesvorhaben, die Bildungsminister Claude Meisch während der Pause in den Sommerferien hinterlegt hatte und die, aus Sicht der Unel und des SEW, die Privatisierung in den Schulen vorantreiben (d’Land vom 30.10.2020 berichtete davon). Die klammheimliche Art kam gar nicht gut an und verstärkte den Eindruck, der Minister wolle die Gewerkschaften und Betroffenen umgehen.

„Wir haben den Bildungsminister mehrfach um eine Unterredung gebeten. Ich habe ihn bis heute nicht getroffen“, erzählt Estelle Née. So viel zur viel beschworenen Partnerschaft und den Konsultationen, die angeblich mit allen Partnern stattgefunden haben sollen. Offenbar zählt die Meinung der Schüler und Studierenden nicht so viel.

Dabei geht die Pandemie mit ihren tiefgreifenden Einschränkungen und Auflagen gerade an den Jugendlichen nicht spurlos vorbei. „Wir sind auch eine vulnerable Gruppe, nur nicht im medizinischen Sinne“, betont Née. Wohl überständen die meisten Kinder und Jugendlichen, die sich mit dem Virus infizieren, die Ansteckung ohne größere Komplikationen. Aber der Lockdown und die außerordentlichen Lernbedingungen waren für viele Schüler und Studentinnen eine große Herausforderung. Nicht nur, weil sie ihre Freunde nicht wie gewohnt treffen konnten. „Die Jugend ist die Phase im Leben, wo man sich entdeckt, Neues ausprobiert und rausgeht“, erzählt Estelle Née nachdenklich. Das sei unter Pandemiebedingungen „nur in sehr begrenztem Maß“ möglich.

Viele Jugendliche hätten die Regeln vorbildlich befolgt, findet Née, und in der Schule und an der Uni vorschriftsgemäß Masken getragen und Abstand gehalten. Gerade am Anfang herrschte einige Verunsicherung, was das Übertragungsrisiko betraf: „Manche haben daheim jemanden, der zur Risikogruppe zäht. Den galt es zu schützen.“ In der Öffentlichkeit jedoch 
dominierte bald das Bild der uneinsichtigen selbstbezogenen Jugend, die trotz Ausgangssperre illegale Partys feiert. „Es gibt in jeder Altersgruppe Menschen, die gegen die Auflagen verstoßen, weil sie meinen, die Krankheit sei nicht so schlimm, oder einfach, weil sie sich in ihren Freiheiten beschnitten sehen und partout nicht darauf verzichten wollen“, betont die Unel-Sprecherin. Sie habe die Jugendlichen größtenteils als sehr diszipliniert erlebt, bricht sie eine Lanze für ihre Generation. „Ich finde, darauf können wir stolz sein.“

Ines Kurschat
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