ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Eis Finanzplaz, eis Holding a Fongeplaz

d'Lëtzebuerger Land du 19.02.2021

Vor bald einem Jahr gewährte das Parlament der Regierung einstimmig Vollmachten zur Bekämpfung der Corona-Seuche. Im Interesse der Volksgesundheit gab es keine Parteien, keine Mehrheit, keine Opposition mehr.

Vergangene Woche hatten ausländische Zeitungen die hiesige Finanzbranche eine „Steueroase“ genannt. Dies schien wieder auf die Volksgesundheit zu schlagen. Denn DP, LSAP, Grüne, CSV und ADR marschierten erneut zur Union sacrée im Parlament auf. (Die Linke und die Piratenpartei moralisierten am Rande.)

In Deutschland hieß 1914 die Union sacrée „Burgfriede“. Sie war der chauvinistische Bankrott der Arbeiterbewegung. Nun meldete der LSAP-Fraktionsvorsitzende Georges Engel „eng Attack op eis Finanzplaz, op eis Holding- a Fongeplaz“. Auch wenn sie nicht „eis“ gehört, sondern den Inhabern einiger Billionen fiktiven Kapitals. Sie leisten sich mehrere Dutzend solcher „Plazen“ rund um den Globus.

Die Steigerung der kurzfristigen Shareholder value und der Druck auf die Löhne setzten in den letzten Jahrzehnten Kapitalmengen frei, die keine zufriedenstellende Rendite mehr in Produktion und Handel fanden. So breitete sich die intensive Akkumulation fiktiven Kapitals in der Wirtschaft und die extensive in der Gesellschaft aus. Die Finanzialisierung machte das zinstragende zur international beherrschenden Kapitalform. Zuvorkommend erklärte die Europäische Union den schrankenlosen Kapitalverkehr zu einer ihrer vier Grundfreiheiten.

Diesem modernen Geldadel verspricht „eis Finanzplaz“ eine Rückkehr zu den Privilegien des Ancien Régime. Damals waren Adel und Klerus von Steuerabgaben befreit. „Luxembourg UCIs [Undertakings for collective investment] are tax exempt“, wirbt EY (Investment Funds in Luxembourg, S. 375). Die Fiduciaire LPG wirbt auf ihrer Internetseite für Beteiligungsgesellschaften, deren „opérations financières (perception de dividendes, réalisation de plus-values) sont, sous certaines conditions, exonérées d’impôts“. Möglich sei „d’exonérer d’impôts à concurrence de 80% les revenus issus de la propriété intellectuelle“. Eine Société de patrimoine familial „est exempte de l’impôt luxembourgeois sur le revenu, sur la fortune et de l’impôt commercial communal“.

Die großen Staaten verschärfen die Besteuerung von Lohnabhängigen und Kleinbürgern. Sie wollen nicht, dass es auffällt, wie sie ihren Weltmarktfirmen und Millionären nur Krümel abverlangen. Mit gespielter Entrüstung lassen sie sie lieber in hilfsbereiten Zwergstaaten an der Grenze besteuern. Die werden mit einigen Krümeln fett. Bei der steuerfreien Verschiebung fremder Dividenden und Zinsen genießt das Großherzogtum die Protektion der anderen europäischen Staaten und der USA: Sie alle haben mit Luxemburg Abkommen zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung getroffen.

Georges Engel machte die Rechnung: „4,4 Milliarde Recetten, déi aus dem Finanzsektor komm sinn, dat sinn 52 Prozent vun eise Gesamtrecetten.“ Sie ermöglichen einen entwickelten Sozialstaat, also das Überleben der Sozialdemokratie.

Das hat seinen Preis: Am Ende halten lokale Abgeordnete die Interessen des globalen Finanzkapitals für die ihren. Geschäftsanwälte sind zugleich Abgeordnete, Minister werden Bankiers, Steuerberater werden Staatsräte. Die Niederlassung und Verwaltung von Gesellschaften lassen Anwaltskanzleien und lokale Dienstleister wuchern – in Macau zählten sie zur Kompradorenbourgeoisie, Eduardo Galeano nannte sie „nuestra burguesia de comisionistas“ (Las venas abiertas de América Latina, S.8). Politiker, Beamte und Lobbyisten sitzen zusammen, um Gesetze zu schreiben. Zentralbank und Bankenaufsicht werben für die Finanzbranche. Die vier Großen der Steuervermeidungsindustrie beschäftigen doppelt so viele Leute wie die Stahlindustrie. Sie arbeiten an Koalitionsabkommen, am Staatshaushalt und an der Verwaltung der Volksgesundheit mit.

Romain Hilgert
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