Wahlprognosen

Grobe Irreführung

d'Lëtzebuerger Land vom 19.10.2018

Im Vergleich zum Ergebnis der Kammerwahlen am Sonntag grenzen die während der gesamten Legislaturperiode von Luxemburger Wort und RTL veröffentlichten Wählerbefragungen und vor allem die letzte am 15. Juni publizierte an grobe Irreführung und übertreffen wahrscheinlich noch die am 6. Mai 2015 veröffentlichten Fehlprognosen über den Ausgang des Referendums vom 7. Juni des gleichen Jahres.

Seit dem Frühjahr 2014 kündigten die Wahlprognosen der Marktforschungsfirma TNS-Ilres alle sechs Monate an, dass die DP/LSAP/Grüne-Koalition ihre parlamentarische Mehrheit verliere. Zuletzt, vier Monate vor dem Wahlgang, prophezeiten sie der Regierung 26 Mandate und einen Verlust von sechs Abgeordneten. In Wirklichkeit hat die Regierung nun 31 Sitze und damit weiter eine Mehrheit. Der DP und den Grünen waren jeweils zwei Mandate, der LSAP ein Mandat zu wenig vorhergesagt worden.

Gleichzeitig bescheinigte die Sonntagsfrage von Luxemburger Wort und RTL der CSV noch im Juni einen Gewinn von drei Sitzen. Nun hat sie deren zwei verloren. Das macht eine Fehlleistung von fünf Mandaten aus. Im Laufe der Legislaturperiode berichteten die Wählerbefragungen von einer wachsenden Anzahl an CSV-Sitzen bis zuletzt 29, so dass mancher treue Leser sich schon fragte, ob die Rechtspartei zum zweiten Mal in ihrer Geschichte die absolute Mehrheit erreichen würde.

Es ist durchaus nachvollziehbar, dass die Koalition mit ihrem Sparpaket und ihrem Referendum bis zur Mitte der Legislaturperiode an Sympathie verlor und die CSV deren gewann. Dass der gewaltige Unterschied aber noch vier Monate vor den Wahlen bestand und die Wähler, als sie im Sommerurlaub am Strand dösten, ihre Meinung derart radikal änderten, ist eher unwahrscheinlich.

Im Vergleich dazu gehört die Überbewertung der ADR um ein Mandat zum Standard aller Sonntagsfragen (d’Land, 15.6.2018). Auch déi Lénk schnitt um einen Sitz schlechter ab, als vorhergesagt, während die Marktforscher den Einzug der Piraten ins Parlament verschliefen.

Diese Fehlleistungen rücken die Frage, weshalb Luxemburger Wort und RTL nach dem 15. Juni keine Sonntagsfrage mehr veröffentichten, in ein neues Licht. Denn das Parlament war dem Marktforschungsgeschäft durch die Gesetzesreform vom
14. Dezember 2015 so weit entgegengekommen, dass nunmehr die Veröffentlichung von Wählerbefragungen bis sechs Tage vor einem Wahlgang zulässig ist.

Als Wahlprognosen verstandene Wählerbefragungen dienen dazu, die Wahlen zu beeinflussen und Zeitungspapier zu verkaufen. In diesem Rummel fällt kaum auf, dass die Erhebung oder zumindest Veröffentlichung von Wählerumfragen beim Verlassen der Wahlkabinen eingestellt wurde. Denn mit ihnen ließen sich in der Vergangenheit wertvolle Einblicke in die soziale Zusammensetzung der Wählerschaft der Parteien und über in Wählerverschiebungen zwischen den Parteien gewinnen.

Romain Hilgert
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