Kinder im Strafvollzug

Halbherzig

d'Lëtzebuerger Land vom 11.12.2008

Im Alltag werden sie öfters mal „vergessen“, zum 60. Jahrestag der UN-Menschenrechtskonvention ist das Thema Grundrechte in aller Munde. Die Abtei Neumünster lud zur Soirée des droit de l’homme, im Jungenheim Dreiborn trafen sich Kinderrechtsexperten. Nur Jean-Paul Lehners, Präsident der Menschenrechtskommission, mimte den Spielverderber, als er – mal wieder – gegenüber RTL-Radio an den Dauers­kandal der in der Schrassiger Strafvollzugsanstalt untergebrachten Minderjährigen erinnerte. 

Von den vier Jugendlichen aus Dreiborn, die nach einer Revolte ins Erwachsenengefängnis überführt wurden, spricht keiner mehr. Nicht einmal das Ombudskomitee für Kinderrechte weiß Näheres über deren weiteres Schicksal, außer dass sie „zunächst für einen Monat“ hinter Gittern bleiben werden. Seit der Verabschiedung des Kinderhilfegesetzes und je näher die Wahlen rücken, wird gute Miene zum nicht ganz so guten Spiel gemacht. Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) lässt keine Gelegenheit aus, die Vorzüge des neuen Rechts zu betonen. Vom „Paradigmenwechsel“ ist die Rede und von „Fundamentalreform“. Selbst auf die Gefahr, dass das nicht stimmt. 

Denn eigentlich kann niemand so genau sagen, wie das noch zu schaffende Jugendamt ONE (Office national de l’enfance) funktionieren soll, mit wie viel Personal, mit welchen Zuständigkeiten. Und ob die damit verbundenen Ziele überhaupt erreicht werden. Ein kleiner Testdurchlauf, den das Ministerium im Sommer gut abgeschottet von der Öffentlichkeit vornahm, brachte Insiderinformationen zufolge „gemischte Ergebnisse“. Vor allem eines bereitet Sorgen: Wird das Amt die ihm zugedachte Funktion einer „zentralen Schaltstelle“ erfüllen können und die angestrebte déjudiciarisation greifen? 

Derzeit spricht mehr dagegen als dafür. Durch das Primat der Gerichte, die als einzige Instanz Erziehungsmaßnahmen zwangsverordnen dürfen, besteht die Gefahr, dass auch in Zukunft relativ harmlose Fälle vorm Jugendrichter landen. Im französischsprachigen Teil Belgiens, an dessen Jugendgesetzung sich Luxemburg orientiert, haben die Kinderhilfsdienste eine klare Filterfunktion: Sie sichten die Fälle und suchen im Einvernehmen mit Kind und Eltern nach Lösungen. Nur bei schweren Fällen, bei straffälligen Jugendlichen und wenn Kind und/oder Eltern die Zusammenarbeit verweigern, tritt der Richter auf den Plan. Das Zusammenspiel zwischen Luxemburger ONE und Gerichte ist nicht so eindeutig. Ein hartnäckiger Schulschwänzer, der in Luxemburg vom Lehrer bei der Polizei angezeigt wird, landet auch in Zukunft vorm Richter, der dann entscheidet, ob er den Fall an das ONE weiterleitet. Zur Zusammenarbeit ist das Gericht nicht verpflichtet. Dabei ist Schulschwänzen keine Straftat und Sinn und Zweck des Gesetzes doch, die Stigmatisierung und Kriminalisierung von verhaltensauffälligen Jugendlichen zu verhindern. „Das Ziel der déjudiciarisation wird konterkariert“, ärgert sich Robert Soisson, Mitglied des Ombudskomitees für Kinderrechte.

Eine andere, gravierende Grundrechtsverletzung wurde durch das Kinderhilfegesetz gar nicht erst angepackt: Bei Heimeinweisungen, die zu 80 Prozent durch die Gerichte veranlasst werden, müssen Eltern als Konsequenz ihr Sorgerecht den Heimleitungen übertragen, eine Praxis, die nicht nur hiesige Experten, sondern auch die Kinderkommission der Vereinten Nationen seit Jahren scharf kritisieren. In ihrem Länderbericht von 2003 empfahl die Kommission der luxemburgischen Regierung, alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Eltern-Kind-Beziehung besser zu schützen, „die Revision bestehender Gesetz eingeschlossen“. Fünf Jahre später ist die Rechtslage unverändert – die Reform des entsprechenden Jugendschutzgesetzes von 1992 steht noch immer aus. „Der Gesetzgeber hat eine günstige Gelegenheit verstreichen lassen, um endlich auch hier die dringend notwendigen Korrekturen vorzunehmen“, kritisiert Rechtsanwältin Valérie Dupong, die das Ombudskomitee in Kinderrechtsfragen berät. 

Die zuständigen Behörden hatten hier schon mal Abhilfe versprochen. Als in Folge des Abschlussberichtes der Spezialkommission zur Jugend in Not von 2003 der öffentliche Druck weiter stieg, steckten hochrangige Vertreter aus Familien- und Justizministerium sowie Richter- und Staatsanwaltschaft die Köpfe zusammen, um die mehrfach angemahnte Revision vorzunehmen. Nach zähen Verhandlungen und zum Teil heftigen Kontroversen wurde ein Entwurf vom Justizminister Luc Frieden im Juni 2004 deponiert – um kurz darauf völlig in der Versenkung zu verschwinden. Der Text sei „tenu en suspens“, heißt es seitens des Staatsrats. Warum weiß niemand. Auch ein Anruf im Justizministerium bringt keine Aufklärung: Der verantwortliche Minister ist wegen der Budgetsverhandlungen und drohender Verfassungskrise nicht zu erreichen, seine Sekretärin kann weder den Namen des Autors, noch den Grund für den Stillstand nennen.Auch im Familienministerium ist man erstaunt. „Der Entwurf wäre eine flotte Ergänzung zum Kinderhilfegesetz gewesen“, betont Mill Majerus, Erster Regierungsberater im Familienministerium und bis vor kurzem noch verantwortlich für Jugendschutzfragen (Majerus geht im Frühjahr in Pension, sein Nachfolger wird Nico Meisch).

Die Aussage muss überraschen: Denn mit der Philosophie des Kinderhilfegesetzes, Eltern- und Kinder in Not verstärkt an sie betreffende Erziehungs-Entscheidungen zu beteiligen, hat Friedens Entwurf nun wirklich gar nichts am Hut: Der von der UN-Kinderrechtskommission kritisierte automatische Entzug des elterlichen Sorgerechts durch das Gericht im Falle einer Heimeinweisung wird zementiert, Eltern von Heimkindern bleibt nur ein Besuchs- und Korrespondenzrecht. Was im Falle von sexuellem Missbrauch und Misshandlung Sinn macht, ist bei von der Erziehung überforderten, oftmals auch sozial benachteiligten Eltern jedoch äußerst fragwürdig. 

Protest oder gar Widerstand regt sich trotzdem nicht; der Sektor scheint den Text entweder gar nicht wahrgenommen zu haben oder ihn zu ignorieren. Eltern mit Rechten, das passt so gar nicht in das Bild einer paternalistischen Jugend- und Sozialarbeit, wie sie in Luxemburg lange gepflegt wurde, wo Staat beziehungsweise Gerichte am besten wissen, was für das Kind in Not die „richtige Erziehung“ ist. Der Jugendschutz ist noch aus einem anderen Grund diskussionswürdig. Seitdem auch in Luxemburg Polizeistatistiken einen Wandel der Jugendgewalt und Jugendkriminalität feststellen – nicht mehr Gewalttaten, aber intensivere – und angesichts der anhaltenden Unterbringungspraxis von Minderjährigen im Erwachsenen-Vollzug werden Zweifel laut, ob das Jugendschutzgesetz von 1992 noch ausreicht, um den Problemen Herr zu werden. Das Exposé des motifs zum Reformentwurf stellt unmissverständlich fest, „que notre système d’aide et de protection de la jeunesse ne nécessite pas de changements structurels fondamentaux“. Das sieht aber längst nicht jeder so. „In unserer Rechtsprechung werden Strafe und Erziehung vermischt. In Dreiborn und Schrassig sind Täter mit Opfern zusammen eingesperrt. Im Gefängnis fehlt es an klaren Erziehungskonzepten. Es stellt sich die Frage, ob es vielfach nicht eher um Bestrafung als um den Schutz von Jugendlichen geht“, bemängelt Charel Schmit, Präsident der „Association des communautés éducatives“ (Ance). 

Der Einwand ist insofern berechtigt, als mit dem Entschluss des Gesetzgebers, eine geschlossene Jugendabteilung in Dreiborn zu bauen, sich das Problem fehlender Trennschärfe zwischen Erziehung/Strafe zuspitzt: Wenn Gerichte die geschlossene Unterbringung als erzieherische Maßnahme für jugendliche Straftäter anordnen können, was bedeutet das im Hinblick auf den Strafvollzug? Zumal wenn, wie Mill Majerus sagt, die geschlossene Unterbringung die ultima ratio ist, nachdem „alle anderen Erziehungsmaßnahmen fehlgeschlagen sind“. Und wie passt dazu, dass Majerus selbst die Unité de sécurité (Unisec) einmal als „Gefängnis“, also Strafvollzugsanstalt, bezeichnet hat?

„Konsequenterweise müsste sich dann spätestens mit der Unisec die Praxis, Minderjährige im Erwachsenengefängnis unterzubringen, erledigt haben“, so Schmit. „Was aber geschieht dann mit jugendlichen Intensiv- und Wiederholungstätern?“ Das fragt sich offenbar auch der Gesetzgeber und hat sich deshalb eine Hintertür offen gehalten: Minderjährige sollen auch in Zukunft in der Schrassiger Haftanstalt eingesperrt werden können. Als hätte es die Bedenken und Interventionen von Menschen- und Kinderrechtsgruppen nie gegeben. 

Um der unglücklichen und intransparenten Verquickung von Strafe und Erziehung entgegenzutreten, fahren Länder wie Deutschland oder die Schweiz, zweigleisig: Jugendliche, die eine Straftat begangen haben, kommen vor den Jugendrichter, um die anderen in Not Geratenen kümmert sich das Jugendamt. Grundsätzlich sei ein solches duales System auch in Luxemburg möglich sei, schrieb der Vize-Präsident der UN-Kinderrechtskommission Jean Zermatten im Jahr 2005. 

Das aber wäre dann in der Tat ein Paradigmenwechsel, gegen den sich nicht nur die Richter sträuben: „Die Idee des Jugendschutzes ist es, soziale und familiären Ursachen von in Not geratenen Jugendlichen in den Blick zu nehmen“, sagt der Kinderpsychologe Gilbert Pregno, der befürchtet, mit einem Jugendstrafrecht eine „unheilvolle Spirale“ in Gang zu setzen, an deren Ende nur noch „Abschreckung und Vergeltung“ stehen“. Auch Rechtsanwältin Valérie Dupong ist skeptisch, wenn es um eine Grundsatzreform des Jugendschutzes geht. Obwohl sie auch Vorteile eines Jugendstrafrechts sieht: „Würden jugendliche Straftäter auf der Grundlage ihrer Taten verurteilt, könnten ei­nige Rechtsunsicherheiten, die für Eltern und Jugendliche heutzutage bei einer Überweisung ins Heim oder Gefängnis entstehen, möglicherweise behoben werden“. Im Falle eines Jugendstrafverfahrens gilt, wie im Erwachsenenstrafrecht auch, die Unschuldsvermutung: Der Richter müss­te in alle Richtungen ermitteln; beim Jugendschutzverfahren geschieht das nicht immer zumal die Gerichte völlig überlastet sind.  Die „Pandorabüch­se öffnen“ will Dupong trotzdem nicht und verweist auf jüngste Debatten in Frankreich und Deutschland: Rechte Hardliner wie Nicolas Sarkozy oder der CDU-Politiker Roland Koch in Hes­sen drängen darauf, die Strafmün­dig­keit von 18 auf 12 Jahre und jünger herabzusetzen. Zugleich werden die Ausgaben für Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen beständig gekürzt.

Ein hartes Durchgreifen gegenüber jugendlichen Intensivtätern ist grundsätzlich in Luxemburg möglich: Ein Minderjähriger kann nach Erwachsenen-Strafrecht belangt werden, sofern er zum Zeitpunkt der Tat nicht jünger als 16 Jahre ist und das Jugendgericht den Fall nach eingehender Prüfung selbst an die Strafkammer weiterleitet. Wie oft die Ausnahmeregelung zum Einsatz kam und welche Straftaten ihr zugrunde lagen, ist eine von vielen weiteren Unklarheiten den Jugendschutz betreffend. Solange aber niemand sagen kann, wie viele Jugendliche von Luxemburgs Jugendgerichten zu welchen Erziehungsmaßnahmen verdonnert werden – und was diese nützen, kann man sich die Mühen einer Reform eigentlich auch gleich sparen. 

Ines Kurschat
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