Ausstellung

Nach Tokio via Metz

Japanorama vereint eine Reihe bekannter japanischer Künstler
Foto: Jean Thurmes
d'Lëtzebuerger Land vom 05.01.2018

Im Centre Pompidou-Metz stehen aktuell Japan und seine kulturelle Vielfalt der letzten 70 Jahren im Fokus. Der Inselstaat erfuhr nach dem Zweiten Weltkrieg eine künstlerische Revolution und konnte bis heute, dem Zeitalter der „Hyperglobalisierung“, eine eigene kulturelle Identität bewahren. Die Ausstellung im Erdgeschoss des Museums bietet einen Überblick über die architektonische Entwicklung (Japan-ness. Architecture et urbanisme au Japon depuis 1945, noch bis zum 8.1.2018, siehe auch d’Land 51/17), während im 2. und 3. Obergeschoss die zeitgenössische Kunst in all ihren Ausprägungen seit den 1960er Jahren zu erleben ist (Japanorama. Nouveau regard sur la création contemporaine, bis zum 5.3.2018). Ab dem 20. Januar vervollständigt eine Schau über das für seine Multimedia-Installationen bekannte Künstlerkollektiv „Dumb Type“ die japanische Saison in Metz.

In der Ausstellung Japanorama sind Kunstwerke seit den 1960er Jahren zusammengeführt, angefangen bei der radikalen Künstlergruppe Gutai bis hin zu den aktuellen fantastischen und futuristischen Tendenzen. Gutai steht auch heute noch für eine Umwälzung in der Kunstwelt; inspiriert von den gesellschaftlichen Unruhen in Europa erprobte die Gruppe neue Formen im Umgang mit der Kunst, wie das Zerstören von Leinwänden. Von Atsuko Tanaka wird eine interaktive Klangarbeit gezeigt (Work (Bell), 1955/1981). Mehrere Klingeln können über einen Schalter in Gang gesetzt werden und ertönen dann schrill durch die gesamte Ausstellungshalle. Die Arbeiten von der Gutai-Gruppe, aber die ihrer Zeitgenossen, waren von einer soziopolitischen Kritik geprägt. Die Spekulationsblase in den 1980er Jahren, der anschwellende Massenkonsum und die multiplen digitalen Kommunikationsmöglichkeiten veranlassen Künstler auch heute noch, in ihren Arbeiten gesellschaftliche Werte kritisch zu prüfen und neu zu verhandeln. Besonders kritisch und politisch engagiert waren auch die Bewegungen des Pop in den 1960er Jahren und des Neo-Pop ab den 1990er Jahren. Die identitätslose Masse und der Konsum wurden hier mit intensiveren Farben oder zum Beispiel der Anlehnung an den Manga-Stil herausgearbeitet.

Eine essentielle Rolle für die zeitgenössische Kunst Japans spielen auch der Materialismus und der Minimalismus. Die Mono-ha-Bewegung, die Ende der 1960er entstand, befasste sich mit schlichten Formen und der Interaktion zwischen natürlichen und industriellen Materialien. Lee Ufan, zum Beispiel, platzierte einen einfachen weißen Stein in die Mitte einer dunklen zerbrochenen Platte (Relatum (Formerly Phenomena and Perception B), 1968/2017). Auch heute noch schaffen japanische Künstler Werke, die schlicht anmuten, aber von großer Poesie sind. Die Installation Force (2015) von Kohei Nawa besteht aus mehrere Ölfäden, die kontinuierlich von oben in ein schmales Becken fließen. Die schwarzen zähflüssigen Linien deuten sowohl auf das Abbauen von Erdöl, als auf den schwarzer Regen von Hiroshima hin.

Weitere Kapitel der Ausstellung umfassen die Beziehung zum eigenen Körper, die sich nach dem zweiten Weltkrieg und der atomaren Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki konsequent weiterentwickelt hat, die Subjektivität und ihre fließenden Grenzen, den künstlerischen Widerstand oder die Arbeit im Kollektiv. Das Kapitel „Kollaboration“ ergründet den Ursprung der Partizipation in der Fluxus-Bewegung, bei der einzelne Künstler, wie Yoko Ono, das Publikum direkt in die Aktionen einbezogen haben. Der Austausch mit dem sonst eher kontemplativen Betrachter wurde in den 1990er Jahren in Japan deutlich sichtbarer. Insbesondere das Erdbeben und die Katastrophe von Fukushima 2011 lösten bei Künstlern das Bedürfnis aus, sich stärker mit gesellschaftlichen Themen zu befassen und auf soziale Probleme hinzuweisen. Ein Video in der Ausstellung zeigt beispielsweise einen Mann in weißer Schutzkleidung, der beharrlich mit seinem Finger in die Kamera zeigt. Im Hintergrund ist das Gelände von Fukushima zu erkennen. Das Video, das unter dem Namen Finger Pointing Worker, Pointing at Fukuichi Live Cam (2011) bekannt wurde, weist anklagend auf die mangelnde Transparenz der atomaren Stromerzeugung hin. Auch die Präsentation Home-for-all ist den Opfern des Erdbebens von 2011 gewidmet. Eine Gruppe Architekten schuf in den Wochen nach dem Erdbeben japanweit Notunterkünfte, in denen die Obdachlosgewordenen temporär Unterschlupf finden konnten.

Japanorama vereint eine Reihe bekannter japanischer Künstler wie Yasumasa Morimura, der gleichzeitig als nackte Frau und als Marcel Duchamp verkleidet gegen sich selbst Schach spielt, Daidô Moriyama, Naoya Hatakeyama, Hiroshi Sugimoto, On Kawara, Tabaïmo, die 2011 den japanischen Pavillon auf der Biennale von Venedig bespielte, Takashi Murakami oder Yayoi Kusama, die mit Infinity Mirror Room – Fireflies on the Water (2000) einen ihr gebührenden prominenten Platz einnimmt. Aber auch viele junge oder in Europa weniger bekannte Künstler fanden Einzug ins Centre Pompidou. Das älteste Werk in der Ausstellung ist ein Gemälde von Harue Koga (Sea, 1929), in dem auf surrealistische Art Fortbewegungsmittel dargestellt sind. Es spannt den Bogen von der Faszination für den technischen Fortschritt Anfang des 20 Jahrhunderts zu den heutigen fantastischen und rasant sich weiterentwickelnden Technologien. Inspiriert von den schimmernden Megalopolen wie Tokio erkunden junge Künstler in ihren Arbeiten futuristische Entwicklungen und Themen wie den Transhumanismus. Mariko Moris Videoarbeit Link of the Moon (Miko no Inori) (1996) zeigt eine Frau in weißer, Science-Fiction-ähnlicher Kleidung, die eine Glaskugel in der Hand hält, als ob sie in die Zukunft blicken könnte, und verweist auf übernatürliche und übermenschliche Erfahrungen.

Neben Werken der bildenden Kunst sind auch Plakate von Tadanori Yokoo zu sehen und Designerkleider von Mamo (Maiko Kurogouchi), Hatra (Keisuke Nagami) und Anrealage (Kunihiko Morinaga), die das Bild von Japans kreativer Vielfalt vervollständigen. Die Inszenierung der Ausstellung wurde keinem geringeren anvertraut als der japanischen Architektengruppe Sanaa, die u.a. den Louvre Lens konzipiert hat. Im Gegenzug zu zahlreichen europäischen Ausstellungen, die einen Überblick über die Kunstwelt eines entfernten Landes liefern, hat das Centre Pompidou-Metz für Japanorama eine japanische Expertin – die künstlerische Leiterin des Museums für Gegenwartskunst in Tokio Yuko Hasegawa – mit der Auswahl, Aufarbeitung und Installation der Werke beauftragt. Der Blick auf die Kunstwelt Japans ist somit nicht ein typisch westlicher, sondern entspricht dem eines Insiders, der ohne jegliche Klischees und Stereotypen die künstlerische Vielfalt aufzeichnet. Die Ausstellung entführt in eine eigene Welt, die sich durch ihre oft poetische und für Japan typisch ästhetische Anmutung offenbart.

Die Ausstellung Japanorama. Zeitgenössisches Schaffen aus neuer Sicht ist noch bis zum 5. März 2018 im Centre Pompidou-Metz zu sehen. Öffnungszeiten: mittwochs bis montags von 10 bis 18 Uhr; www.centrepompidou-metz.fr.

Florence Thurmes
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