Joseph Kinsch

Der letzte Stahlbaron aus dem Hause Luxemburg

d'Lëtzebuerger Land du 28.10.2022

Luxemburg rühmte sich jahrzehntelang seiner weltgrößten Stahlproduktion pro Einwohner. Die Stahlindustrie machte ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Ihre Beschäftigtenzahl entsprach der Einwohnerzahl der zweitgrößten Stadt des Landes. Schmelzherren saßen im Parlament. Danach finanzierten sie Parteien und Zeitungen. Sie übten Wohlfahrt und Mäzenatentum. Ihre Rohstoff- und Absatzmärkte waren die Außenpolitik. In ihren Erzgruben und Eisenhütten erstarkte eine moderne Arbeiterbewegung.

Die Stahlindustrie ist nicht wie andere Industrien. Sie braucht gewaltigere Mengen konstanten Kapitals. Sie unterliegt ausgeprägteren zyklischen Schwankungen. Sie ist von strategischer Bedeutung für ein Land. Das alles macht die Konzentration ihres Kapitals ökonomisch notwendig und politisch schwierig. In Hochkonjunkturen brauchte die Stahlindustrie Zehntausende Arbeiter, Ingenieure, Handwerker, Buchhalter, Sekretärinnen. Das ermöglichte ab und zu den sozialen Aufstieg.

Léon Kinsch stammte aus Hassel. Er zog nach Esch-Alzette und brachte es bei der Arbed zum Vorarbeiter. 1933 wurde er Abgeordneter der Rechtspartei. Er blieb es bis ins 83. Lebensjahr. Eines seiner zwölf Kinder, Ferd Kinsch, stieg bei der Arbed zum Prokuristen auf. Ferd Kinschs Sohn Joseph Kinsch erreichte die Spitze der Arbed. Er brachte es zum Vorsitzenden der Generaldirektion und zum Verwaltungsratsvorsitzenden. Nicht durch Erbfolge, wie die Großbürger im 19. Jahrhundert, die Metz, Brasseur, Pescatore. Durch den Managerkapitalismus im 20. Jahrhundert: Die Trennung von Besitz und Leitung der Unternehmen. Durch die Autonomie der angestellten und mit Aktien interessierten Direktoren.

Joseph Kinsch wird während der Weltwirtschaftskrise 1933 in Esch geboren. Nach dem Krieg studiert er in Saarbrücken Ökonomie. Wie die junge Ruth Lauxen. Sie heiraten 1961 in der Eifel. Zur selben Zeit kommt Joseph Kinsch in die Verwaltung der Burbacher Hütte. Das „B“ in Arbed steht für Burbach.

Ein Jahr später kehrt er nach Luxemburg zurück. An den „Schloss“ genannten Firmensitz der Arbed. Größte Aktionäre der Arbed sind die Société Générale de Belgique und die französische Schneider et Cie. Zu der Zeit produziert Luxemburg vier Millionen Tonnen Stahl jährlich. Die Schwerindustrie betreibt zwei Dutzend Erzgruben, 30 Hochöfen und sieben Walzwerke. Sie beschäftigt mehr als 24 000 Menschen. Diese setzen über die Jahrzehnte einen modernen Sozialstaat durch.

Der Wiederaufbau nach dem Krieg, der wachsende Massenkonsum brauchen Stahl. Für Brücken, Autos, Waschmaschinen. Die Luxemburger Stahlproduktion steigt bis 1974 auf 6,5 Millionen Tonnen. Dann stürzt sie in eine tiefe Überakkumulationskrise. Die Tripartite beschließt einen historischen Klassenkompromiss: Der Staat bezuschusst einen Arbeitsplatzabbau ohne Entlassungen, die Gewerkschaften verzichten auf die Verteidigung der Arbeitsplätze.

1980 wird Joseph Kinsch Mitglied des Direktionskomitees der Arbed. Er ist für die Finanzen zuständig. Die hochverschuldete Arbed ist von der Zahlungsunfähigkeit bedroht. Die Aktionäre und befreundeten Banken halten sich zurück. Luxemburg ist nicht Lothringen: Die Stahlindustrie ist „too big to fail“. Der Staat zahlt wieder. Er erhebt eine Solidaritätssteuer und erhöht die Mehrwertsteuer.

Das sorgt für Unmut außerhalb des Südbezirks. Präsident Emmanuel Tesch nennt die Arbed am 19. Dezember 1980 „Prügelknabe der Nation“. Die liberale Wirtschaftsministerin Colette Flesch kommt aus dem Zentrumsbezirk. Sie zählt die Arbed am 8. Oktober 1983 zu den „industries crépusculaires“. Regierungsberater Jean Gandois zweifelt an der Überlebensfähigkeit einer Luxemburger Stahlindustrie. Die Arbed ist halb verstaatlicht: 42,9 Prozent der Aktien sind in öffentlicher Hand.

1958 kaufte der Journalist Leo Kinsch d’Lëtzebuerger Land. Die in der Handelskammer gegründete Wochenzeitung gilt lange als „Arbedszeitung“. 1983 stirbt der Eigentümer. Sein Bruder, Joseph Kinsch, übernimmt den Vorsitz des Verwaltungsrats. Er verteidigt die redaktionelle Unabhängigkeit. Er drängt alle Aktionäre, ihre Anteile einer gemeinnützigen Stiftung zu überlassen. Er unterstützt den Cercle des Amis de Colpach. Als Ideal eines aufgeklärten, liberalen Großbürgertums der Zwischenkriegszeit.

1992 wird Joseph Kinsch Präsident der Generaldirektion. Nach dem Tod von Georges Faber 1993 auch Verwaltungsratsvorsitzender. Nun ist er der unangefochtene Stahlbaron. Er ist klug und unnachgiebig. Unter seiner Leitung gibt sich die Arbed nicht mit dem Schicksal einer „industrie crépusculaire“ zufrieden.

Mitte der Neunzigerjahre stabilisiert sich die Stahlproduktion. Die Arbed stimmt ihre Produktpalette mit der französischen Usinor ab. Belval und Differdingen walzen Spundbohlen und Grey-Träger für Brücken, Hafenbecken und Hochhäuser in aller Welt. Die Arbed stellt gegen Widerstand von links und rechts ihre Stahlproduktion auf Elektroöfen um. Sie schmelzen Schrott ein. 1997 legt sie den letzten mit Erz und Koks aus Übersee betriebenen Hochofen still. CSV-Politiker machen ein Staatsbegräbnis daraus.

Die Handelskammer ist die durch Gesetz institutionalisierte Interessenvertretung von Industrie und Handel. Seit 1884 fällt ihr Vorsitz den Schmelzherren und nach 1911 den ArbedPräsidenten zu. Der neue Arbed-Präsident Joseph Kinsch wird umgehend Präsident der Handelskammer.

1979 wurde der OGBL gegründet. Joseph Kinsch drängt alle Unternehmervereine in eine „Einheitsgewerkschaft“. 2000 wird der Dachverband Union des entreprises luxembourgeoises gegründet. Joseph Kinsch ist der erste UEL-Vorsitzende. Er ist der unangefochtene „patron des patrons“. Er sitzt in zahlreichen Verwaltungsräten, von der Banque générale bis Ciments luxembourgeois. Die Unternehmer treffen sich im Golf-Club Grand-Ducal, im Cercle Münster, im Tennisclub der Schéiss, deren Vorstände er angehört.

Die Konzentration der Stahlindustrie geht weiter. Um Produktionskosten zu sparen, Großkunden zu bedienen, Preise zu diktieren. Die Arbed kauft Stahlwerke in Bremen und Thüringen. Sie erhöht ihre Beteiligungen an Sidmar in Belgien und an Belgo Mineira in Brasilien. Sie kauft ein Drittel des spanischen Konzerns Aceralia.

2002 unterschreibt Joseph Kinsch die Fusion der Arbed mit Aceralia und Usinor zu Arcelor. Der Konzernsitz ist in Luxemburg. Joseph Kinsch ist der Verwaltungsratsvorsitzende. Drei Jahre lang ist Arcelor der größte Stahlproduzent der Welt. Dann produziert Mittal Steel mehr. Die Firma kauft rund um die Welt Stahlwerke auf. 2005 überbietet sie Arcelor bei der Privatisierung von Kryworischstal in der Ukraine.

Das Finanzkapital triumphiert in den Achtzigerjahren über das Industriekapital. Oberstes Ziel ist die „shareholder value“: die Bereicherung der Aktionäre. Investitionsfonds und Banken sind nicht an langfristigen Investitionen interessiert. Sie verlangen Quartalsresultate.

Die Stahlindustrie muss ihre Schulden verringern. Sie muss investieren. Dieser Mehrwert fehlt für Dividenden. Die Enttäuschung der Anleger spiegelt sich im Kurs der Aktien wider. Sie gelten als „unterbewertet“. Mit bloß 5,6 Prozent des Kapitals ist der Luxemburger Staat der größte Einzelaktionär.

Das Arbed-Management befürchtet eine „feindliche“ Übernahme. Doch es ist ungenügend darauf vorbereitet. 2006 bietet Mittal Steel den Arcelor-Aktionären mehr als den Börsenkurs für ihre Aktien. Um eine Aktenmehrheit, die Kontrolle über Arcelor zu kaufen.

Joseph Kinsch organisiert gerade seine Nachfolge. Während Monaten bekämpfen und verraten sich Manager, Minister, Banken, Detektive und Werbeagenturen. Sie wollen die Unabhängigkeit von Arcelor verteidigen. Oder den Aktienpreis erhöhen. Oder ihre berufliche Zukunft sichern. Die Arcelor-Leitung versucht, die Übernahme mit juristischen Winkelzügen, einer Fusion mit der russischen Severstal, einem Aktienrückkauf zu verhindern. Die Aktionäre interessiert der Aktienpreis.

Am 26. Juni 2006 kündigt Joseph Kinsch die Kapitulation an. Die Übernahme wird als Fusion ausgeschmückt. Er nennt Arcelor-Mittal einen „mariage de raison“. In den großbürgerlichen Familien war das Vermögen wertvoller als die Liebe.

Lakshmi Mittal wird neuer Präsident. Joseph Kinsch bleibt zwei Jahre lang „chairman“. Dann tritt der 75-Jährige in den Ruhestand. Als Kaiser Sigismund: Als letzten Stahlbaron aus dem Hause Luxemburg.

Joseph Kinsch starb am Donnerstag vergangener Woche im Alter von 89 Jahren.

Romain Hilgert
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