Die kleine Zeitzeugin

Das beliebte Schnellgericht

d'Lëtzebuerger Land vom 26.10.2018

Alles ist so schnell bekanntlich, schnelles Fahren, schnelles Essen, schneller Sex. Schnelles Liken, und schnelles Haten, obwohl es dazwischen so viel gibt, die ganze Farbpalette des Lebens und eine riesige Grauzone, aber die Zone des Grauens ist beliebter. Daumen rauf, Daumen runter, Daumenschraube. Urteilen, Vierteilen – wer soll da nicht gerädert sein?

Jeder ist jetzt ein Richter. Es ist schrecklich, zu richten. Aber trotzdem sehr beliebt.

So ein Nazi! So eine Linksversiffte! So ein, pfui, alter weißer Mann! So ein, pfui, junger schwarzer Mann! So eine Me-Too-Hysterikerin!

Die meisten von uns haben ja praktischerweise ein Lieblingsfeindbild, ohne das sie gar nicht mehr sein können. Das Leben ohne dieses Feindbild ist irgendwie so ohne. Die Kirche oder der Islam oder die Veganerinnen oder die Fleischesser, es gibt wirklich genug Auswahl. Und wofür auch immer wir uns entscheiden, sicher finden wir Verbündete, Wutbrüder und -schwestern, bei denen wir Verständnis finden. Oder gar Einverständnis.

Weil den Hausfrauentratsch gibt es leider nur noch im Volkstheater und die Stammeltische im Dorfmuseum, und wenn Mensch allein mit sich selber mit der Faust auf den Tisch schlägt, macht es keinen Spaß, nur die Faust tut weh. Aber niemand muss mehr in der Isolationshaft an dem würgen, was das Leben ihm zumutet, niemand muss mehr eine Mörderinnengrube aus ihrem Herzen machen. Überall gibt es Solidarität.

In freundlich temperierten Bläschen zum Beispiel, in denen wir uns einig fühlen, die, die sich wir nennen, in denen wir herumplätschern, am liebsten ungestört. Nazis raus, bitte! Und bitte auch solche, die pathologisch trollen, sollen sich trollen. Bitte nicht stören! Es ist gerade so nett hier. Im Grüppchen der Gleichgesinnten, die sich gegenseitig bedauern und empowern, die sich virtuelle Streicheleinheiten zukommen lassen.

Streicheleinheit herrscht, eigentlich eine gute Sache. Weil es ja um die gute Sache geht, letztendlich, worum denn sonst? Und irgendwo muss man sich ja gut fühlen können, draußen ist es oft so abweisend, die Frauen sind neuerdings auch so abweisend. Wenn Mensch in ein zu seinem Profil ein wenig passendes Grüppchen reinschaut, mit einem einigermaßen passenden geilen Feindbild, wird ihm wohlig, eine Art Wellness hier! Und trotzdem nicht fad, echt stark, mit den Wutbürgern zu schäumen, mit den Wölfinnen zu heulen. Und wenn sich die Fieberblase dann entlädt und das Hassobjekt überschwemmt, super orgiastisch!

Besonders reizvoll wird es, wenn es zu Menschenopfern kommt, mit Blut, aber es ist nur Kino. Es ist nur soziales Medium. Die Wahrheit spricht durch unsern sozialen Medienmund, wir brauchen keine Lügenpresse mehr und keinen plumpen Rechtsapparat, der immer auf der falschen Seite steht. Wir nehmen alles selber in die Hand und den Mund. Das Recht wird vom Medienvolk gesprochen, und Fernsehmoderatoren knöpfen sich Schuldige vor, die Unschuldsvermutung gilt. Wobei das bitte nicht das gleiche ist wie Schuldige aufknüpfen, Nuance! Wir können den Stab über jemand brechen, während wir uns den Ketchup unseres Burgers aus den Mundwinkeln reiben, während wir uns im Stau oder an der Supermarktkasse mal schnell durch das Erregungsangebot scrollen. Schnell mal kurzen Prozess machen, schnell mal jemand an die Gurgel gehen! Wir können die Dinge benennen und die Menschen beim Namen nennen. Schnell mal die Sau, in letzter Zeit auch gern mal den Eber durchs virtuelle globale Dorf treiben, oder auch nur durch die virtuelle Provinz. Schnellgerücht, Schnellgericht. Na und?

Was, du hast Fragen? Was gibt es da zu fragen?

Du willst nicht gleich einen Stein werfen, irgendwie widerstrebt dir das?

Auf welcher Seite stehst du eigentlich? Du weißt es nicht? Du weißt nicht, wer recht hat? Du enthältst dich? Tränen rühren dich nicht zu Tränen? Du bist nicht solidarisch?

Alte Männer sind auch Menschen? Auch Frauen sind nur Menschen? Auch du bist nur ein Mensch?

Höchst verdächtig.

Michèle Thoma
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