Luxemburg und sein Wirtschaftswachstum

Das Geheimnis des Erfolgs

d'Lëtzebuerger Land vom 08.02.2001

Mit achteinhalb Prozent Wirtschaftswachstum konnte Luxemburg letztes Jahr die Volksrepublik China neidisch machen und hätte keine Schwierigkeiten gehabt, um in den Verein der längst nicht mehr so wilden asiatischen Tigerstaaten aufgenommen zu werden ­ auch wenn der Vergleich mit einem Goldhamster näher liegt.

Und während in den USA das schreckliche "R-Wort" die Runde macht, und die OECD in ihren jüngsten Prognosen für 2001 keine 3,1 Prozent, sondern nur noch 2,5 Prozent Wachstum in der Europäischen Union erwartet, verspricht das statistische Amt des Wirtschaftsministeriums Statec in seiner am Montag vorgestellten Konjunkturnote für dieses Jahr 5,1 Prozent. Das langsamere Wachstum im Vergleich zum letzten Jahr sei leicht zu erklären: die Nachbarländer, in denen die Wirtschaft langsamer dreht, kauften weniger Luxemburger Exporte. Schließlich sei das winzige Luxemburg eine sehr offene Volkswirtschaft.

Doch wenn Luxemburg eine derart offene Volkswirtschaft ist, wieso gelingt es ihm trotzdem, immer ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum als die Staaten zu haben, von dessen Absatzmärkten, Waren und Investitionen es abhängig ist? Eine Erklärung für den im internationalen Vergleich bemerkenswerten Erfolg der Luxemburger Volkswirtschaft suchen in ihren aktuellen Wirtschaftsberichten gleich mehrere nationale und internationale Agenturen.

Der OECD leuchtet in ihrer ebenfalls am Montag vorgelegten Länderstudie ein, weshalb die Luxemburger Zwergwirtschaft immer einen Schritt voraus ist. Denn "à la différence de ses voisins, le Luxembourg a réussi à se tourner rapidement vers des services à forte valeur ajoutée, notamment des services financiers. Cette diversification a notamment été rendue possible par les avantages comparatifs dont dispose le Luxembourg en matière de réglementation, de fiscalité et dans d'autres domaines. Les secteurs de services se développant, la croissance a été renforcée par les externalités positives des pôles d'entreprises. Cette transformation de l'économie luxembourgeoise explique la croissance remarquablement rapide de l'activité (5 pour cent par an) et la faiblesse du chômage depuis le milieu des années 80." (S. 28) Es ist das erste Mal, dass die hierzulande bis in Regierungskreise hinein für ihre neoliberalen Patentrezepte kritisitierte Organisation Luxemburg eine selbstständige Länderstudie widmet. In den vergangenen Jahren war der Bericht über Luxemburg immer dem belgischen als Anhängsel beigepackt. 

Mitte letzten Jahres hatte auch der Internationale Währungsfonds in Washington die Luxemburger Volkswirtschaft zu röntgen versucht. Und die selbst gestellte Frage nach deren auffälligem Erfolg komplexer beantwortet: "L'activité économique a été poussée par un cercle vertueux comprenant politiques habiles, consensus social et économies exogènes de situation. Nous voudrions particulièrement souligner l'importance de ces économies, ­ échanges du savoir entre activités connexes, profonds marchés de l'emploi en compétences spécialisées et la capacité des producteurs de partager des fournisseurs ­ comme soutien d'un regroupement rapidement croissant d'une industrie de services spécialisés, particulièrement de services financiers. En même temps, l'économie luxembourgeoise bénéficie d'une offre élastique de main d'œuvre des régions frontalières." (S. 1)

Sogar der Statec nutzt seine Konjunkturnote, um ebenfalls strukturellere Überlegungen anzustellen. Für ihn ist eine der wichtigsten Erklärung des Luxemburger Wirtschaftserfolgs die Elastizität des Arbeitskräfteangebots. Das heißt vor allem das schier unerschöpfliche Reservoir an Grenzpendlern.

Liegt das ganze Geheimnis des Luxemburger Wirtschaftswunders also in seinen Arbeitskräften? "Pour ce qui est du facteur de production capital," räumt der Statec ein, "des recherches théoriques et empiriques supplémentaires devront être entreprises. Ainsi, d'après les comptes nationaux des différents pays européens, la part de la FBCF dans le PIB, pour autant que celle-ci puisse être prise pour un indicateur de l'accroissement futur de la capacité productive, n'est pas spécialement élevée au Luxembourg, en se situant plutôt près de la moyenne européenne." (S. 34)

Die Produktivität lag mit 1,5 Prozent jährlichem Zuwachs seit 1995 über dem EU-Durchschnitt von 1,2 Prozent. Sie wuchs schneller als die Lohnstückkosten, so dass sich laut Ferdy Adam vom Statec "die Wettbewerbsfähigkeit in Luxemburg stärker verbesserte als in den anderen Ländern". Die realen Lohnstückkosten sind seit 1995 sogar rückläufig, was wohl auf eine Mischung aus gestiegener Produktivität und Lohnmäßigung zurückzuführen ist. Dabei bezeichnet die OECD die Luxemburger Stundenlohnerhöhungen als mit die höchsten in Europa.

Doch die OECD rechnet in ihrem Länderbericht vor, dass die multifaktorielle Produktivität, die Produktivität von Kapital und Arbeit, in den Neunzigerjahren nur langsam zugenommen habe, new economy hin oder her. Dass das hohe Wirtschaftswachstum vergleichsweise extensiv war, zeigt schon die Entwicklung der Erwerbstätigenzahl.

David Carey, der am Montag zur Vorstellung seines OECD-Länderberichts bis nach Luxemburg gekommen war, glaubte dann auch zu wissen, wie eine intensivere Ausnutzung von Kapital und Arbeit angepackt werden müsste: durch die Senkung von Mindestlohn und Kündigungsschutz, die Erhöhung der Frauenbeschäftigungsrate und der Lebensarbeitszeit sowie zumindest einer Manipulation, wenn schon nicht Abschaffung des Index.

Doch wenn die Produktivität trotzdem eher Mittelmaß ist, kann sie kaum für das hohe Wirtschaftswachstum verantwortlich sein. Deshalb gibt der Statec dem Mann und der Frau von der Straße Recht, die schon immer meinten, es gehe dem Land so gut wegen der vielen Banken: "Il nous semble plutôt que la performance supérieure de l'économie luxembourgeoise soit due en partie à un appareil productif différent, fortement centré sur un pilier (le secteur financier), et bénéficiant d'une demande élevée (à l'exportation) pour ce produit. En termes macro-économiques, le 'technology-mix' de l'économie luxembourgeoise semble donc fondamentalement différent de celui des autres pays de l'UE." (S. 35) In Luxemburg trage  der Finanzsektor zu 20 Prozent zur Mehrwertschöpfung bei, im EU-Durchschnitt aber nur zu fünf Prozent.

Der Statec hat sogar den Verdacht, dass die Luxemburger vielleicht nicht ständig über ihre Verhältnisse leben, wie die Sparapostel jammern, aber auf jeden Fall ständig unter ihren Verhältnissen produzieren: "Ainsi l'hypothèse (ou la constatation) suivant laquelle l'économie luxembourgeoise évolue de manière permanente en-dessous de son potentiel productif maximal, est, à notre avis, la plus probable. Aussi cette observation est-elle compatible avec l'évolution observée de l'inflation." (S. 34)

Aber in Wirklichkeit ist die Inflation ein anderes Geheimnis. Ferdy Adam vom Statec weist darauf hin, dass sich die Inflationsrate zwischen 1995 und 1998 im Einklang mit den anderen EU-Staaten entwickelt habe, doch dass sie sich in den beiden letzten Jahren von der EU und vor allem auch den Benelux-Partnern "losgekoppelt" habe. Was das aber genau zu bedeuten habe, sei "nicht ganz klar".

Dass die Inflation letztes Jahr um einen Prozentpunkt schneller stieg als 1999, wurde schon ausgiebig beklagt. Aber die wirkliche Frage ist vielmehr, weshalb die Inflation bei spektakulären 8,5 Prozent Wirtschaftswachstum nicht viel drastischer stieg. Und dies, als zu allem Überfluss auch noch ein wegen des Tanktourismus' im Index zudem übergewichteter Erdölpreisschock stattfand und der Euro einen Schwächeanfall erlitt. Als ob dies noch alles nicht genügte, gibt es schließlich auch noch die viel beklagte Lohn-Preis-Spirale der automatischen Index-Anpassungen. Alles zusammen müsste eigentlich für eine zweistellige Inflationsrate reichen. Doch nach Meinung des Statec ist es hier wiederum das Arbeitskräftereservoir der Großregion, das eine „Überhitzung" des Artbeitsmarkts verhindert.

Was die Lohnpreisspirale betrifft, die auch "Selbstzündung" genannt wird, damit sie gefährlicher klingt, so bestätigte am Montag sogar der liberale Wirtschaftsminister Henri Grethen, dass der mittel- und langfristige Einfluss der automatischen Indexanpassung auf die Inflation sich kaum von der Preisentwicklung in Ländern unterscheide, wo die Gewerkschaften über Kollektivvertragsverhandlungen einen Inflationsausgleich aushandeln.

Der Statec glaubt, im vergangen Jahr eine schwache "Selbstzündung" bemerkt zu haben, räumt aber ein, dass das genau Ausmaß noch zu erforschen bleibt. Eine Bedrohung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sei aber nicht auszumachen. 

 

 

Romain Hilgert
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