Die Kleine Zeitzeugin

Erzähl mir deine Reise!

d'Lëtzebuerger Land vom 01.09.2023

Ich habe eine Ansichtskarte aus La Réunion bekommen. Ich bringe sie am Küchenschrank an, schaue sie an, und wenn jemand kommt, sage ich, schau, eine Karte aus Réunion!, wozu meist höflich genickt wird. Schau, sie haben mir eine Karte aus Italien geschickt!, sagte meine Bomi zur Nachbarin Ketti, wenn sie auf Besuch kam. Schau, sie haben aus dem Midi geschrieben! Am verglasten Bauernküchenschrank prangten die Ansichtskarten ihrer Kinder, die als Angehörige der aufstrebenden Mittelschicht die gerade aktuellen Urlaubsziele absolvierten. Die eitrig ins Meer sich ergießenden Sonnen, die Schaumkronen der Brandung, die schwarzen Palmen, Zeugnisse des Herumkommens ihrer Nachkommen in der Welt.

Die Ansichtskarte aus La Réunion schaut exakt aus wie die Ansichtskarten vor fünfzig Jahren ausschauten. Vermutlich hat sie so lange in dem Geschäft gelegen und darauf gewartet, dass noch eine Aussterbende auf so einen ausgestorbenen Gedanken kommt. All dieses analoge Umständliche …, sie finden, sie erstehen, Briefmarke, was ist das?, dann noch einen Briefkasten, Briefkasten, was ist das? Das muss Liebe sein, diesen prähistorischen Akt auf sich zu nehmen. Was früher ein verhasstes Anstandszeichen, ein nerviger Statusbeweis war, ein Feriennachmittag ging locker drauf mit Ansichtskartenverschicken. Bien le bonjour de! An Patentanten, Schulfreundinnen, die der gleichen Tortur unterzogen wurden, in Schönschrift auf mit dem Lineal gezogenen Zeilen.

Ob das Meer schmatzte oder schwatzte, und wie ihr euch durchgeboxt habt inmitten all der anderen, die sich auch durchboxten. Ob das Klima so war, wie ihr es gebucht hattet, oder so wie im Fernsehen. Ob ihr einfach nichts getan habt, nur der Sand rieselte durch die Finger, wie schon als Kind, das immer noch im Sand liegt. Erzähl mir dein Unterwegssein, Freundin! Und hast du die Klischees über Bord gehauen, weil sie nicht mehr zu dem Vorgefundenen passten, das sich leider an nichts hält? Oder gerade das Gegenteil? Und warst du plötzlich da, worum es die ganze Zeit geht bei der Herumrennerei? Daheim, hm, sorry, bei dir? Und hat’s weh getan?

Und dann?, frage ich. Und dann? Für einen Menschen mit Verhinderung wie ich einer bin ist, die Welt immer noch groß und weit. Und dann?

Aber hört mir auch zu, wenn ich zurückkomme! Vollgestopft von Erlebtem, beladen mit Blickbeute, aus allen Poren strotzen Geschichten. Aber die will grad keine. Grad hat niemand Zeit. Wenn man das Handy zückt und sagt: Schau! Schau! Das sind die Zinnen dieser Burg, und das ist die nette Frau, von der ich euch erzählen möchte. Jemand gähnt, jemand muss aufs WC. Gott sei Dank gibt es die gnädigen Däumchen der FB- Freund/innen.

Wir sind schließlich nicht mehr An der Uucht. Wir sind nicht mehr bei Karl May. Wir sind nicht mehr in Tausendundeiner Nacht: Alle sitzen ums Lagerfeuer, der Reisende lässt sich nieder, klopft sich den Staub von den Fußsohlen, und hebt an. Im Schein der Flammen erzählt er. Atemlos hängen sie an seinen Lippen.

Wir sind nicht mehr bei einem Dia-Abend der Sechzigerjahre. Der ultimativen Folter, direkt nach Zahnarzt und Mathe. Der postferialen Zeremonie, andächtig versammelt sich die Gemeinde der Heinkehrer/innen um Salzstangen und Knabbergebäck, um einander Trophäen des gelungenen Sommers zu präsentieren. Um der schönsten Zeit im Jahr zu gedenken. Sie zeigen sich vor Motorhauben und dem chronisch blauen Meer, die Frauen murmeln was von Kilos, immer zu viele, die Männer reden von Kilometern und von Grad, wie viele Kilometer, wie viele Grad. Von kochenden Autos und großen Glocknern. Immer. Jedes Jahr. Die Kinder stehen jedes Jahr größer und entblößter da in ihrer Ungelenkigkeit.

Wer braucht noch solche Rituale? Unterwegssein ist nichts Besonderes mehr, das Home-Office findet unter Palmen statt, die kulturell kapitalkräftigen Jungen switchen analog und selbstverständlich von Kontinent zu Kontinent, die munteren Boomer/innen grüßen von Achttausendern und aus Meeresengen, und die andern grüßen zurück: Schön dort, wir kommen grad von da! Während parallel andere, es gibt sie wie Sand am Meer, in Schrottkähne steigen. Deren Geschichten will allerdings schon gar keiner mehr hören.

Michèle Thoma
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