Gemeindewahlen

Nationale Testwahl

d'Lëtzebuerger Land du 16.09.2011

Ziemlich verschlafen liegt Tandel an einem sonnigen Spätsommertag zwischen Diekirch und Vianden, frisch gestrichen und gefegt inmitten saftig grüner Wiesen und sauber unterhaltener Wälder. Dass in einem Monat Gemeindewahlen stattfinden, ist nirgends zu bemerken. In einer kleinen Majorzgemeinde gibt es keine Parteien, die Plakate anschlagen, selbst wenn der Bürgermeister CSV-Abgeordneter ist. Wahlen sind in Tandel sowieso nicht nötig, weil es bis vergangenen Freitagabend genau so viele Kandidaten wie Mandate gab. Wovon soll Politik auch handeln in diesen zu Ökomuseen herausgeputzten Klimaschutzbündnis-Dörfern, wenn die größten Probleme etwas zu viele Autos auf der Durchfahrt, etwas zu viel Müll zum Sortieren und etwas zu viele Kinder für die fair gehandelten Mahlzeiten in den Maisons relais sind?

Dabei hatte LSAP-Präsident Alex Bodry schon im Frühjahr gemeint, der Ausgang der Gemeindewahlen am 9. Oktober werde auch Auswirkungen auf die nationale Politik haben. Wobei er allerdings an die Proporzgemeinden dachte, wo die Parteien um das Sagen in den Schöffenräten kämpfen. Ein Wahlerfolg der Sozialisten auf Gemeindeebene ist für Bodry unumgänglich, um die übermächtige CSV auf Landesebene in Schach zu halten.

Falsch, antwortete CSV-Präsident Michel Wolter diese Woche. Gemeindewahlen seien keine nationalen Wahlen, die Erfahrung lehre, dass die Wähler sie, anders als im Ausland, nicht benutzten, um nationalpolitische Akzente zu setzen. Die Sozialisten, stichelte Wolter, erhofften sich bloß von einem guten Abschneiden bei den Gemeindewahlen einen Trost für ihr schlechtes Abschneiden bei den Landeswahlen vor zwei Jahren.

Worauf Alex Bodry seinerseits wohl ein Leichtes hätte, zu antworten, dass die CSV die nationale Bedeutung von Gemeindewahlen bestreite, weil sie auf kommunaler Ebene immer nur die zweitstärkste Partei und seit den letzten Gemeindewahlen in keiner der größten Städte mehr an der Macht sei.

Wenn Parteipräsidenten über die nationalpolitische Bedeutung von Gemeindewahlen streiten, dürfte dies ein sicheres Indiz dafür sein, dass Kommunalwahlen von nationalpolitischer Bedeutung sind. Auch wenn es riskant sein kann, die Wähler daran zu erinnern. Denn mehr noch als Wolters CSV könnte Bodrys LSAP die Zeche für die Anfang des Jahres in Kraft getretenen Steuererhöhungen zu zahlen bekommen. Dies lassen zumindest die rezenten Prognosen für die Kammerwahlen vermuten; sie bescheinig[-]ten im Sommer beiden Regierungsparteien Verluste in allen Wahlbezirken.

Doch schon unabhängig vom Wahlergebnis ist die Zahl der Kandidatenlisten, die eine Partei bei den Gemeindewahlen in den Proporzgemeinden aufstellen kann, ein deutlicheres Indiz als die Parlamentswahlen dafür, wie breit ihre Mitgliederbasis ist. Ob die Zahl der Listen mit dem Entstehen neuer Proporzgemeinden Schritt halten kann, zeigt, wie dynamisch sich die Partei entwickelt, wie gut sie organisiert ist, ob sie weiter Zuspruch genießt oder ob die passiven und wohl auch aktiven Wahlberechtigten das Interesse an ihr verlieren. Zudem zeigt ihre Anwesenheit oder Abwesenheit in den unterschiedlichen Regionen des Landes – den Mittelschichtenbastionen um die Hauptstadt, den Arbeiterstädten des Südens, den ländlichen Gemeinden des Ostens oder Nordens – ihre Verwurzelung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten.

Seit vergangenem Freitag ist klar: CSV und LSAP behaupten sich als die große rechte und linke Volkspartei. Sie treten erneut als einzige in 43 Proporzgemeinden an mit – dank dem fusionierenden Küntzig – 44 Listen. In Kopstal und Lorentzweiler, die noch bis vor kurzem Majorzgemeinden waren, haben die LSAP-Mitglieder allerdings noch die Namen Är Equipe beziehungsweise Är Leit beibehalten. Was das CSV-Generalsekretariat am Wochenende bewog, eine gegen den Koalitionspartner gerichtete Presseerklärung zu verbreiten, laut der die CSV „als einzige luxemburgische Partei“ in allen Proporzgemeinden „mit einer eigenen CSV-Liste, auf der ausschließlich CSV-Mitglieder antreten, präsent“ sei. Denn die CSV als national stärkste Partei kann es den Sozialisten nicht verzeihen, dass sie auf Gemeindeebene die stärkste der Parteien sind.

Zwischen CSV und LSAP ist traditio[-]nell Platz für eine dritte, fast so große Partei. Um diesen Platz streiten sich mit zunehmender Vehemenz DP und Grüne. Im Parlament hat die DP inzwischen nur noch zwei Sitze mehr als die Grünen, und laut den im Sommer veröffentlichten Wahlprognosen würden beide Parteien mittlerweile auf dieselbe Zahl Mandate kommen.

Gab es bei der Zahl der Listen 2005 noch keine nennenswerte Kräfteverschiebung, könnten die Grünen diesmal deutlich auf Kosten der DP zulegen. Zu den Gemeindewahlen haben die Grünen zehn Listen mehr aufstellen können als 2005, die DP nur drei. Berücksichtigt man, dass die Zahl der Proporzlisten um sieben zugenommen hat, bedeutet dies für die DP einen Rückschritt, für die Grünen einen Fortschritt. Der Anteil der DP-Listen ging um neun Prozentpunkte zurück, während derjenige der Grünen um zwölf Prozentpunkte zunahm. In diesem Rhythmus würden die Grünen 2017 mindestens so viele Listen präsentieren wie die DP. Dies zeigt, wie es der kleinen grünen Kaderpartei nach und nach gelingt, sich eine lokale Basis zu schaffen. Wobei sie natürlich Nutzen daraus zieht, dass die grünen Themen, wie Naturschutz, Verkehrsberuhigung und Kinderbetreuung, ohnehin zuerst kommunalpolitische sind. Bei der DP scheinen die Gemeinden dagegen nicht die ersten, sondern derzeit eher die letzten Machtpositio[-]nen ihrer nationalen Politiker.

Die Gemeindewahlen sind auch ein Zeichen für den bereits bei den Parlamentswahlen beobachteten Niedergang der ADR. Als Rentner- und Protestpartei hatte sie es selbst in ihrer Blütezeit schwer, politische Themen zu finden, mit denen sie kommunalpolitisch Fuß fassen konnte. Während die Zahl der Proporzlisten seit 1999 von 33 auf 44 gestiegen ist, ging die Zahl der ADR-Listen in derselben Zeit von 14 auf zehn zurück, ihr Anteil fiel von 42 auf 23 Prozent.

Der landespolitische Einfluss der Gemeindewahlen zeigt sich auch deutlich links von der LSAP. Denn déi Lénk, die 2005 mit lediglich zwei Listen angetreten war, präsentiert diesmal deren sechs. Selbst die wiederholt totgesagte Kommunistische Partei erhöhte die Zahl ihrer Listen von vier auf fünf, auch wenn diejenige in der Hauptstadt unvollständig ist. Wie seit jeher, konzentriert sich beider Präsenz aber auf die Arbeiterstädte des Südens und die Hauptstadt. Es dürften vor allem die Wirtschaftskrise und die nationale Krisenpolitik gewesen sein, die beide Parteien zusätzliche Kandidaten finden ließen.

Bemerkenswert stabil bleibt die Gliederung des politischen Spektrums. Die Zahl der mehr oder weniger parteiunabhängigen Listen bleibt unverändert gering. Zudem handelt es sich dabei nicht um neue Listen, sondern um bereits seit einigen Wahlgängen etablierte Splitterlisten, wie die Bürgeriniative der Gemeinde Kerschen (BIGK) in Küntzig, die Bierger Lëscht des ehemaligen Abgeordneten Aly Jaerling in Esch-Alzette, die Schëtter Bierger, die Fräi Lëscht des ehemaligen Majorz-Bürgermeisters Ferd Unsen in Rambruch und die gerade in Fräi Bierger Partei (FBP) umgetaufte Alternativ Partei Eechternoach des Immobilienhändlers Jean Dostert – sie beantragt schon prophylaktisch eine Annullierung der Gemeindewahlen, weil ihre Kandidaten angeblich eingeschüchtert worden seien. Är Equipe in Frisingen ist die Liste von Bürgermeister Claude Wiltzius in der einst ADR-regierten Majorzgemeinde, die Offene Liste in der neuen Proporzgemeinde Betzdorf besteht vorwiegend aus DP-Mitgliedern.

Dass die Gemeindewahlen auch eine nationalpolitische Bedeutung haben, zeigen die Wahlziele, die sich die Parteizentralen gesetzt haben. Die LSAP will ihren Spitzenplatz und ihre von sozialistischen Bürgermeistern regierten Hochburgen im Süden verteidigen. Die CSV will wenigstens wieder in einen der Schöffenräte der größten Städte kommen. Die DP muss ihren Rückgang stoppen, die Grünen wollen in zusätzliche Schöffenräte kommen und beide Parteien müssen ihre Macht in Luxemburg und Differdingen verteidigen. Die ADR hofft, am 9. Oktober überhaupt noch in irgendeinem Gemeinderat präsent zu sein, und déi Lénk wäre heilfroh, wieder in den hauptstädtischen Gemeinderat zu kommen. Dasselbe wünschen sich die Kommunisten für ihren Parteipräsidenten in Differdingen.

Romain Hilgert
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