Mauritius: Ein warmer Regen empfängt uns wie eine zärtliche Dusche. Das Meer ist grün wie in den Piratenfilmen über Somalia

Mark Twain war hier

d'Lëtzebuerger Land vom 02.09.2011

Haben Sie Husten oder Schnupfen? Halsweh? Sind Sie heiser? „Du hast das alles nicht“, flüstert L. mir zu, während wir die Fragebögen ausfüllen, die die Stewadress uns ausgehändigt hat. Ich habe das alles. „Sonst kommst du nicht rein“, sagt L.. Nicht rein? Wir sind gerade dabei, in ein tintenschwarzes Wolkengespinst hinein zu tauchen, das aussieht, als hätten feindliche Tintenfische es in den morgenlila Himmel hineingespien, um den großen Vogel in die Flucht zu jagen. Das tintenschwarze Gespinst lungert über dieser winzigen, grünen Portion Erde im großen, grünen Ozean. Nicht rein? Schnupfengulag? Zurück in den Norden? „Die Mauritianer wollen ihre Insel sauber halten“, sagt L., Mauritius- Profi und Ärztin, ungerührt. Im Flugzeug ist beim Ausfüllen der Fragebögen ein Husten- und Schneuzkonzert ausgebrochen. Schon vor Jahrhunderten mussten Schiffe, die die Insel ansteuerten, endlose Quarantänen auf sich nehmen, lese ich später.

Ich komme aber rein. Mauritius. Ein warmer Regen empfängt uns wie eine zärtliche Dusche. Dazu Vogel-Concerto und „Willkommen!“ wedelnde Palmen.

Buddha lächelt unter den Bäumen. Eine fette Mango plumpst ins Gras. Winzige rote, gelbe, grüne Vögel picken ihr Picknick auf, das die Pensionschefin großzügig täglich spendiert. Abends um fünf kommen sie zum Lunch angepiepst. Ich streiche die hausgemachte Marmelade aufs Brot. Schokokokos, Banane oder das aus dunkelroten, bitterherbsüßen Beeren hergestellt Bilibisi? Auch die Moskitos, guten Morgen, erscheinen pünktlich zum Frühstück.

Dunkle, schwere Möbel wurzeln. Indonesisch, mauritianisch? Nein, Luxemburgisch. 10 000 Meilen von zuhaus verlieren düstere Kommoden und Anrichten mit Grosbous- und Schieren-Flair in der Nachbarschaft tänzelnder Hindugöttinnen und bunter, kräftiger und zugleich schwebender Bilder, die die Chefin, eine luxemburgische Künstlerin, gemalt hat, ihre Schwerkraft und gehorchen dem fremden Zauber.

Was, Ananas schießt aus der Erde? Ananasköpfe-Queen of Ananasien – grün gekrönt zu meinen Füßen. Die Tumore in den Palmenschößen heißen Kokosnuss und Mango. Die pechschwarze, bittere Frucht der essbaren Orchidee ist gar nicht so, wie Dr. Öthker lehrte. Vanille ist das teuerste Gewürz der Welt, weil BefruchterInnen mühsam ihres Amtes walten. Schokolade? Zucker? Kaffee? Reis? Tee? Was gedeiht nicht auf dieser mütterlichen Insel? Wein gibt es kaum, nur teuren aus Südafrika – ein Mini-Wermutstropfen.

Alles fließt. Der Schweiß, das Wasser vom Himmel, das Meer. Ich schwimme im Schweiß, im Meer, im Himmel. Es ist März, Ende des Sommers. Die dunkelhäutigen Kreolinnen und Hindufrauen schützen sich mit einem Regenschirm vor der Sonne. Nur die grauhäutigen Touristinnen sind Sonnensklavinnen. Bald kommt die Regenzeit mit Stürmen und geknickten Palmen. Der Zyklonbunker wartet schon. Aber der Zyklon überlegt es sich anders und kratzt eine elegante Kurve über dem Ozean.

Es gibt keine bösen Tiere. Es gibt keine Tiger, Schlangen, Zecken. Nur die keck klickenden Zimmergeckos, die Ochsenfroschchöre, die nächtlich heulenden Hundegangs. Es gibt keine schlimmen Krankheiten. Niemand muss sich impfen lassen. Naja, an Chickungunya kann man schon mal sterben, ausnahmsweise.

Das Meer ist grün wie in den Piratenfilmen über Somalia. Der Indische Ozean. Er ist mir eine oder viele Nummern zu groß. Kein kindischer Ozean, keine gemütliche Adria. Auch die Einheimischen schwimmen nur wenige Meter hinein. Hai? Kommt schon mal vorbye! Tsunami? Der Liegestuhl bebt. Ich kontrolliere den Horizont, die ewige, weiße Schaumkrause über dem Korallenriff. Am Abend lese ich in der Mauritius Times, dass es ein Seebeben nahe der winzigen Nachbarinsel Rodrigues gab. Es kann jederzeit zu einem Tsunami auf Mauritius kommen, sagt Ozeanologe Kuppaymuthoo.

So groß wie Luxemburg, circa. Musterländchen, aufstrebend, ehrgeizig, bienenfleißig. Mini-Schweiz, nicht weit von Afrika. Hier tanzt Mama Afrika nicht. Hier wird gearbeitet. Die Mauritianer gehen mit den Hühnern, die sie so gern essen, schlafen und stehen mit ihnen auf. Afrika? Da runzeln die Einwohner die Stirn. Zu welchem Kontinent gehört Mauri-tius? Zum Kontinent des Kapitals? Gewaltige Einkaufszentren und IT-Buildings entstehen. Die Chinesen haben ihre Finger längst im Mauri-tius-Monopoly. Banken, Cyber-Insel, boomender Tourismus. Die Strände auf Mauritius sind öffentlich. Aber auf ein paar Eilanden widmen sich Rosenwasserbesprengerinnen und Sonnenbrillenputzmänner exklusiv dem idealen, megareichen Gast.

Kapitalistisches Musterland, Sozialstaat? Spar-Filialen mit europäi-schen Preisen, das Monatsdurchschnittsgehalt aber höchstens um 200 Euro. Gesundheitswesen gratis wie auf Kuba, aber wehe, es wird Ernst! Dann schnell mit reichlich Cash zum Privatarzt!

Ein großer, rührend plumper Vogel, der nicht fliegen kann, grüßt von T-Shirts, Badetüchern, Postkarten. Der Dodo. Ausgerottet, stieg er zum Wappen- und Kuscheltier auf. Die menschenleere Insel wurde von den Portugiesen entdeckt, von Holländern und später Franzosen besiedelt. Ideale Homebase für Piraten. Kolo-niale Massaker gab es aber auf der „Isle de France“ nie. Eine gute Voraussetzung für den sozialen Frieden unter den Bevölkerungsgruppen der seit 1968 selbständigen Insel. Zwei Drittel stammen von Indern ab, die nach den Aufständen der schwarzen Sklaven nach Mauritius kamen, um auf den Zuckerrohrplantagen zu malochen. Eine elitäre Minderheit von französischstämmigen Weißen. Der Rest Kreolen und zwei Prozent Chinesen. Amtssprachen und Zeitungssprachen Englisch, Französisch, Umgangssprache Kreolisch, das wie ein exotisch gewürztes Kinderfranzösisch klingt.

Port Louis. Aus dem sterilen White Collar Centrum in die Affenhitze des Basars, wo Bettler uns empfangen und siebenarmige Händler uns umgaukeln. Im chinesischen Viertel sehe ich keinen einzigen Chinesen, aber die allerwichtigste Moschee des Landes.

Hindutempel an jeder Straßenecke mit ihren zuckergussfarbenen Geisterbahngöttern und -göttinnen. Die steinerne Kuh vor dem Tempel zeigt unbeteiligt ihr Hinterteil. Gegen-über das christliche Kirchlein, die meist bescheidene Moschee. Unweit vom Heiligen See der Hindus lächelt ein Shiva, überdimensional wie die Statue eines nordkoreanischen Diktators, über Autobahn und Baumwipfel. Die Christen haben ihren Insel-Heiligen, Père Laval, Priester der Sklaven und Schwarzen, dem auch Moslems und Hindus huldigen. Mini-Utopolis, in der der Weltfrieden der Hautfarben und Religio-nen geübt und ausgeübt wird?

Eine Gruppe von behinderten Kindern mit BetreuerInnen am Strand. Ein großer Junge trabt einer Frau hinterher, hält sich an ihrem Sari fest. Die Frau geht, steht, sitzt mit dem Jungen, der sich beharrlich an sie klammert. Sie wird keinen Moment unwillig, lässt ihn und verlässt ihn nicht. Der entspannte und selbstverständliche Umgang mit den behinderten Kindern, der von Respekt zeugt, die Fröhlichkeit der Gruppe sind beglückend. Weit und breit kein ErzieherInnenstress, keine Hysterie, kein TherapeutInnenterror.

„Je suis le malaimé“, singt Claude Francois im Auto von Shyam, dem Pensionschauffeur. Shyam liebt französische Chansons, vor allem Claude François, bei dem er aus voller Kehle und vollem Herzen mitsingt. Immer wieder schimmert durch die rote Erde und das üppige Grün das schwarze Skelett der Insel durch, der magische Vulkanstein. Wir fahren über endlose Hauptstraßen – Mauritius ist mit mehr als einer Million Einwohner ziemlich bevölkert – in denen alles Mögliche und Unmögliche feil gehalten wird. Auch Maulaffen. Ein finsterer, vollgestopfter Laden reiht sich an den anderen. Hier schaut es gar nicht wirtschaftswundersam aus. „Blanche Neige“ steht über dem staubblinden Fenster einer Wäscherei.

Wir tuckern mit dem einfachen Fischer im gar nicht touristischen Fischerboot zur gar nicht touristischen Weihwasserbecken-Insel. Von Zeit zu Zeit tuckert ein gar nicht touristisches Fischerboot heran, und die Paradiesinsel wird erneut von Touristen, die keine Touristen sein wollen, entdeckt, während freundliche, aber diskrete Einheimische Tischlein-deck-dich im Urwäldchen spielen. Zwischen den Palmen taucht ein schwarzes Mädchen, das mit seiner quadratischen, rosa Plastikbrille wie eine New Yorker Kunststudentin ausschaut, auf und verhökert mir, die ich gelähmt bin vor paradiesischem Entzücken, ein Gewand in himmelschreienden Farben, das kurz darauf nur noch ein Acrylfetzen ist, der in seine Bestandteile zerfällt.

Mauritius sei vor dem Paradies da gewesen, das Paradies Mauritius nachempfunden. Mark Twain als posthumer Werbeträger auf allen Internet-Portalen, in allen Prospekten. Nur: Das ist ein Zitat. Mark Twain erschien „die Insel … sehr hübsch in ihrer Art, doch fehlt ihr das Erhabene, Großartige, Geheimnisvolle, … der Gesamteindruck ist reizend, aber nicht überwältigend.“

Schatzinsel, auf der Besessene nach Piratengold graben. Schwarzer Fluss. Blaue Bucht. Goldpuder. Kap des Unglücks. Schöner Schatten. Affeninsel. Hirscheninsel. Pomponette. Berge, die „Daumen“ oder „Der öde Brabanter“ heißen. Als hätten Kinder sie erobert, als hätten Kinder sich Namen ausgedacht für all die Quellen, Palmenhaine, Wasserfälle, für die „kleinen Berge mit spielzeugartigen Klippen“, wie Mark Twain schrieb.

Paradies, wie Mauritius nicht müde wird, sich selbst zu nennen? Paradies, wie die von so viel Harmonie betörten Touristen schwärmen, die hier tauchen, schnorcheln, à la Hindu heiraten? Das Paradies gehört zu 90 Prozent den Franko-Mauritiern, die Hotellerie und Zuckerindustrie kontrollieren. Die Nachfahren indischer Kulis bilden den soliden Mittelstand, für die Kreolen bleiben die Underdog-Jobs.

Ein Kinderland, in dem noch alles möglich ist? In dem es ein grünes Meer gibt und grüne Palmen, einen Götterzirkus, einen guten Jesus, ein heiliges Buch mit dem biedersten Liebespaar der Welt, freundliche Eingeborene, chinesische Investoren, schrullige Schatzsucher, zahlungskräftige Touristen, die keinen Schnupfen haben.

Michèle Thoma
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