Theater entsteht (2)

Krisen Kriege Kunst

d'Lëtzebuerger Land du 28.09.2012

Willkommen in Absurdistan Hier und heute kann es durchaus schon vorkommen, dass ein Forscher seine Reagenzgläser kurzerhand vertilgt oder ein Gartenzwerg in Gummistiefeln und Zipfelmütze Regieanweisungen gibt. Oder Aussagen macht wie: „Ein Künstler, der zeigt, was er kann, zeigt nichts. Man muss zeigen, was man nicht kann.“ Oder: „Wenn es Erfindung gibt, ist sie nur unter der Bedingung ihrer Unmöglichkeit möglich.“ Regisseur Martin Engler ist der „Gartenzwerg“, eine der Figuren aus Blaupause 5: Terror Terrestris, ein Theaterexperiment, das am Montag 1. Oktober Premiere am Kapuzinertheater feiert. Er spricht den Prolog über Kunst und Wissenschaft, währenddessen die weiß bekittelten „Wissenschaftler“ das Bühnenbild hereintragen und aufbauen.
Dann kommt sie: Clara Immerwahr. 1870 bei Breslau geboren, promovierte Chemikerin, die um die Jahrhundertwende noch sehr für den Platz einer Frau in der Wissenschaft kämpfen musste. 1901 heiratete sie den Chemiker Fritz Haber und träumte damals von gemeinsamer Forschung und wahrer Zusammenarbeit, wurde jedoch schnell von ihrem Mann in die Küche verbannt. „Nun findet der dumme Mann recht überrascht diese unsinnige Person bei sich, dieses große, schwere und behindernde Etwas. So viele Kleider, so viele Haare, was fängt man damit an? Er kann, er will sich ihrer entledigen“, berichtet sie auf der Bühne. Linda Olsansky spielt Clara Immerwahr, Wissenschaftlerin und Feministin, die auch öffentlich missbilligte, dass ihr Mann seine Forschung in den Dienst des Kriegsapparates stellte, dass er keine Bedenken hatte, seine Erkenntnisse über die Ammoniaksynthese, die auch zur Produktion von Kunstdünger gebraucht werden kann, zur Herstellung von Giftgas und Schießpulver anzuwenden und so im Ersten Weltkrieg den Tod Tausender Menschen auf dem Gewissen hatte. Nach seiner Beförderung nach der Schlacht von Ypres 1915 und dem ersten Giftgaseinsatz erschoss sie sich mit Habers Dienstwaffe zuhause im Garten. Das hielt Fritz nicht davon ab, gleich wieder an die Front zu reiten.
Ethik und Wissenschaft Clara war Habers Gewissen, hielt ihn immer wieder an, den Eid über die Unabhängigkeit der Forschung und der Wissenschaft abzulegen, die nur der Förderung der Wahrheit dienen könne. Doch Haber ist geblendet von Geld und Macht der Armee und der Wirtschaft und gibt sich als guten Patrioten, der „wie jedermann“ im Krieg der Nation dienen muss. „Worum es hier geht, das ist das Wachstum!“, schreit Steve Karier als Fritz Haber auf der Bühne, wenn er mit den Generälen der Armee über die Anwendungsmöglichkeiten der Ammoniaksynthese diskutiert. Der Nobelpreisträger Haber, selbst Jude, arbeitet so mit an der Ermöglichung des „totalen Kriegs“ gegen die Juden im Zweiten Weltkrieg, den er jedoch nicht mehr erlebte. Die letzten Jahre seines Lebens hatte er versucht, Gold aus dem Meerwasser zu gewinnen – eine Alchemie wie die „Wonnermaschinn“, sozusagen.
„Ist Haber ein größenwahnsinniger Chemiker oder ein besoffener Kleinbürger?“, fragt Steve Karier in den Raum, sucht nach Anweisungen, um seine Figur anzulegen. Er lässt sich eben von General Falkenhayn (Nora Koenig) und Walter Rathenau, Industrieller und liberaler Reichsaußenminister (Brigitte Urhausen), ohne viel Mühe davon überzeugen, für die Armee zu arbeiten. Hinter dem langen Tisch sitzt der Kaiser (Josiane Peiffer), schießt mit Kissen und bittet schreiend um „Ruhe!“ Dann, auf einmal, brüllt Clara, die sich die ganzen Verhandlungen angehört hat, wie besessen drauf los, wirft sich zu Boden – sie kann diese Perspektive nicht ertragen. Die Szene wird fünf, zehn, 15 Mal wiederholt. Mal mit erotischer Spannung, mal mit alkoholisierter Dekadenz, warum nicht auch mal mit mehr Gefährlichkeit im Ton?
Multimedia-Stress Die Proben (siehe auch d’Land 36/12 vom 7. September) sind vor zwei Wochen auf die Bühne des Kapuzinertheaters umgezogen. Julie Schroell, veejay des Projektes, hatte die ersten Tage über mit Technik und Software zu kämpfen: Denn zeitgleich zum Bühnengeschehen projiziert sie historische Bilder auf drei Leinwände verschiedener Formate – Archivbilder über den Ersten Weltkrieg, Truppen, Schlachten, die verwüsteten Landschaften danach –, filmt jedoch auch live die Geschehnisse, sogar hinter den Kulissen. Überall dienen blau gestrichene Kleidungsstücke und Requisiten zudem als Bluescreen und werden „bebildert“. Die Erschöpfung ist ihr anzusehen, das Experiment übersteigt in seiner Komplexität alles, was die junge Dokumentarfilmerin bis dato gemacht hat.
Es geht Regisseur Martin Engler, der das Konzept des Theaterabends erdacht hat, um die Gleichzeitigkeit des Terrors und die ewige Wiederholung der Vernichtung und des menschlichen Wahnsinns im zwanzigsten Jahrhundert. Diesen „aberwitzigen Totentanz“ bildlich zu untermalen, ist Julie Schroells Aufgabe. Gleich zu Beginn der Proben hatte sich die ganze Truppe im Centre Pompidou Metz die Ausstellung 1917 angesehen, die eben diese Gleichzeitigkeit von Kreativität und Vernichtung zeigte – „das ist ja quasi die Ausstellung zum Stück!“, fand damals Martin Engler. Julie Schroells Bilder sind mal realistisch, öfters jedoch expressionistisch oder psychedelisch verfremdet.
Die Frau mit dem Laptop Im Saal sitzt Johanna Dangel, „wissenschaftliche Dramaturgin“, wie Martin Engler sie bezeichnet, den Laptop auf den Knien. Sie arbeitet seit zwei Jahren an dem Stoff, hat mit Martin Engler die Texte zum Thema gesucht, ausgehend von der Figur der Clara Immerwahr, Fragmente starker Aussagen über Wissenschaft, Macht, Religion, Politik, Feminismus und Kunst, und sie zu diesem Rohmaterial zusammengefügt, das den Schauspielern im Improvisationsprozess als Basis dient. Die Schwierigkeit: diese „größtenteils schriftlichen Texte, die nicht vermündlicht wurden“, zu Dialogen zusammenzuführen, die zudem noch auf der Bühne verständlich sein müssen, ihre Zusammenhänge ersichtlich. Die These der beiden Ideengeber: Habers Forschung, Clara Immerwahrs Verzweiflung, Rathenaus Zynismus, Enver Paschas Ausrottung des armenischen Volkes, Johannes Lepsius’ machtloses Diplomatengeschwätz, des Kaisers absurdes Gelaber über „Fremde unter Fremden“ sind die Blaupause für das ganze Jahrhundert und legen die Grundlage für alle Grausamkeiten und Menschenverachtung, die noch kommen werden – und sich wie in einer Endlosschleife immer und immer wiederholen. Deshalb kann das Stück auch so leicht einen Bogen über den Zweiten Weltkrieg und die Finanzkrise, bis zu den Arbeitsbedingungen in der Dienstleistungsgesellschaft spannen. „Es gibt keine lineare Erklärung für die Welt“, behauptet Martin Engler. „Aber wir wollten einfach mal in das Chaos hineingreifen und uns das Gewimmel anschauen.“
Gratwanderung Blaupause 5 ist ein heimtückisches Theaterprojekt, weil es mehrere, beim ersten Blick gegensätzliche Ansprüche vereint: Historische und wissenschaftliche Richtigkeit, literaturhistorische Relevanz und politische Hypothesen so miteinander zu verbinden und in einem dramaturgischen Spannungsbogen zusammenzufügen, dass es ein kurzweiliger und spannender Theaterabend wird. Garanten dafür sind die Schauspieler und die Musiker (Matthias Trippner, Perkussion, und Bo Widget, Cello): Sie müssen diesem Konvolut aus Versatzstücken Leben einhauchen, historische Figuren verkörpern, Zusammenhänge, Verfremdungen und Brüche erschaffen. Wochenlang haben sie in zahlreichen Improvisationen den richtigen Ton gesucht, Ideen angeboten, auf die Musik, die Bilder und die Kollegen reagiert. „Jeder Abend ist anders“, ist ihr Motto. Und ihr Wundermittel heißt Humor: Die Welt ist wahnwitzig, die Fratze der Menschheit ist grotesk verzerrt, so lasst uns lachen!

Blaupause 5: Homo Sapiens: Terror Terrestris – Aberwitziger Totentanz; ein Projekt von Martin Engler; Regie: Martin Engler;
josée hansen
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