Österreich

Tschüss mit türkis

d'Lëtzebuerger Land vom 10.12.2021

Es war ein Abgang mit Beigeschmack: Gutgelaunt, fast befreit wirkte Sebastian Kurz, als er am 1. Dezember überraschend seinen Rückzug aus der Politik bekannt gab. Bei seiner elfminütigen Abschiedsrede ließ er in bekannter „Ich, Ich, Ich“-Manier seine (Wahl-) Erfolge Revue passieren und schwenkte ins Familiäre zur wenige Tage zurückliegenden Geburt seines ersten Sohnes Konstantin: Als er ihm in die Augen geschaut habe, habe es klick gemacht, und er habe erkannt, wieviel Schönes es außerhalb der Politik gebe. Abschließend noch ein kleiner Ausflug in die altbekannte Opferrolle: Zuletzt sei es nahezu unmöglich gewesen, sich auf Politisches zu konzentrieren angesichts der „Hexenjagd“ gegen ihn und sein Team – eine wehleidig anmutende Interpretation der Tatsache, dass die Wirtschafts- und Korruptionsanwaltschaft gegen Kurz und sein engstes Umfeld wegen Korruption ermittelt.

Nur zwei Monate, nachdem der einstige Star der Konservativen so über eine weitreichende Medien-Korruptionsaffäre stolperte und statt eines sauberen Rücktritts zur gebotenen Zeit lediglich einen „Schritt zur Seite“ trat, den Klubvorsitz im Parlament übernahm (wo er dann jedoch kaum gesehen wurde), räumt Sebastian Kurz nun komplett das Feld. Als unsentimental, fast kaltschnäuzig wurde der Auftritt vielfach empfunden – und hinterließ auch bei so manchem einst Kurz-Gläubigen Zweifel, ob der gefallene Polit-Star je eine inhaltliches Programm oder auch nur ein ernsthaftes politisches Anliegen hatte.

Kurz‘ Rückzug jedenfalls setzte eine Kettenreaktion in Gang: Gernot Blümel, seinem Wegbegleiter, Vertrauten und im Regierungsteam loyalen Finanzminister, fiel nach augenscheinlicher Schockstarre einen Tag später ein, dass er ja bereits ein zweites Kind hat und erklärte ebenfalls, aus familiären Gründen sein Amt niederzulegen – auch seine Abschiedsrede war garniert mit Hinweisen auf unberechtigte Vorwürfe im Zuge der Korruptionsermittlungen, gar Morddrohungen. Der dritte im Bunde war schließlich Alexander Schallenberg, von Kurz zu seinem Stellvertreter gekürt, im Kanzlersessel innerlich ganz offensichtlich nie angekommen – auch er stellte seinen Posten zur Verfügung. Damit war klar, dass eine umfangreiche Neubesetzung der führenden Regierungspartei anstehen würde.

Schlagartig war so das Ende des „neuen Stils“ gekommen, den Kurz und sein Team den Konservativen und ihren Wähler/innen versprochen hatten: frisch, sauber, dynamisch und von traditionellem Ballast befreit. Dazu hatte sich Kurz von der Partei, die intern gewohnheitsmäßig stark von den Landeshauptleuten und Bünden wie Arbeitnehmerbund und Bauernbund dominiert wurde, umfangreiche Befugnisse und Durchgriffsrechte garantieren lassen. Dies ermöglichte ihm, anders als Vorgängern, an Partikularinteressen von Ländern und Gruppen vorbei zu entscheiden und die Handlungsmacht auf seinen engsten Zirkel zu konzentrieren.

Für die österreichische Volkspartei geht damit mehr als eine personelle Episode zu Ende – auch das Experiment, überkommene und lähmende Strukturen aufzubrechen, ist gescheitert. Entsprechend formierten sich umgehend die konservativen Landeshauptleute; die Neubesetzung der Ministerriege und des Kanzleramtes trägt deutlich ihre Handschrift. Der neue Kanzler Karl Nehammer gehörte zwar als Innenminister zu Kurz‘ Zirkel, ist aber in der mächtigen niederösterreichischen Landesorganisation gut vernetzt und anerkannt. Dass deren Geschäftsführer Karner als Innenminister nachrückt, stärkt das Gewicht der Landesorganisation in der Regierung.

Nehammer hatte sich als Innenminister rasch den Ruf eines Hardliners erarbeitet: Er ließ Abschiebungen, auch von Kindern und Familien, demonstrativ gegen Protest vollziehen, bediente sich als Berufssoldat in der politischen Debatte einer militärisch-martialischen Sprache, gab sich in Asylfragen und insgesamt kantig. Als Kanzler stimmt er nun auffällig leisere Töne an. Er betont gemeinsame Anliegen der Regierungspartner und geht auch auf die Opposition ein, beruft im Krisenmanagement bezüglich Corona demonstrativ Experten an seine Seite, appelliert an Gemeinsames in der Gesellschaft.

Ob nun Kalkül oder Realitätssinn: Nötig ist eine solche politisch vorgelebte Haltung und Stimmungslage allemal. Österreich ist tief gespalten, das in Kurz-Zeiten gnadenlos und verantwortungslos politisierte Coronamanagement hat die Gesellschaft verunsichert und polarisiert, Maßnahmengegner und Impfkritiker treten, auch angestachelt von den in diesem Milieu agitierenden Freiheitlichen, zunehmend aggressiv auf. Wie sehr es Nehammer gelingt, diese Szene politisch einzudämmen und Verbindendes zu finden, wird für ihn zur ersten Schlüsselfrage werden.

Jenseits der österreichischen Innenpolitik, in der er Eigenmarketing vor die Sache stellte, hinterlässt Kurz jedoch auch auf europäischer Ebene zumindest ideellen Flurschaden. Der deutsche Historiker Andreas Rödder bezeichnet den Ex-Politiker in einem Interview mit der liberalen Wiener Wochenzeitung Falter als „die große Enttäuschung für die europäischen Konservativen“. Sein Versprechen eines neuen, unkonventionellen Konservativismus sei „in den Untiefen seiner persönlichen und politischen operativen Umstände untergegangen.“ Nur zufällig traf der Abgang des Jungdynamikers Kurz auf den gleichen Tag wie die Abschiedszeremonie für die scheidende deutsche Langzeitkanzlerin Angela Merkel. Die beiden verbinde aber eines, meint Rödder: „Dass sie die europäischen Konservativen mit tiefem Orientierungsbedarf zurücklassen.“

Irmgard Rieger
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