Die bevorstehenden Kammerwahlen sind auch eine folgenreiche Abstimmung über die Umrisse eines neuen Geschäfts- und Sozialmodells für Luxemburg

Die Suche nach einem neuen Modell

d'Lëtzebuerger Land vom 11.10.2013

„Die DP“, so schreibt sie in ihrem Wahlprogramm, „hat die Regierung allerdings auch immer dazu angemahnt, das Geschäftsmodell Luxemburg zu überarbeiten und neue Wege für die Zukunft einzuschlagen.“ An anderer Stelle heißt es: „Das Luxemburger Sozialmodell, das sich u.a. an der ‚Tripartite’ festmachen ließ, ist dabei an seine Grenzen gestoßen.“

Oberflächlich handelt der Wahlkampf vielleicht von Skandalen, dem Index oder dem Ausländerwahlrecht. Doch in Wirklichkeit entscheiden die Wahlen tatsächlich über ein neues Geschäftsmodell für die Luxemburger Volkswirtschaft und ein neues Sozialmodell für die Gesellschaft. Wobei Bezeichnungen wie „Geschäftsmodell“ und „Luxemburger Sozialmodell“ vielleicht verkürzt sind.

Denn was die DP „Geschäftsmodell“ und „So­zialmodell“ nennt, hatte der französische Ökonom Michel Aglietta 1976 in einer damals 55 Francs teuren, dunkellila kartonierten Pionierschrift unter dem Titel Régulation et crises du capitalisme. L’expérience des Etats-Unis als die Gesamtheit der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Institutionen, Gesetze, Gepflogenheiten und Diskurse beschrieben, welche einige Jahrzehnte lang die Produktion und Reproduktion in einem Land regulieren und so für sozial und wirtschaftlich stabile Verhältnisse sorgen. „FAIR & STABIL“ eben, wie es seherisch auf unzähligen CSV-Plakaten entlang der Landstraßen und auf dem orangefarbenen Aktionsprogramm der CSV zusammengefasst ist.

Dass die große Finanz- und Wirtschaftskrise, in deren Schatten die Wahlen von 2009 stattfanden, noch immer nicht zu Ende ist, erhärtet den Verdacht, dass sie auch das Ende des bisherigen Geschäfts- und Sozialmodells oder der bisherigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Regulierungsweise bedeuten kann.

Der fordistische Modus der Massenproduktion, des Massenkonsums und des Sozialstaats war hierzulande in den Goldenen Dreißigern des Kalten Kriegs vor allem von der Schwerindustrie geprägt. Ihm folgte ein in den Achtzigerjahren entstandener neoliberaler, vom Finanzkapital getriebener Modus der Generalmobilmachung im globalen Wirtschaftskrieg: Luxemburg profitierte über alle Erwartungen vom Boom der Finanz­industrie, so dass eine hohe Fiskalisierung des Sozialstaats niedrige Lohnnebenkosten und bisher weniger einschneidende Sozialreformen als in anderen Ländern erlaubte.

Doch nun ist auch dieses Geschäfts- und Sozialmodell nicht nur international in der Krise: Der Finanzplatz schrumpft, die letzten Souveränitätsnischen verschwinden, ein chronisches Staatsdefizit schleicht sich ein, in der Tripartite gibt es nichts mehr zu verhandeln, die Europäische Union ist gelähmt... In den kommenden Jahren könnte deshalb der Wechsel der Regulierungsweise nötig werden. Wie sie in groben Umrissen aussehen soll, darüber wird auch am 20. Oktober bei Wahlen entschieden, die nicht zufällig im Zeichen des vielfach versprochenen „Wechsels“ stehen.

Aus diesem Grund melden sich die Unternehmer wie schon lange in keinem Wahlkampf mehr zu Wort. Vor fast zwei Jahren gründete eine Handvoll von ihnen den Verein 5 vir 12, um „generate ‚change’ through achieving change in the mindset/mentality among the population/voters“, wie es am 6. Februar in der Powerpoint-Vorführung einer Veranstaltung über The future of Luxembourg hieß. Die Handelskammer finanziert seit Anfang März die Initiative 2030.lu ambition pour le futur, die aufwändige Veranstaltungen und Meinungsumfragen organisiert, um ihren Wunsch nach einem Wechsel möglichst breit zu legitimieren. Dagegen sehen die Gewerkschaften sehr defensiv aus und verschicken, wie seit Jahrzehnten, schüchtern ihre Wahlprüfsteine.

Schon während der Tripartite-Verhandlungen vor drei Jahren wurde nach einer strategischen Antwort auf die Krise gesucht. Da wollten die Unternehmer nicht mehr bloß die mittelfristige Lohnentwicklung an die Produktivitätsentwicklung anpassen, sondern den weiteren Anstieg der Lohnstückkosten beenden und sie auf das Niveau in Deutschland senken. Denn 28 Prozent aller Exporte gingen nach Deutschland, Luxemburgs Haupthandelspartner. Die unterschiedlichen Produktionskosten verteuerten aber die Luxemburger Produkte auf dem deutschen Markt. Der Unternehmerdachverband UEL forderte deshalb „eine wirkliche Politik der Lohnsenkung und der Lohnmäßigung, eine Erhöhung der Arbeitszeit und eine größere Flexibilität der Arbeit“. Doch die Gewerkschaften spielten nicht mit, die Tripartite sollte es nicht überleben.

Im Februar vergangenen Jahres positionierte sich dann CSV-Finanzminister Luc Frieden während der Journée de l’ingénieur am altehrwürdigen Firmensitz von Arcelor-Mittal. Damals hielt er sich nicht mehr lange beim Index auf, sondern erklärte auch den Mindestlohn und die Renten für zu hoch und fand, dass die Tripartite mangels Effizienz auf das Format eines weiteren Wirtschafts-und Sozialrats zurückgestutzt werden sollte. Doch der christlich-soziale Thronfolger ist nach den Bommeleeërten- und Cargolux-Affären recht kleinklaut geworden.

Vor drei Wochen stellte nun die Fedil, die ehemalige Industriellenföderation, zu der inzwischen auch die Baubranche und die Unternehmensdienstleister gehören, in dem weiträumigen Stahl- und Glasgebäude der Handelkskammer einen tiefblaue Broschüre mit dem Titel Priorité à la croissance et à l’emploi. Message de la Fedil en vue des élections législatives vor. In der Botschaft an sämtliche Politiker heißt es: „Les der­nières années, le coût de l’heure de travail a augmenté bien plus rapidement au Luxembourg que dans ses pays voisins, surtout l’Allemagne. Aujourd’hui le coût de l’heure se compare encore favorablement par rapport à celui de nos pays voisins, mais ceci est dû aux seules charges sociales relativement faibles au Luxembourg. Si l’on tient compte des écarts de productivité, si l’on compare donc les coûts salariaux unitaires, l’écart est en défaveur du Luxembourg. Il explique largement la divergence de compétitivité entre le Luxembourg et l’Allemagne.“ Fedil-Direktor Nicolas Soisson meinte, dass die nächste Regierung, ganz gleich welcher politischen Zusammensetzung, vorrangig Lösungen finden müsse, um die Wettbewerbsfähigkeit, das Wachstum und die Arbeitsplatzschaffung der Unternehmer wieder zu gewährleisten.

Der Unternehmerdachverband UEL, zu dem auch Banken, Versicherungen und mittelständische Betriebe zählen, drückt sich im Vergleich zur von der Exportindustrie dominierten Fedil etwas vorsichtiger aus. Er hatte schon im Juli, unmittelbar nach dem Sturz der Regierung, ein Papier Elections législatives 2013: Les Essentiels de la Compétitivité. Considération de l’UEL à l’adresse des partis politiques zusammengestellt und nach dem Sommerurlaub den Parteien vorgelegt. Die UEL verlangt „une vraie réflexion sur la manière de réduire le coût de l’Etat“, die Abschaffung des Beamtenstatuts und die Desindexierung der Löhne, Renten, Mieten, öffentlichen Ausschreibungen und Verträge. Der gesetzliche Mindestlohn soll den Marktmechanismen unterliegen. Die Ersatzeinkommen bei Arbeitslosigkeit oder Reklassierung sollen im Vergleich zu den Löhnen gesenkt, das Krankengeld verringert und die Lebensarbeitszeit erhöht werden. Der Arbeitsmarkt soll in Schwung gebracht werden „en éliminant les rigidités du droit du travail et en favorisant la mobilité – en entreprise (ex. : faciliter la révision du contrat de travail pour permettre aux travailleurs de bénéficier d’autres expériences en interne) – sur le marché du travail (ex. : revoir les conditions légales de rupture du contrat de travail en prenant en considération la jurisprudence ; faciliter le recours au contrat à durée déterminée au niveau des cas d’ouverture, de la durée, des renouvellements) tout en conservant un niveau élevé de protection sociale.“

In einer den Parteien zugestellten Schrift Pour un changement à hauteur de nos ambitions macht 2030.lu Vorschläge für eine neue Regulierungsweise, die im Grund um eine Verdoppelung der Produktivität bis zum Jahr 2030 kreisen: „Si, ainsi, la croissance future reposait en grande partie sur une plus grande productivité – une meilleure utilisation des ressources techniques, capitalistiques, humaines, in­frastructurelles disponibles – il faudrait une création d’emplois nettement moins importante pour générer une même progression de la richesse produite, tandis que notre empreinte écologique serait allégée.“ Gleichzeitig sollen die Staatsausgaben gesenkt werden, um einen strukturellen Haushaltsüberschuss von einem Prozent jährlich zu erzielen.

Allen Unternehmerorganisationen gemein ist ein wachsendes Interesse an der „Gouvernance“. Das heißt, um die Effizienz der Staatsführung zu erhöhen, soll die Politik sich an Managementtechniken der Privatwirtschaft inspirieren.

Doch geghenüber solchen Herausforderungen reagieren die Parteien eher zurückhaltend. Da der Sozialstaat historisch meist im Mittelpunkt der Wahlen stand, wollen sie es sich mit niemandem verscherzen. Ein kohärentes, wenn auch nicht unbedingt effizientes Angebot macht die LSAP. „Wir müssen wieder wettbewerbsfähiger werden, um mehr Wirtschaftswachstum zu erzielen und so mit wieder höheren Staatseinnahmen den Sozialstaat zu erhalten“, fasst Spitzenkandidat Etienne Schneider die Strategie zusammen, mit der sich alles ändern soll, damit alles beim Alten bleibt. Als Wirtschaftsminister ist er für diese Debatte gut platziert, auch wenn seine Strategie sich im Grunde auf eine wirtschaftliche Diversifizierung in Bio-, Umwelt- sowie Informations- und Kommunikationstechnik sowie Logistik für Geringqualifizierte beschränkt und er die Verwaltungsprozeduren verkürzen will.

Auch die Grünen bemühen sich um ein kohärentes Angebot. Das Wahlprogramm verspricht ihrer spezifisch interessierten Klientel: „Mit grünen Ideen schaffen wir in der Region Arbeitsplätze, die das Auskommen der Menschen sichern, ohne die Umwelt zu ruinieren. Eine ökologische und sozia­le Marktwirtschaft fördert die Vermeidung und Reduzierung des Ressourcenverbrauchs, Recycling und Ressourcenkreisläufe sowie erneuerbare Energien und regenerative Materialien. Sie setzt auch konsequent auf die Stärken unseres Landes und rückt lokale und regionale Märkte und ihre mittelständischen Unternehmen in den Fokus.“

Die DP bietet dagegen in ihrem Wahlprogramm zuerst eine der Unternehmensführung entlehnte Methode an: „Schnell, flexibel, innovativ, effi­zient, transparent, vernetzt, sozial gerecht, solidarisch und nachhaltig. Das sind für uns die Ziele, an denen sich die Politik orientieren muss. Wir wollen diese Ziele allerdings nicht von oben herab dekretieren, sondern sie zur öffentlichen Diskussion stellen und sie in einem offenen Prozess innerhalb eines kurzen zeitlichen Rahmens zu einer demokratischen Entscheidung führen. Anschließend wollen wir, dass die dann festgehaltenen Ziele als Leitbild für sämtliche öffentliche Entscheidungen gelten, von beispielsweise der ‚Tripartite’ bis hin zu Entscheidungen im Parlament, in den Ministerien, Verwaltungen oder öffentlichen Einrichtungen. Wir müssen klare Vorfahrtsregeln schaffen, wenn wir eine wirtschaftliche Dynamik in unserem Land entstehen lassen wollen bzw. den Stillstand und die Blockaden der vergangenen Jahre überwinden wollen. Wir wollen es nicht dabei belassen, Ziele zu formulieren, sondern es geht uns darum, einmal getroffene Abmachungen konsequent und quer durch alle Politikbereiche umzusetzen.“

Dagegen verspricht die CSV den verunsicherten Wählern, dass alles so bleiben kann, wie es ist: „Luxemburgs Wirtschaft baut auf soliden Standortvorteilen auf. Diese werden wir erhalten und absichern. Wir müssen beständig neuen wirtschaftlichen Reichtum schaffen. Wir leben in einem Hochlohnland, das überwiegend vom Export lebt. Deshalb müssen wir hochwertige Produkte und Dienstleistungen anbieten, die in einem globalisierten Umfeld Erfolg haben. Hochschul-, Forschungs- und Innovationspolitik bedeuten Investitionen in die Zukunft des Landes. Die CSV will den Übergang von Hoheitsnischen zu Kompetenznischen vorantreiben. Die Wissensgesellschaft spielt hier eine zentrale Rolle. Wir werden Luxemburg als internationalen Forschungsstandort etablieren.“

Noch etwas konservativer und noch etwas nationaler klingt es zur Rechten der CSV, bei der ADR. Mit dem Unterschied, dass die ehemalige Rentenpartei den automatischen Index „ohne irgendwelche Abstriche“ wieder herstellen möchte und die CSV gnadenlos für eine so nie dagewesene Staatsverschuldung und ein strukturelles Staatsdefizit verantwortlich macht.

Gegenentwürfe werden links von der LSAP angeboten, wobei die Kommunisten vielleicht etwas pauschal feststellen, dass es ihnen nicht darum gehe, „den Kapitalismus zu retten, sondern ihn abzuschaffen. Denn es kann keine Lösung der Krise im Interesse der Schaffenden geben, ohne generell dieses Gesellschaftssystem, das immer wieder Krisen produziert“, abzuschaffen. Weshalb sie sich auf sozialpolitische Forderungen beschränken. Déi Lénk will dagegen einen „öffentlichen Finanzierungspool zur Wirtschaftsentwicklung“ schaffen, Wirtschaft und Industrie diversifizieren und die „Finanzströme im Interesse der Realökonomie verlangsamen“. Sie will die „Wirtschaft zu langfristigen Investitionen verpflichten, unter Strafe der Rückzahlung aller erhaltenen Hilfen und der Konfiszierung und Zwangssanierung der Industriebrachen, verbunden mit der Möglichkeit der Vergesellschaftung“.

Das Wahlprogramm von Jean Colomberas Partei für integrale Demokratie liest sich in Wirtschaftsfragen wie grüne Fundis in den Gründerjahren: „Integrales Denken sieht die Kompetitivität aus einem anderen Blickwinkel. Klassische Messparameter wie Bruttoninlandsprodukt, Produktivität, Investitionen und Inflation genügen nicht mehr, um das Problem in seiner Gesamtheit auszumachen, denn eine Minderung der Arbeitskosten ist keine Lösung für die schwindende Wirtschaftskraft. Die ökonomische Sichtweise steht nicht an erster Position und es geht darum, Arbeit nicht als Ware anzusehen, sondern die Arbeitskultur zu fördern.“

Um sich nicht weiter mit der Komplexität der So­zial­versicherung beschäftigen zu müssen, fordert die Pid, ebenso wie die Piratenpartei, ein bedingungsloses Grundeinkommen. Ansonsten meinen die Piraten ganz rechtsliberal, „dass de Staat dobäi soll hëllefe gutt Konditiounen dofir ze schafen; de Staat sech awer selwer aus der Economie an aus den Investitiounen esouwäit wei méiglech eraushale soll.“ Sie wollen die CSV einsam bei der Deckelung des Index stützen.

Romain Hilgert
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