Maisons relais

Wunsch und Wirklichkeit

d'Lëtzebuerger Land vom 26.03.2009

Es vergeht kaum ein Monat, in dem Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) nicht zu einer Einweihung oder Erweiterung einer Kinderbetreuungsstätte eilt. 13 400 konventionierte Betreuungsplätze, so lautet die Zwischenbilanz fast vier Jahre nach Verabschiedung des Maison-Relais-Gesetzes. In den kommenden zwei Jahren soll die Zahl noch einmal um 7 200 Plätze steigen. Kein Wunder, dass die Ministerin kaum eine Gelegenheit auslässt, um von ihrer „Success story“ Maisons relais zu erzählen. 

Nun kommt dazu ein Handbuch auf den Markt. Auf rund 360 Seiten äußern sich Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Politik und Praxis über Maisons relais und deren Ziele. Das Handbuch, das am Montag vorgestellt werden soll und dem Land vorliegt, sei als Nachschlagewerk gedacht, das die Akteure im Betreuungssektor anregen will, sich „mit den angesprochenen Fragen auseinanderzusetzen, kritisch zu bewerten, mutig zu entscheiden und Lösungen kreativ umzusetzen“, heißt es im Vorwort der Ministerin. Ein Regelwerk mit vorgefertigten Rezepten sei es aber nicht. Genau das ist das Problem. Der Wälzer liest sich wie eine Loseblattsammlung teils sich ergänzender, teils sich widersprechender Auffassungen und Anregungen rund um das Thema Kinderbetreuung. Von soziologischen Abhandlungen über die Vereinbarkeitsproblematik und den Wandel der Familienformen, über politische Beiträge einer engeren Kooperation von Schule und Maison relais oder der Einführung von Ganztagsschulen bis hin zu Erfahrungsberichten aus Tagesstätten reicht die Palette. Da sinniert ein Architekt über den Raum als „dritten Erzieher“ und das Verhältnis von Pädagogik und Architektur. Eine Soziologin thematisiert Stellenwert und Umgang mit kulturellen und Geschlechter-Differenzen in der Betreuung, ein Direktor preist das prima Konzept seiner Foyers scolaires, die er neuerdings dann eben Maisons relais nennt. 

Auch die Frage nach der Qualität der Erziehung wird erörtert, wenngleich unterschiedlich fundiert. So optieren Erzieherinnen aus Junglinster bei Kleinstkindern zwischen 0 und 3 Jahren für einen Personalschlüssel von eins zu fünf, also einer Erzieherin auf fünf Kinder, um „Gruppenaktivitäten und individuelle Zuwendung in einer angenehmen Atmosphäre zu gestalten“, während zwei Psychologinnen unter Berufung auf die Fachliteratur einen Betreuungsschlüssel von eins zu drei für unverzichtbar halten. Und während die einen die Kontinuität der Bezugspersonen und stabile Gruppen als A und O für eine hohe pädagogische Qualität ausmachen, plädieren andere für eine weit reichen­de Flexibilisierung des Betreuungsangebotes im Sinne der berufstätigen Eltern. Kurzum, ein Sammelsurium aus Ansichten und fachlichen Erwägungen ohne roten Faden, von denen jeder nehmen kann, was er für opportun hält. 

Das wäre nicht weiter schlimm, würde es sich nur um theoretische Ergüsse handeln. Doch ähnlich unstrukturiert wie das Handbuch ist die Luxemburger Betreuungs-Wirklichkeit. Auf Drängen des schwarzen Koalitionspartners wurden die Dienstleistungsschecks noch schnell vor den Wahlen durchgedrückt – mit drastischen Folgen für die Gemeinden und das Betreuungs-angebot, das schon jetzt aus einem Wirrwarr aus Maisons relais, Foyers scolaires, Foyers de jours, Crèches und Garderies besteht. Unter dem Ansturm der Eltern, die ihre Kinder einschreiben wollen, verschärft sich der Druck auf die Gemeinden. „Wir werden strukturelle Engpässe bekommen. Unsere jetzige Struktur ist schon zu klein“, warnt ein Beamter einer kleinen Nordgemeinde. Auf Turnhallen oder Kulturzentren ausweichen, wie es das Gesetz für eine Übergangszeit erlaubt und es mehrere Gemeinden praktizieren, will man dort nicht. Dafür treibt man den Bau der geplanten Maison relais umso energischer voran. 

Da wartet das nächste Problem. „Es ist schwierig, gut ausgebildete Erzieher zu finden, die bereit sind, weniger als 20 Stunden wöchentlich zu arbeiten“, so ein Mitarbeiter aus Differdingen. Weil viele Eltern ihre Kinder nur fürs Mittagessen anmelden, befinden sich zur Mittagszeit mit einem Schlag 100 bis 200 Kinder in einer Einrichtung. Nervenaufreibend für Kinder und für das Personal – und kontraproduktiv für die pädagogische Arbeit. Es gibt Erzieherinnen, die ihren Job in einer Einrichtung mit Elan begannen, um nach kurzer Zeit frustriert wieder das Handtuch zu werfen, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht länger ertragen haben. Nicht selten springen Hausfrauen ein. Um die Betreuungsqualität nicht zu gefährden, hat die Stadt Luxemburg angekündigt, in einer ersten Phase bevorzugt Kinder von berufstätigen Eltern anzunehmen, die eine ganztägige Betreuung wünschen. Von rund 12 000 Kindern mit Anrecht auf einen Betreuungsplatz, sind dort derzeit aber lediglich etwa 4 500 eingeschrieben. Das erschwert die Planung, zudem fürchten die Verantwortlichen Reklamationen: Wenn Eltern, die ihre Schecks nicht abgeholt haben, höhere Tagessätze bezahlen müssen. Andere Eltern klagen schon jetzt darüber, dass verheiratete und gepacste Paare bei der Berechnung benachteiligt sind, weil ihnen beide Gehälter als Einkommen angerechnet werden. 

Es sind Nöte und Pannen wie diese, welche die Grünen und die DP warnen ließen, die Einführung der Dienstleistungsschecks sei übers Knie gebrochen und gefährde den Aufbau einer qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung. Dass die Einrichtungen nicht „zu lieb-, geist-, und seelenlosen Horten verkümmern“ dürfen, findet auch die Familienministerin. Und verschweigt zugleich, dass ihr Gesetz von 2005 erst die Grundlage geschaffen hat, die bestehende Qualität zu unterminieren, weil mehr niedrig qualifiziertes Personal in die Kinderbetreuung gelangt. Allgemein verbindliche Qualitätsstandards fehlen weitgehend, ebenso unabhängige Kontrollen; es bleibt den Trägern und Gemeinden überlassen, eine „gute“ Betreuung zu definieren. 

Die Familienministerin aber verteidigt ihre laxistische Politik. Sie habe bewusst darauf verzichtet, „im Rahmen der Zulassungsbestimmungen zu viele und zu rigide Vorschriften zu erlassen“. Der „Innovationsgeist“ sei „ganz wesentlich Bestandteil des jetzigen Konzeptes der MRE“, schreibt sie im Handbuch. Und die „Vielfalt der real verwirklichten Modelle“ kein Fehler, sondern im Gegenteil „ein Erfolg versprechender Glücksfall“. Na, dann ist ja alles gut.

Ines Kurschat
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