Zu Besuch bei Hilmar Schneider, dem neuen Direktor des Ceps/Instead

„Ich mag es, mich argumentativ zu prügeln“

Porträt Hilmar Schneider
Photo: Patrick Galbats
d'Lëtzebuerger Land du 11.10.2013

An der Wand hinter dem Schreibtisch in Hilmar Schneiders Büro hängt ein großes Foto, das er vor vier Jahren an der belgischen Nordseeküste aufgenommen hat. Damals hatte ein Künstler an einem sonnenbeschienen Strand ein riesiges Tuch aus weißer Gaze aufgespannt. Es war dünn genug, dass man durch das Gewebe die Brandung an die Küste rollen sah. Format füllend hatte der Künstler auf das Tuch mit weißer Farbe noch die Worte „Never good enough“ gepinselt.

„Als wäre sogar die Pracht des Meeres nicht gut genug“, deutet Hilmar Schneider das Werk. Und sagt, ja, der kurze Satz sei durchaus ein persönliches Credo.

Seit April ist Schneider Generaldirektor des Sozialforschungszentrums Ceps/Instead in Belval. Ein Pedant ist der 56-Jährige sicher nicht. Dazu ist er viel zu offen und lacht zu gern. Aber immer weiter – das will er wohl. Und ein Medienmensch ist er: Ehe er ans Ceps kam, war er Vizedirektor am Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit (IZA), einem Stiftungsinstitut, das sich auf die Themen Arbeitsmarkt, Steuer- und Sozialsysteme spezialisiert hat. Dort sei er einer der wichtigsten „Übersetzer“ von Forschungsergebnissen in die Sprache der Politiker gewesen. „Ich habe erst am IZA gelernt, wie leicht mir das fällt.“ Und so wurde aus dem promovierten und habilitierten Ökonomen und Chef des Bereichs Arbeitsmarktforschung am IZA ein gefragter zitierfähiger Experte für die Wirtschaftsredaktionen großer Zeitungen, ein gern gesehener Talkshow-Gast – „Ich mag es, mich argumentativ zu prügeln“ – und ein Berater für die deutsche Bundeskanzlerin.

Heute fehlen ihm die Medien. Und ruft mal ein Journalist an und will eine Expertise haben, vergisst er später in seinem Artikel zu erwähnen, wo Schneider heute tätig ist. Wie ein Spiegel-Redakteur vergangene Woche. „Dass jemand in Luxemburg forscht, interessiert die nicht“, bedauert der Ceps-Chef. Dabei sei für ihn, was in Belval am Entstehen sei, der zweitwichtigste Grund gewesen, die Leitung des im vergangenen Jahr so krisengeschüttelten Sozialforschungszentrums zu übernehmen: „Das Projekt Cité des sciences hat Vorzeigecharakter, es könnte gut und gern in die USA passen. Ich hätte mich geärgert, daran nicht irgendwie beteiligt zu sein.“ Grund Nummer eins, das Direktorenamt in der fünften Etage des roten Hochhauses auf dem Campus anzutreten war, „dass ich mal ein Institut eigenverantwortlich leiten wollte“. Hilmar Schneider will halt immer weiter.

Und mit ihm soll das Ceps über sich hinauswachsen. Was es derzeit auf seiner Internetseite zur „Vision“ erklärt, zur „key entity in social science research“ in Luxemburg werden zu wollen, sei noch keine Vision, urteilt Schneider streng. Das gehöre überarbeitet. Schneider möchte das Ceps „zur ersten Adresse für empirische Sozialforschung in Europa“ machen – nicht weniger.

Das ist ein Riesenanspruch. Denn das vor 36 Jahren von einer Gruppe Psychologen um den legendären Gaston Schaber zunächst als Institut für Armutsforschung gegründete Ceps entwickelte sich ab 1989, als es dem Staatsminister unterstellt wurde, zu einem Institut mit dem Sonderauftrag, der Regierung bei politischen Entscheidungen behilflich zu sein. Wie tief diese Mission verankert ist, zeigt sich daran, dass das Ceps in seiner Finanzplanung für die Jahre 2011 bis 2013 rund ein Drittel seiner Einnahmen aus Kontraktforschung für Ministerien und Verwaltungen beziehen soll. Doch Anfang vergangenen Jahres war dem Forschungszentrum buchstäblich der Himmel auf den Kopf gefallen: Externe Gutachter hatten seiner wichtigsten Abteilung Population et emploi schon zwei Jahre zuvor mangelnde wissenschaftliche Qualität bescheinigt. Nun aber waren auch die Finanzen aus dem Ruder gelaufen und das Defizit wuchs. Der damalige Direktor entließ aus heiterem Himmel Mitarbeiter, was die Stimmung im Hause überkochen ließ und sogar den Verwaltungsrat vor eine Zerrreißprobe stellte. Am Ende floh der seinerzeitige Ceps-Chef von seinem Posten in den vorgezogenen Ruhestand und der neue Verwaltungsratspräsident saß ein gutes Jahr lang auch einer Interim-Direktion vor.

Für Hilmar Schneider geht es deshalb nicht nur darum, „anders zu bündeln“, woran im Ceps gearbeitet wird. Sondern auch zu berücksichtigen, wen er dafür zur Verfügung hat. Die Krise vom letzten Jahr sieht Schneider als gar nicht so überraschend an: „Das Ceps hat im Grunde ereilt, was andere Institute in Europa schon vor 20 Jahren traf, als es plötzlich hieß, die Sozialforschung erfolge nicht wissenschaftlich genug“. Die deutschen Institute habe es gegen Ende der Neunzigerjahre erwischt: „Da wurden von Ministerialbeamten Evaluationen gestartet. Universitätsprofessoren fielen in den Instituten ein und fragten zuallererst nach der Zahl von Publikationen in hochkarätigen Wissenschaftszeitschriften.“ Der Richtungswechsel, weiterhin Sozialforschung zu betreiben, sie aber gleichzeitig akademisch zu „erden“, sei „schmerzhaft“ gewesen und für so manche Mitarbeiter in den betroffenen Instituten „regelrecht tragisch“ verlaufen.

So soll es in Belval nicht gehen. Schneider hält sich zugute, seit seinem Amtsantritt vor einem halben Jahr unter den weit über hundert Ceps-Mitarbeitern für Ruhe und Entspannung gesorgt zu haben. Und sagt: „Das Institut zu reformieren, indem man radikal Leute entlässt und neue rekrutiert, würde die Vertrauensbasis im Haus zerstören.“ Lieber will er Stück für Stück vorankommen, und deshalb könne es einige Jahre dauern, bis das Ceps tatsächlich zum europäischen Spitzeninstitut für Sozialforschung aufgerückt sein wird.

Wie der Weg dahin in den nächsten vier Jahren aussehen könnte, über den das Ceps, wie alle anderen öffentlichen Forschungszentren, demnächst einen neuen Leistungsvertrag mit dem Forschungsministerium abschließt, will Schneider dieser Tage dem Ceps-Verwaltungsrat konkretisieren. Bis dahin kann er schon mitteilen, dass unter „Bündelung“ und „akademischer Erdung“ zum Beispiel zu verstehen sei, den Institutsstandort auszunutzen: In Luxemburg mit seiner offenen Gesellschaft und Volkswirtschaft würden sich auf engem Raum vier Wirtschaften – die Luxemburger und die der Nachbarländer also –, vier Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktsysteme überschneiden. Sammelte das Ceps über diese Zusammenhänge Daten, „dann können wir zum Beispiel sagen, wie sich eine Steuerreform, die ein Staat vornimmt, in der gesamten Großregion auf Unternehmensentscheidungen zur Ansiedlung von Betrieben auswirken wird, auf die Beschäftigung, auf Pendlerströme und so weiter.“ Wissenschaftlich sei das eine Riesenchance: „Wir könnten europäische Konvergenzprozesse beschreiben, und der Politik Empfehlungen machen, wie sie zu steuern wären.“

Dass das Ceps mit einem solchen Ansatz der Universität ins Gehege kommen könnte, findet Schneider nicht: „Einerseits würden wir nicht nur akademisch forschen.“ Andererseits würde keine Universität Daten- und Modellinfrastrukturen anlegen und unterhalten, wie sie für eine evidenzbasierte Politikberatung unerlässlich sind. „Das wäre für sie viel zu aufwändig, das ist genuine Angelegenheit von Instituten.“ Dass in der Sozialforschung selbst in einem so kleinen Land wie Luxemburg festgelegt werden sollte, wer was macht, findet Schneider ebenfalls nicht: „Konkurrenz sichert Qualität.“ Sozialforschung sei heute so komplex, dass es „viele Möglichkeiten gibt, Fehler zu machen“. In Deutschland würden deshalb verschiedene Ministerien aus Prinzip Forschungsaufträge an zwei Institute vergeben – die später dann ihre Resultate vergleichen.

„Zeit geben“ müsse man dem Ceps aber auch, wenn es um Politikberatung für die Regierung geht. Gerne würde Hilmar Schneider, falls in der nächsten Legislaturperiode eine große Steuerreform in Angriff genommen wird, anhand von Ceps-Daten berechnen lassen, was welche Änderungen brächten. Das Bonner IZA sei darin „richtig gut“ gewesen, erinnert er sich an alte Zeiten: „Die politischen Parteien waren vorsichtig geworden, Steuerreformvorschläge mit Zahlen in die Welt zu setzen, weil wir innerhalb von zwei Wochen sagen konnten, welche Folgen das für die Staatskasse, die Beschäftigungsentwicklung und die Einkommensverteilung gehabt hätte.“ Am Ceps wurde schon vor ein paar Jahren begonnen, einen Datensatz über die Einkommenslage in Luxemburg anzulegen. Darauf sollen Mikrosimulationen möglich sein, mit denen sich Änderungen bei Steuern und Sozialtransfers mathematisch vorwegnehmen lassen. Noch aber gehe das „nicht auf Knopfdruck“.

Und eine Weile dauern wird es auch, bis Hilmar Schneider, der öffentliche Auftritte so schätzt und sehr pointiert zu formulieren versteht, sich als Politikberater hierzulande auf ähnliche Weise zu Wort melden könnte, wie er es in Deutschland tat. Aufgefallen ist ihm bereits, dass es in Luxemburg „keine Evaluation von Politik, weder von Steuer-, noch von Wohnungsbaupolitik, noch von einer anderen, gibt“. Das sollte sich ändern, und dabei könne das Ceps eine wichtige Rolle spielen.

Doch die jüngere Publikationsliste des Sozial- und Arbeitsökonomen am IZA umfasst beispielsweise nicht nur einen mathematisch begründeten Vorschlag für eine Vereinfachung der deutschen Einkommenssteuer, die in eine vollständige Fiskalisierung der Sozialversicherung eingebettet wäre, sondern auch Plädoyers für die Entfaltung der Marktkräfte beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Für Schneider ist der Mensch ein Homo economicus, der rationale Entscheidungen trifft, um sozial aufzusteigen und sich gesellschaftliche Anerkennung zu sichern. Das sei „keine Glaubensfrage“, sondern wissenschaftlich fundiert, und so warnte er in einem vor einem Jahr veröffentlichten Diskussionspapier des IZA vor einer eventuellen Rücknahme der Hartz-Reformen, die in der deutschen Bevölkerung „ungenutzte Produktivitätspotenziale mobilisiert“ hätten.

In Luxemburg, hat Schneider festgestellt, sei die Auffassung verbreitet, „Deutschland gehe wegen der unter der damaligen rot-grünen Regierung 2003 und 2005 eingeführten Arbeitsmarktreformen den Bach runter“. Das sei „ein Zerrbild“. Um sagen zu können, wie hierzulande ungenutzte Produktivitätspotenziale freigesetzt werden könnten, müsse er sich aber noch ein klareres Bild machen. „Zum Mindestlohn habe ich meine Meinung, aber ich bin auch lernfähig.“ In Deutschland sei ihm immer mal wieder vorgeworfen worden, „ein Neoliberaler“ zu sein, doch das gehe am Punkt vorbei: „Ich will eine Gesellschaft und ihre Konflikte verstehen, ehe ich Politikempfehlungen gebe.“ Die Luxemburger Gesellschaft ist für ihn noch neu und faszinierend, aber auf jeden Fall setzt der Ceps-Chef sich ihr aus: „Ich wohne in Esch/Alzette in einem Portugiesenviertel. Ich sehe deutlich, dass dort nicht das große Geld zuhause sein kann.“ Trotzdem sei das „eine Community, die anscheinend funktioniert, die sich selber genügt – und zu der ich überhaupt keinen Zugang bekomme“. Welche Auswirkungen es in der so offenen und vielschichtigen Luxemburger Gesellschaft hätte, wenn man diese oder jene so-zialpolitische Entscheidung träfe – solche Antworten sollte das Ceps geben können. Alles andere wäre not good enough.

Peter Feist
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