Als Premier Luc Frieden am Mittwoch kurz nach 17 Uhr im Parlament nach der Debatte über seine Erklärung zur Lage der Nation zum Schlusswort ansetzt, provoziert er einen kleinen Eklat: Er sitze schon seit neun Uhr hier und es sei schwer, sich zu konzentrieren. „Et muss ee sech vläicht wirklech iwwerleeën, ob mir net alleguerten, fir d’Effikassitéit vun der Organisatioun vun der Chamber, op méi kuerz Riedzäiten…“ Im Saal kommt Unruhe auf. Frieden sagt schnell, er meine vor allem sich selber; seine Rede sei auch zu lang gewesen. Doch der Zusammenstoß mit der Opposition ist nicht mehr aufzuhalten. „Här Premierminister, ech mengen, mir sinn hei an der Chamber“, rügt die LSAP-Abgeordnete Francine Closener, „an et ass un der Chamber fir ze decidéieren, ob mir en Débat nom État de la nation maachen, an net un der Regierung.“
„D’Reegele si kloer“, rückt der Kammerpräsident die Institutionen an ihren Platz. Doch der Zwischenfall ist exemplarisch für Luc Friedens Ansatz: Er will mit dem Kopf durch die Wand.
Schon in seiner Erklärung zum Amtsantritt am 23. November 2023 hatte er betont, dass nach allen Diskussionen die Regierung entscheide. Heute zeigt sich: Sein Weg zur Durchsetzung einer wirtschaftsfreundlichen Politik ist offenbar keiner von taktischer Finesse. Im état de la nation kann er nicht zeigen, wie der Konflikt mit OGBL und LCGB zu Arbeitsrecht und Kollektivverträgen beendet werden kann. Die informellen und vertraulichen Sozialrunden mit den Gewerkschaften und der UEL hatten diese Erwartung geweckt. Dagegen erklärt der Premier, Kollektivverträge würden „e wichtegt Instrument an eisem Aarbechtsrecht“ und „e wichtegt Instrument an den Hänn vun de Gewerkschafte“ bleiben. Gleichzeitig sollen „Accorden um Niveau vum eenzele Betrib eng erweidert Roll kréien. Fir Detailer reegelen ze kënnen, déi der Realitéit vum jeweilege Betrib a Salarié entspriechen“. Die Frage, ob Kollektivverträge weniger regeln können, stelle sich auch. CSV-Arbeitsminister Georges Mischo bespreche das mit den Gewerkschaften. Die demnach keinen Grund haben, ihre Kundgebung am 28. Juni abzusagen. Den Premier stört das nicht: Auch auf der Straße solle man seine Meinung sagen können. Am Ende entscheide „das Parlament mit Mehrheit“. Im Radio 100,7 wird er am Tag nach der Kammerdebatte erklären, nach der Maniff „geht das Leben weiter“. Die Diskussion am „Tisch“ ebenfalls.
Doch selbst der hartgesottendste Regierungschef ist zur Vermittlung seiner Politik auf narrative Unterstützung angewiesen. Von Luc Friedens Erklärung zur Lage der Nation ist ein Viertel der 39 Seiten Geopolitik und Verteidigung gewidmet. „Fortschrëtt ouni Effort ass eng Illusioun“, lautet der erste Satz. Kurz danach beschwört Frieden: „Et ass eng Zäit vum Ëmbroch. Et spiert een, dass eppes Fundamentales um Geschéien ass, dass an dësem Moment Geschicht geschriwwe gëtt.“
Die weltpolitische Lage soll die daheim dramatisieren helfen. Frieden teilt mit, die Verteidigungsausgaben würden schon dieses Jahr auf zwei Prozent des Bruttonationaleinkommens erhöht und 400 Millionen Euro zusätzlich kosten, um Luxemburgs guten Ruf in der Nato zu wahren. Der Ëmbroch soll aber auch Handlungsbedarf für alles Mögliche suggerieren. Für niedrige Strompreise, die gesichert werden sollen, indem die Staatskasse die Netzkosten übernimmt. Oder für die Freiheit, im Einzelhandel sonntags bis zu acht Stunden arbeiten lassen zu können. Ohne Kollektivvertrag, um diese Freiheit geht es.
Dass in der CSV-Fraktion dem nicht jeder folgen dürfte, jedenfalls Fraktionspräsident Marc Spautz nicht, scheint keine Rolle zu spielen. Vorsichtig, aber vielsagend deutet Spautz in seiner Rede zur Debatte an: „U menger perséinlecher Meenung huet sech näischt geännert, an do wäert sech och näischt änneren.“ Aber der Premier hat eben nicht den Ansatz der CSV-Fraktion aufgegriffen, die Gutachten des Staatsrats zu den Gesetzentwürfen über Sonntagsarbeit und Öffnungszeiten abzuwarten und dann zu diskutieren, wie in beiden Angelegenheiten verfahren wird. Offenzuhalten, ob das vielleicht per Kollektivvertrag geregelt wird. Offenhalten hätte eine Geste an den Front syndical sein können. Für Luc Frieden aber ist die Option acht Stunden sonntags Teil der notwendigen Modernisierungsanstrengungen. Im Ausland sei das ja auch so.
Für den Premier gehört die „Politik vun der Mëtt“ aus parlamentarischer Demokratie, Meinungsfreiheit, Marktwirtschaft und Freihandel in Luxemburg um gewisse sozialdemokratische Elemente bereinigt. Das ist nicht überraschend, weil im Freihandelsraum EU längst Tendenz. Während hierzulande die Erlöse von Banken und Fongenindustrie erlauben, so zu tun, als seien die trente glorieuses noch nicht ganz vorbei. Für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts kündigt Luc Frieden eine „Vision“ für eine „digitale Souveränität“ an, „déi et soss néierens op der Welt gëtt“: Big Data, Künstliche Intelligenz und Quantencomputer. Eine „AI Factory“, eine „AI Academy“ und ein „Deep Tech Lab“. Drei Milliarden Euro will die Regierung dazu einsetzen. Und natürlich trage Luxemburg das Mercosur-Handelsabkommen der EU mit fünf lateinamerikanischen Staaten mit. Freihandel sichere Arbeitsplätze.
Und dann die Renten
Schwierig wird die Erzählung von der Modernisierung, als Frieden preisgibt, wohin die Rentenreform gehen soll. Das ist unerwartet, CSV-Sozialministerin Martine Deprez sollte das bis zu den Sommerferien enthüllen. Der Premier sagt am Tag der Debatte seiner Erklärung, hätte er die großen Linien nicht bekanntgemacht, wäre der Regierung vorgehalten worden, sie rücke damit noch immer nicht heraus.
Während ein paar Jahren würden die für eine vorgezogene Rente erforderlichen Beitragsjahre um jeweils drei Monate erhöht, kündigt er an. So soll das tatsächliche Renteneintrittsalter (2023 lag es bei 61,3 Jahren) näher an die gesetzlichen 65 Jahre gebracht werden. Zur Mitfinanzierung der Renten soll ein Beitrag aus einer „Verbrauchssteuer“ dienen. „Zum Beispiel“ könne das einer auf jenem Teil der CO2-Steuer sein, der zum sozialen Ausgleich dient.
Wenn ein politisches Vorhaben der Regierung die Mobilisierung des Front syndical aus OGBL und LCGB zur Maniff am 28. Juni befeuern kann, dann dieses. Weshalb allgemein erwartet worden war, dass die Regierung den Gewerkschaften das politische Geschenk nicht macht, über ihre Rentenpläne vor dem 28. Juni zu sprechen. Nun aber könnten die Gewerkschaften des öffentlichen Sektors sich in der Rentenfrage mit OGBL und LCGB solidarisieren. Vergessen könnten die Bemerkungen von LCGB-Präsident Patrick Dury auf der 1. Mai-Feier über eine „soziale Apartheid“ zwischen Privé und Public sein. Und die Ideen von OGBL und LCGB, für die Renten im Privatsektor die Beitragsobergrenze abzuschaffen, wie das im Public gilt, aber anders als dort keine höheren Rentenleistungen zu gewähren. Die Linken haben Recht mit ihrer kurzen Pressemitteilung am Dienstagnachmittag nach dem état de la nation: Die Leute werden Luc Friedens Erklärung vor allem entnehmen, dass sie länger arbeiten sollen. CGFP-Generalsekretär Steve Heiliger sagt am Mittwoch im RTL-Fernsehen, Friedens Ankündigungen seien „gar kein Sozialdialog“. Zwei Stunden zuvor hat der Premier in der Kammer klargestellt, „selbstverständlich“ seien sie auch für den öffentlichen Sektor gedacht.
Man könnte das für politische Entschlossenheit in einer Zeit des Ëmbroch halten. Doch der Premier hat keine Geschichte zur Hand, um die Reformideen einzubetten. Die letzte Rentenreform von 2012 wurde kommunikativ sorgsam vorbereitet. Weil die Lebenserwartung zunehme, sagte der damalige LSAP-Sozialminister Mars Di Bartolomeo, werde den Leute „à la carte“ die Wahl gegeben, entweder weniger Rente hinzunehmen oder drei Jahre länger zu arbeiten. In Wirklichkeit ging es darum, nach drei Jahrzehnten sukzessiver Rentenerhöhungen den Rückwärtsgang einzulegen. Die Leistungskürzung wurde über 40 Jahre gestreckt, bietet noch immer keinen Anreiz à la carte zu wählen. Das Argument Lebenserwartung aber war damals nicht leicht zu kontern.
Luc Frieden dagegen betreibt Chaoskommunikation. Spricht ebenfalls von mehr Lebenserwartung und dass sie zwischen 1975 und 2024 um 14 Jahre bei den Männern und um elf bei den Frauen zugenommen habe. Doch was er anzukündigen hat, ist anders als 2012 eine Zwangsmaßnahme. Die dazu führen müsste, sich einer anstrengenden Debatte um travail pénible zu stellen. Der Premier wiegelt ab: Dafür gebe es im Ausland Modelle. Die Sozialministerin wollte so eine Diskussion vor einem Jahr noch nicht. Wer nach Inkrafttreten der Reform „ganz neu“ ins Berufleben eintritt, könnte fünf Jahre länger arbeiten müssen als nach den heutigen Regeln, verrät der Premier. Wie das zu der Versicherung passt, an der Anrechnung der Studienjahre werde sich nichts ändern, kann er nicht sagen. Auch nichts dazu, dass mit der Reform das System für 15 Jahre abgesichert werden soll, also für Junge vielleicht ein Nachschlag kommt. Er führe eine Debatte über den état de la nation, sagt er, keine über einen Rentereform-Gesetzentwurf. Alles Weitere werde die Sozialministerin erklären. Er insistiert aber: „Ist die Aussicht, länger zu arbeiten, so schrecklich?“ Arbeiten könne doch erfüllend sein. Und vielleicht bleibe man „bis 90 oder 95 in Pension“.
Womöglich hat Luc Frieden damit einer schonenden Kommunikation eines Vorhabens, mit dem sich Wahlen verlieren lassen, den Weg verbaut. Wenn die Pläne der Regierung wirklich die sind, die er vorgestellt hat, dann sind sie nicht nur angreifbar durch die Gewerkschaften. Die darauf verweisen, dass länger zu arbeiten in der „breiten Konsultation“ durch die Sozialministerin am wenigsten Zuspruch erhielt. Sie sind auch angreifbar durch die UEL, der die Ankündigungen des Premiers nicht weit genug gehen. Auch weil die finanzielle Wirkung eines Beitrags aus einer „Verbrauchssteuer“ sich solange nicht schätzen lässt, wie unklar ist, welche Steuer gemeint ist. Dem 100,7 erklärt der Premier, die CO2-Steuer sei nur „ein Beispiel“.
Dabei kann er eigentlich nicht wollen, dass es Streit um die Pensionen gibt und überhaupt Streit in der Gesellschaft. Ganz zu Beginn seiner Erklärung am Dienstag hat er eine „nationale Resilienzstrategie“ angekündigt und erklärt, „fir eng wierklech Resilienz brauch et den nationale, grad wéi de lokalen Niveau. Zivil, grad wéi militäresch Servicer“. Dass die „Whole of society-Approche vun de Finnen“ eine Inspiration sei. Dass eine resiliente Gesellschaft „mat enger prise de conscience vun all Bierger beginne“. Dass sie eine gemeinsame Verantwortung sei, „die „jidderee mat Serieux a mat Rou“ angehen müsse. Denn „mir wëllen, dass jiddereen aktiv a proaktiv eis Resilienz als Gesellschaft stäerkt“.
Was genau das heißen soll, erläutert er nicht. Der finnische „Whole of society-Ansatz“ umfasst unter anderem eine Wehrpflicht mit Reserve; die Zustimmung der finnischen Bevölkerung dazu ist hoch. In Luxemburg würde jede Form von Dienst, und sei es einer als CGDIS-Helfer, die Frage aufwerfen, wer ihn leisten soll, Wahlberechtigte oder Ansässige, und wer zur Gesellschaft gehört. Vielleicht wird die Frage schon bald akut, wenn in fünf Wochen der Nato-Gipfel in Den Haag feststellt, zwei Prozent vom BIP oder RNB seien zu wenig. Luc Frieden hat angekündigt, in dem Fall ziehe Luxemburg natürlich mit.