Die kleine Zeitzeugin

Die Hundertjährige, die nicht aus dem Fenster steigt

d'Lëtzebuerger Land du 08.05.2020

Erinnert ihr euch, eben noch, in der guten alten Zeit, waren sie Role Models. Die 99-jährige Fallschirmspringerin, der Methusalem-Marathonläufer, das Topmodel auf dem Catwalk mit den coolen Falten. Die coolen Alten. Eben noch topangesagt, topnachgefragt. Beste Zielgruppe, um um den Globus zu schippern, geschippert zu werden, an irgendeinem Weltende auszusteigen und noch mal anzufangen. Von vorn, nie zu spät!

Schon in den Achtzigern gab es die Golden Girls, „Anti Aging“ wurde erfunden, dann, doch etwas stressig, durch „Pro Aging“ ersetzt. Best Ager_innen und Boomer_innen mischten das lukrative Altenbusiness auf. Alte? Senior_innen hieß das irgendwann, alt ging gar nicht, alt sagt man nicht, tut man nicht, ist man nicht. So wie arm, kommt nicht gut. Und arm und alt ... das kauft keiner.

Eben noch sweet sixty four, wer denkt heute noch an den tristen Beatles-Song? Eben noch nackt über Lava getanzt oder nachtaktiv durch Berliner Szenelokale. Dann 65, gimme five, life! Open Endlosigkeit, bis wieviel geht es? Bis… bis, schluck, eben jetzt. Wo Safarijägerinnen, Bungeejumper, aber auch hinter Zweijährigen her Flitzende plötzlich hinter Schloss und Riegel schmoren, hoffend, dass mildtätige Junge ihnen ein paar desinfizierte Überlebensmittel auf die Türschwelle legen. Allmählich wird ihnen lebensabendlich zumute, jeden Tag hören sie, wie alt und hinfällig sie sind, von Tag zu Tag fühlen sie sich älter und fälliger.

Denn sie müssen beschützt werden. Auch gegen ihren Willen notfalls. Vor sich selber. Weil sie oft so störrisch sind, diese Alten. Nicht kapieren, dass nur Isolationshaft sie vor dem lauernden Tod schützt. Dass es todsicherer ist, mutterseelenallein in ihrem Wartezimmer auf den Tod zu warten.

Die jungen Bevölkerungskörper rütteln indessen zunehmend an den Ketten, es rasselt schon gehörig. Keine Party mehr, und dann auch noch Wirtschaftskollaps. Wegen diesen alten, weißen Männern, wegen diesen Umweltsäuen mit der Genug-ist-nicht-genug-Hymne! Sollen wir die Alten auf eine Insel bringen oder was?, fragt ein Wiener Journalist bei einem TV-Talk genervt. Er schildert, wie „diese Herrschaften, wegen denen all das veranstaltet wird, Kinder wie Zombies anschauen und gleich die Straßenseite wechseln“, falls sich der Supergau ereignet, dass sich eine Familie nähert.

Es wird wieder Klartext gesprochen. Über die Alten, Senior_innen klingt plötzlich so geschminkt. In TV-Talks werden welche, die eben noch mitten im Leben standen, als Risikogruppenangehörige vorgestellt. Plötzlich Alte stellen plötzlich fest, dass man eher über sie redet als mit ihnen. Altgediente Alte wissen das schon. Alle Alten wollen auch nicht mit allen andern Alten in einen unattraktiven Topf geworfen werden. Gepflegte Jungsenior_innen, wie man in der guten alten Zeit sagte, grenzen sich von Pflegeheiminsass_innen ab. 65- jährige haben schließlich noch Großmütter! Die einen schwärmten für Hitler, die andern für die Beatles.

Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen weiß, dass die Toten sowieso schon quasi Tote waren. Wegen denen können die anderen doch nicht zu leben aufhören. Bewährter Angstlieferant Lauterbach hingegen will empathisch keine Alten opfern, um im Café sitzen zu können.

Kinder wegen Todgeweihten einsperren? Frisch Verliebte? Die Mittelalterlichen aus dem Mittelstand? Damit dann alle verelenden oder sich umbringen oder einander? Lebendig begraben aus Solidarität? Sollen die Alten sich nicht besser diskret zurückziehen? Hinter schwedische Gardinen.

Oldies werden zu Held_innen oder Märtyrer_innen. In Italien verweigert eine alte Dame das Beatmungsgerät zugunsten von Jungen, sie stirbt. In der TAZ melden sich ältere Ehepaare, die freiwillig zu Hause bleiben wollen, damit die Jungen wieder losleben können. Sie hätten alles gehabt, ein schönes Leben, ihr Garten sei auch schön!

Die eine oder der andere aus der Peer Group mag beklommen auf diese Heroes aus dem Vorbilderbuch schauen. Zeit und Geld für Welt war noch gar nicht da gewesen, sind sie dem uralten Trug-Schluss aufgesessen, dass das Allerbeste irgendwann kommt? Vielleicht haben sie nicht mal einen Garten.

Michèle Thoma
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