Bei den Europawahlen am Sonntag „kamen die drei früheren Regierungsparteien zusammen auf 52 Prozent“, rechnete der LSAP-Europaabgeordnete Marc Angel am Montag im RTL-Radio vor. Und fügte hinzu: „CSV und DP brachten es nur auf 41 Prozent.“
Eigentlich wollte er damit in der Runde der sechs gewählten Abgeordneten Fernand Kartheiser von der ADR klarmachen, dass es in Luxemburg „noch immer eine ziemlich progressive Mehrheit“ gebe und im Unterschied zu Deutschland und Frankreich „die Regierung nicht desavouiert“ worden sei. Den Hinweis, dass die schwarz-blaue Koalition doch ein klein wenig desavouiert wurde, konnte Angel sich aber nicht verkneifen. Immerhin war es die LSAP, die am Sonntag so viel hinzugewann, wie keine andere Partei: 9,53 Prozentpunkte gegenüber den Europawahlen von 2019. Ihre 21,72 Stimmenprozent reichten zwar nicht für einen zweiten Sitz in Straßburg, aber für den zweiten Platz hinter der CSV. Mehr noch: Die Sozialisten sind den 22,91 Prozent der Christlichsozialen mit nur 1,19 Prozentpunkten Unterschied sehr nahegekommen. So nahe, dass Angels Rechenbeispiele eine Reihe interessanter Fragen aufwerfen. Etwa die, ob die CSV mit ihrem Resultat vom Sonntag zu einer ganz normalen Partei geworden und ihre Vormacht als Volkspartei hiermit Geschichte ist.
Leicht zu beantworten ist diese Frage nicht. Europawahlen haben zwar immer auch einen nationalen Aspekt. Der dadurch verstärkt wird, dass sie seit 2014 rund acht Monate nach Kammerwahlen stattfinden und ungefähr ein halbes Jahr nach der Bildung einer neuen Regierung. Hat die regierende Mehrheit gewechselt, wie 2013 und 2023, sind die Europawahlen ein Test für die neue Koalition.
Doch andererseits wurde der Wahlgang vom Sonntag noch mehr als die Wahlgänge von 2014 und 2019 als „Schicksalswahl“ für die EU beschworen. Als Entscheidung für oder gegen Demokratie und Rechtsstaat. Für eine handlungsfähigere Union oder für Kleinstaaterei. Für oder gegen den Green Deal. Die Aufzählung ließe sich noch fortsetzen. Dass die Wähler/innen das berücksichtigten, ist anzunehmen, mag Luxemburg auch nur sechs Abgeordnete ins Europaparlament entsenden. Außerdem ist bei Europawahlen die Wählerbasis breiter, denn in Luxemburg lebende Ausländer/innen können sich einschreiben. Wobei hinzuzufügen ist, dass die Wahlbeteiligung stetig abnimmt. Bei den Europawahlen 2014 gaben 85,55 Prozent der eingeschriebenen Wähler/innen einen Wahlzettel ab. 2019 taten das 84 und am Sonntag 82,28 Prozent. Als Weigerung, an einer Testwahl der nationalen Politik teilzunehmen, lässt sich das weniger deuten als eine Ablehnung der EU, wie sie funktioniert.
Der einzige wissenschaftliche Beitrag, den man dazu zu Rate ziehen könnte, ist die Umfrage Polindex 2024 der Forschungsgruppe um den Politologen Philippe Poirier von der Universität Luxemburg. Diesen Mittwoch machte Poirier sie publik. Doch Polindex 2024 wirft viele weitere Fragen auf. In der repräsentativen Stichprobe, die zwischen dem 15. und dem 29. Mai befragt wurde, stimmten beispielsweise 33 Prozent sowohl der Luxemburger/innen als auch der ansässigen Ausländer/innen der Aussage zu: „En démocratie, rien n’avance, il vaudrait mieux moins de démocratie mais plus d’efficacité.“ Polindex hebt dazu eine wachsende Zustimmung unter den Luxemburger/innen hervor: 2018 habe sie nur 21 Prozent betragen.
Worin sich vielleicht nicht der Wunsch nach einem autoritäreren Regime ausdrückt. Oder zum Teil: Denn wenn gleichzeitig eine Mehrheit von 79 Prozent in beiden Gruppen die Demokratie als „quand même mieux que n’importe quelle autre forme de gouvernement“ einschätzt, sind zehn Prozent der Luxemburger und acht Prozent der Ausländer dieser Ansicht nicht. Und wenn 73 Prozent der Luxemburger sowie 64 Prozent der Ausländer die Demokratie für „le meilleur système possible“ halten, vertreten 14 Prozent der Luxemburger und 18 Prozent der Ausländer die gegenteilige Auffassung. Auf die Frage, welche politische Partei, die zu den Europawahlen antrat, am ehesten imstande wäre, die wichtigsten Probleme Luxemburgs zu lösen, antworteten 29 Prozent der Luxemburger und 39 Prozent der Ausländer „keine“. Deutlich mehr als die 20 Prozent der Luxemburger und die 13 Prozent der Ausländer, die das der CSV zutrauen. Die anderen Parteien schneiden noch schlechter ab. Die Arbeit der CSV-DP-Regierung schätzt nach sechs Monaten Amtszeit nur jeder zweite Befragte „positiv“ ein.
Bedenkt man all das, kann man sich fragen, weshalb am Sonntag die Wahlverweigerung nicht größer ausfiel. Aber vielleicht trafen viele ihre Wahlentscheidung kurzfristig. 36 Prozent der für Polindex Befragten wussten eine Woche vor dem Wahltermin noch nicht, wer ihre Stimme erhalten würde. Was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass ein Drittel der Luxemburger in der Stichprobe angab, sein aktueller Gemütszustand entspreche vor allem „bien-être“, je ein weiteres Drittel nannte „méfiance“ und „lassitude“. Unter den Ausländern waren die beiden letzten Beschreibungen die an erster Stelle Genannten.
Falls Misstrauen und Müdigkeit tatsächlich so verbreitet sind, wie die Befragung ergab, dann könnten die Wahlentscheidungen vom Sonntag, was die EU betraf, davon geprägt gewesen sein, nicht wesentlich anders zu wählen als 2019. Weil einerseits verstanden wurde, dass für die EU viel auf dem Spiel stand, andererseits keine wirklichen Alternativen angeboten wurden – abgesehen vom „Europa der Nationen“ der ADR mit freiem Markt, scharfen Grenzkontrollen, Asylprozeduren außerhalb der EU und Verteidigung christlicher Kultur.
Das Votum der Vorsicht brachte abgesehen von Fernand Kartheiser Kandidat/innen ins Europaparlament zurück, die dort schon waren; auch der Erstgewählte auf der CSV-Liste, Christophe Hansen, war bis vergangenen Herbst Europaabgeordneter. Die Parteien versuchten, die Wähler/innen in ihrer Ratlosigkeit abzuholen. Die CSV mit einer „starken Stimme“, die LSAP mit einem „starken Herz“, die ADR mit einem „starken Luxemburg in Europa“. Die DP versprach „Schutz“, die Grünen „für dich“ da zu sein. Dass Fokus verlangte: „Europa muss liefern!“ verstörte am Ende womöglich mehr, als überzeugen zu können. Wenn 44 Prozent der Wähler/innen (laut Polindex) meinen, dass die EU das Luxemburger Sozialmodell bedroht, dann wollen sie im Europaparlament lieber keinen haben, der die EU provoziert, sondern Leute, bei denen sie ihre Interessen gut aufgehoben meinen können. Und wieso nicht bei Nicolas Schmit, dem EU-Sozialkommissar von der LSAP. Dass sie am Sonntag so viel hinzugewann wie keine andere Partei, lag vielleicht auch daran, dass viele Wähler/innen davon ausgingen, eine Listenstimme für die LSAP stärke den Spitzenkandidaten der EU-Sozialisten. Und ganz aus dem Rennen um einen hohen Posten ist Schmit vielleicht noch nicht. Premier Luc Frieden erklärte zwar am späten Wahlabend, das Christophe Hansen gemachte Kommissar-Versprechen gelte weiter. Als Spitzenkandidat habe Schmit sich um die Präsidentschaft der EU-Kommission beworben, die nun aber ganz wahrscheinlich erneut an Ursula von der Leyen gehe. Aber wer weiß: Sollte die sozialistische Fraktion im Europaparlament im Koalitionspoker mit der EVP ein Amt für ihren Spitzenkandidaten reklamieren, könnte es für Luc Frieden schwierig werden, das nicht zu unterstützen.
Mit Ausnahme der ADR boten alle anderen größeren Parteien – und Fokus – Kandidat/innen mit europapolitischer Erfahrung auf. Sowie aktive oder ehemalige Kammerabgeordnete; LSAP und Grüne mit Franz Fayot, Mars Di Bartolomeo und François Bausch sogar ehemalige Minister. Ein wenig erinnerte das an die Zeit bis 2004, als Kammerwahlen und Europawahlen zeitgleich stattfanden und große Teile der Regierungsmannschaft für beide Parlamente kandidierten. Das zahlte sich aus: Bei den Europawahlen 2004 räumte CSV-Premier Jean-Claude Juncker 41 455 persönliche Stimmen ab. Das war jede neunte der 403 370 Gesamtstimmen seiner Partei, die damals 37,13 Prozent errang. Dass Juncker es vorzog, in der nächsten Regierung sein eigener Nachfolger zu werden, statt sich in die EVP-Fraktion des Europaparlaments einzureihen, erstaunte niemanden. Der 2004 auf der CSV-Europaliste zweitplatzierte Finanz- und Justizminister Luc Frieden hielt es genauso. Die Minister des damaligen Koalitionspartners DP auch, und vor ihnen LSAP-Regierungsmitglieder ebenfalls.
Zum Glück blieb LSAP und Grünen am Sonntag das Szenario erspart, dass Franz Fayot oder Mars Di Bartolomeo besser als Marc Angel gewählt worden wären oder François Bausch besser als Tilly Metz. Di Bartolomeo wurde Dritter hinter Angel und der Kammerabgeordneten Liz Braz. Fayot wurde Fünfter hinter Di Bartolomeo und Angels Ko-Spitzenkandidatin, der Rambrucher Gemeinderätin Danielle Filbig. Bausch wurde Zweitgewählter hinter Tilly Metz.
Starke Listen für die Europawahlen aufzustellen, war eine größere Herausforderung für die Parteien. Die CSV fand – abgesehen von Christophe Hansen natürlich – keine Stimmenfänger in ihrer Kammerfraktion. Die DP griff auf den Abgeordneten Gusty Graas zurück, den 2023 Drittgewählten auf ihrer Südliste hinter Max Hahn und Claude Meisch. Um den auf ihrer Europaliste 2019 so erfolgreichen RTL-Star Monica Semedo mehr als nur zu ersetzen und vielleicht den zweiten Sitz zu verteidigen zu können, stellte sie Europa-Urgestein Charles Goerens die junge Lehrerin Amela Skenderovic als Ko-Spitzenkandidatin zur Seite und beiden mit Jana Degrott noch eine weitere smarte junge Frau. Auch wenn die Stimmenzahl am Ende nicht für die Verteidigung des zweiten Sitzes reichte, gelang es der DP auf jeden Fall, politischen Nachwuchs zu fördern. Die LSAP – lange ein Altherrenverein – schaffte das mit der Zweitgewählten Liz Braz und der Viertgewählten Danielle Filbig auch. Ebenso die Grünen mit Fabricio Costa, dem Drittgewählten hinter François Bausch. Vierte wurde Ko-Parteipräsidentin Djuna Bernard.
Die Grünen feierten den ihnen erhalten gebliebenen Sitz besonders ausgelassen. Die Polindex 2024-Umfrage, die mit ihrer Stichprobe auch Wahlprognostik betrieb, sagte der Partei nicht nur ein knappes Rennen um einen Restsitz mit der ADR voraus. Sondern auch Verluste durch Wählerwanderungen. Für die DP traf die Studie eine ähnliche Vorhersage. Am Ende überholten die Grünen die ADR nach Stimmen. Sie errangen 106 mehr, was sich im Prozentergebnis nicht mal in den Hundertsteln bemerkbar macht. Doch Tilly Metz erklärte tapfer: „Wir wurden die viertstärkste Partei.“
Weil die Grünen in der Kammer nur die Fünftstärksten sind, ist Gelegenheit, auf den nationalen Aspekt der Europawahlen zurückzukommen. Und auf Marc Angels Bemerkung, CSV und DP hätten nur 41 Prozent der Stimmen errungen. Bei den Wahlen im Oktober kamen sie gemeinsam auf 47,91 Prozent. 29,21 Punkte steuerte die CSV bei, 18,7 Punkte die DP. Verglichen damit, büßte die DP, die am Sonntag 18,29 Prozent erzielte, 0,41 Punkte ein. Die CSV hingegen verschlechterte sich gegenüber dem Oktober um 6,3 Punkte.
2019 hatte die DP zum ersten Mal in ihrer Parteigeschichte die CSV bei Europawahlen knapp überflügelt. 21,44 Prozent errang sie damals, die CSV 21,1 Prozent. Doch während die DP sich 2019 um 6,67 Punkte gegenüber 2014 verbessert hatte, war die CSV von ihrem Rekordergebnis 37,65 Prozent um 16,55 Punkte abgestürzt. Am Sonntag verlor die DP 3,15 Punkte im Vergleich zu 2019. Ihre 18,29 Stimmenprozent sind 3,43 Punkte weniger, als die LSAP errang.
Sowas könne passieren, „ein historisches hohes Resultat wie 2019 kriegt man nicht immer“, wiegelte Charles Goerens am Montag in der RTL-Runde ab. Lägen DP, CSV und LSAP „vier bis fünf Prozent beieinander, ist das ein Anzeichen von ausbalancierten Verhältnissen“. Doch angesichts von nur 50 Prozent Zustimmung im Polindex für die Arbeit der Regierung, bei allem Misstrauen und aller Skepsis, welche Partei es schaffen könnte, die wichtigsten Probleme des Landes zu lösen, können die Resultate von CSV und DP am Sonntag ohne weiteres auch eine Bestrafung der Regierung gewesen sein. Für Luc Frieden, der erst am Dienstag mit dem état de la nation wieder stärker in Erscheinung trat. Für Xavier Bettel, der dabei ist, sich ähnlich vom Land zu entfernen, wie Jean Asselborn. Worauf Polindex ebenfalls hindeutet, sind Wählerwanderungen weg von der DP hin zu LSAP und Grünen. Falls das mehr ist als eine Prognose aufgrund einer Stichprobe, hieße es für die DP, dass sie dabei ist, an Profil zu verlieren. Von der linksliberalen Partei mit dem „Klimapremier“ zum Juniorpartner der Partei des Generaldirektors. Wie sie an der Seite der CSV unter die Räder kommen kann, erlebte die DP bei den Kammerwahlen 2004.