Zu bürokratisch, zu undurchsichtig und zu teuer. Mit der neuen Regierung kommt eine Reform der Chèques-service

Systemkritik

d'Lëtzebuerger Land du 26.10.2018

Es ist ein kurzer Satz im Wahlprogramm der DP – und doch lässt er aufhorchen: „Das System zur finanziellen Unterstützung der Kinderbetreuung erweist sich als schwerfällig und intransparent. Die DP wird das System abschaffen und durch ein neues ersetzen.“ Geschrieben haben ihn die Berater um den liberalen Noch-Erziehungsminister Claude Meisch.

Dass seine Partei nicht froh mit den so genannten Chèques-service ist, war im Programm zu den Wahlen 2013 zu lesen – und noch früher: In einem Positionspapier der Liberalen zur Frühförderung statt Kinderversorgung. Darin hieß es: „Das Konzept der Chèques services, das unter anderem dazu gedacht war, gerade Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwächeren Milieus den Zugang zu öffentlichen Betreuungsstrukturen zu ermöglichen, ist fehlgeschlagen, weil es eine isolierte, auf die finanzielle Seite konzentrierte Maßnahme darstellt.“ Die Liberalen wollten das System überprüfen und forderten eine landesweite Gratisbetreuung. „Die DP hat in der Vergangenheit unmissverständlich klar gemacht, dass Kinderbetreuung auf Dauer gratis angeboten werden muss, weil sie nicht zuletzt durch den Frühförderungsaspekt als Ergänzung zur öffentlichen Schule anzusehen ist.“

Eine flächendeckende Gratisbetreuung hat die DP in den fünf Jahren Regierungsbeteiligung nicht eingeführt. Aber das Angebot weiter ausgedehnt (zwischen 2009 und 2017 hat sich die Zahl der Kindergartenplätze mehr als verdoppelt auf inzwischen über 56 300 Einheiten), verbindliche Qualitätskriterien für beide – konventionierte und private – Einrichtungen beschlossen sowie 20 Stunden staatlich finanzierte Sprachförderung auf Französisch und Luxemburgisch für Kleinkinder zwischen ein und vier Jahren umgesetzt.

Wobei gratis irreführend ist: Im Staatshaushalt schlagen die 20 Stunden, die derzeit von 94 Prozent der betreuten Kinder genutzt werden, mit über 80 Millionen Euro zu Buche. Dabei ist nicht berücksichtigt, was der Staat insgesamt für die Kinderbetreuung ausgibt: In den vergangenen acht Jahren sind die Ausgaben um 328 Prozent gestiegen und belaufen sich inzwischen auf über 300 Millionen Euro jährlich, Tendenz steigend.

Die Kosten sind ein Grund, warum die DP die Finanzierung der Kinderbetreuung oder der non-fomalen Bildung, wie sie auch genannt wird, überdenken will – und Kritik aus der Branche: Die Fédération luxembourgeoise des services d‘éducation et d‘accueil pour enfants (Felsea) klagt, die derzeitige staatliche Unterstützung reiche „hinten und vorn nicht aus“. Das liegt laut Felsea-Präsident Arthur Carvas vor allem daran, dass die Ansprüche an Qualität und Betreuung gestiegen, die Tarife aber seit der Erhöhung 2012 nicht mehr an den Index angepasst worden seien. „Seit der Reform müssen die Träger mehr für Personal und Betriebskosten ausgeben.“

Hinzu kommt die Schwerfälligkeit des Rechensystems. Zwar wurde eigens eine Verwaltung geschaffen, die für die Gemeinden die Beträge ausrechnet, die Eltern für die Betreuung der Kleinen zu entrichten haben, abzüglich Gratisstunden und mit Berücksichtigung der Chèques-service. Derzeit kofinanziert der Staat bis zu 60 Betreuungsstunden pro Kind und Woche und das maximal während 46 Wochen im Jahr. Der maximale staatliche Tarif liegt bei sechs Euro pro Kind und Stunde. Den Rest steuern die Eltern, die die Chèques-service bei der Gemeinde beantragen müssen, je nach Einkommen bei.

Doch obwohl die Anträge digital verarbeitet und die Rechnungen automatisiert erstellt werden, geschehen immer wieder Fehler, sind Angaben unvollständig, falsch oder nicht aktuell. Sei es, weil Eltern umgezogen sind oder weil aufgrund von Krankheit oder Scheidung Kinder länger oder kürzer als bisher betreut werden müssen. Seitdem alle Träger ermahnt wurden, nur jene Stunden im Rechnung zu stellen, die auch wirklich geleistet beziehungsweise vertraglich vereinbart wurden, sind Kostenentwicklungen nachvollziehbarer geworden, aber Beschwerden wegen fehlerhafter Rechnungen sind weiter gang und gäbe. Die Féderation des acteurs du secteur social (Fedas) schlägt zur Vereinfachung eine App für die Eltern vor, die auf dem Handy ihre individuelle Kostenabrechnung einsehen und Änderungen direkt und unkompliziert eingeben könnten.

Dass das System der Chèques-service komplett überarbeitet wird, scheint politisch beschlossene Sache. Die Frage ist indes – wie? Komplett gratis? Nicht nur die DP sieht Handlungsbedarf, auch bei Déi Gréng steht das Thema Betreuung auf der Wunschliste ganz oben. Ihr Wahlprogramm sagt wenig über Finanzierungsfragen aus, außer dass es zum „gesellschaftlichen Auftrag der öffentlichen Hand [gehört; die Redaktion] für eine flächendeckende, qualitativ hochwertige und kostenlose Bildungs- und Betreuungsangebote Sorge zu tragen“. Ob Fremdbetreuung prinzipiell gratis angeboten werden soll oder nur bestimmte Teilbereiche, ist unklar. Auch die Grünen pochen auf hohe Qualität, einen besseren Betreuungsschlüssel und wünschen strengere Kriterien für Ernährung und Pflegeprodukte. Ein „besseres Internetportal und innovative Betreuungsmodelle“ sollen den Eltern bei ihrer Suche nach einem geeigneten Krippenplatz helfen. All das kostet.

Allerdings muss das nicht heißen, dass die neue Regierung die außerfamiliale Kinderbetreuung deshalb in den kommenden Jahren komplett kostenfrei zur Verfügung stellen wird. Dass öffentliche Dienstleistung nicht automatisch umsonst meint, haben die Grünen bei der Diskussion um die Fahrpreise gezeigt. Waren sie früher für einen flächendeckenden Gratistransport eingetreten, hat die Partei ihre Position inzwischen geändert – seitdem ein grüner Minister das Ressort betreut und sieht, was für zusätzliche Kosten ein solches Angebot verursachen würde und dass die gewünschte Effekte wahrscheinlich ausblieben.

Gefragt, wie sich die Grünen bezüglich der Chèques-service in den Verhandlungen positioniert, äußert sich deren sozialpolitische Sprecherin Josée Lorsché verhalten. Erst müssten „konzeptuelle und inhaltliche Fragen“ geklärt werden, ehe man über die Finanzierung sprechen könne, so Lorsché. Déi Gréng fordern mehr öffentliche Ganztagsschulen und die engere Verzahnung von Schule und Fremdbetreuung, wodurch sich auch die Frage der Finanzierung anders stellen könnte.

Die LSAP hat bei den Wahlen verloren und kann froh sein, überhaupt am Verhandlungstisch zu sitzen. Das Thema Bildung hat die Partei bisher eher lustlos begleitet, Folge eines Ressortdenkens, das obwohl die Dreierkoalition betont hatte, es aufbrechen zu wollen, trotzdem bei ihr vorherrschend war. Zudem gibt es bei den Sozialisten nach wie vor keine Spezialisten in Sachen Familien- und Bildungspolitik. Im Wahlprogramm setzten sie den Akzent auf mehr Qualität in der frühkindlichen Förderung und forderten, wie die Grünen und die DP, Ganztagsschulen. Im Mittelpunkt stand, inwiefern diese Leistungen öffentlich, durch konventionierte Träger, erbracht werden sollten und welche Rolle die privaten Einrichtungen dann übernähmen. Zur Finanzierung hieß es im Programm nur, dass das Netz, das die Sozialisten landesweit ausbauen wollen, erschwinglich und „weitgehend im Einflussbereich der Kommunen und der öffentlichen Hand bleiben soll“.

Unterm Strich bedeutet das, dass einer Reform der Finanzierung der Kinderfremdbetreuung mit der alten-neuen Regierung nichts im Wege steht. Es gibt eine inhaltliche Schnittmenge zwischen den Positionen der drei Koalitionsparteien, eine solche Generalüberholung der Chèques-service anzugehen. Ausdrücklich im Programm stand sie nur bei den Liberalen, aber die anderen Wahlprogramme schließen sie zumindest nicht grundsätzlich aus. Dafür, dass die Reform bald kommen wird, spricht auch, dass in der zuständigen Abteilung im Erziehungsministerium eine Ökonomin des Liser-Instituts rekrutiert wurde. Nach Land-Informationen mit dem erklärten Ziel, das schwerfällige Finanzierungssystem im Detail zu analysieren und nach Alternativen zu suchen. Offenbar wird im Ministerium schon eifrig gerechnet.

Ob die Reform der Dienstleistungsschecks unter Claude Meischs Führung geschehen wird, ist indes noch nicht sicher. Die Verhandlungen haben gerade erst begonnen und die Ministerposten sind offiziell noch nicht vergeben. Einige Wochen hat Formateur Xavier Bettel für die Verhandlungen angesetzt, bevor er die neue Regierungsvereinbarung vorstellen will. Die Lehrergewerkschaft SEW fordert hämisch, Meisch müsse das Erziehungsministerium abgeben oder zumindest seine Politik überdenken. Schließich hat der Politiker bei den Kammerwahlen vom 14. Oktober deutlich an Zustimmung verloren; er stürzte in der Wählergunst von 22 255 Stimmen im Jahr 2013 auf 15 527 ab und liegt jetzt hinter Senkrechtstarter Pierre Gramegna auf dem zweiten Platz im Südbezirk. Allerdings hat Meisch einen Trumpf: Er kennt die Ressorts Bildung, Jugend und Kindheit nach fünf Jahren an der Spitze aus dem Effeff – und wer von den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Parteien will sich wirklich in die technisch komplizierte und politisch nicht sonderlich beliebte Materie hineinfuchsen?

Ines Kurschat
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