Katalonien

Sozial vor national

d'Lëtzebuerger Land vom 19.02.2021

Diese Wahlen waren anders: Mitten in der dritten Welle der Pandemie, bei Nieselregen und einer weiterhin schwierigen politischen Lage ergibt eine historisch niedrige Wahlbeteiligung eine Sitzverteilung, die neue Perspektiven für Katalonien und Spanien eröffnet. Die schnelle Analyse von außen ist einfach und einleuchtend: Neben dem Erfolg der Sozialdemokraten (PSC) und dem Untergang der liberalen Ciutadans (Cs) hat die bisher niedrigste Wahlbeteiligung von 53,54 Prozent (25,6 Prozent weniger als 2017) vor allem den (nationalistischen) Extremen geholfen. Was eine größere Mehrheit für die Unabhängigkeitsparteien (ERC, Junts und CUP) und gleich elf Sitze für die rechtsradikale Vox bei ihrem Parlamentseinzug belegen. Wer sich aber bei den katalanischen Bürgern umhört und die Resultate genauer anschaut, erhält ein differenziertes Bild.

Obwohl die Separatisten erstmals sogar eine absolute Mehrheit der Stimmen (und vier zusätzliche Sitze; sechs über der Parlamentsmehrheit von 68) erreichen, wird die Stärke der Unabhängigkeitsbewegung aktuell überschätzt. Die Illusion einer schnellen Unabhängigkeit ist längst gestorben. Selbst viele vehemente Befürworter führen die Pandemie als wichtigsten Faktor für ihren Wahlentscheid an. Wer die katalanische Parteienlandschaft allzu simpel in „Independistas“ und selbsternannte „Constitucionalistas“ teilt, übergeht eine eklatante Heterogenität dieser Blöcke (und die linken En Comú/ Podemos zwischen beiden Lagern).

Presst man die Parteien hingegen in ein klassisches Links-Rechts-Schema, dann ergibt sich statt einem moderaten Gewinn für jene „Independistas“ ein Erdrutschsieg für linke Parteien: 22 Sitze, davon alleine 16 für die sozialdemokratischen Wahlgewinner um den bisherigen Gesundheitsminister Salvador Illa. In der größten Gesundheitskrise der letzten 100 Jahre errangen dabei in dem einen Lager erstmals die Republikaner (ERC) knapp die Hoheit über die nationalkonservativen Junts, die eine Abspaltung des nach Brüssel geflohenen ehemaligen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont leicht schwächte. Zudem verdoppelte die antikapitalistische CUP ihre Sitze. In dem anderen Lager wanderten sehr viele Wähler vom dramatischen Verlierer Cs zum PSC. Und deren radikalere Anhänger zu Vox. Wobei sich die ehemalige konservative Regierungspartei Partido Popular in Krisenstimmung fragt, weshalb ihre ursprünglichen Wähler nicht von Cs zu ihnen zurückwanderten.

Trotz aller Beteuerungen einer katalanischen Sonderstellung sind katalanische und spanische Politik untrennbar miteinander verwoben und selbst in der Pandemie bleibt die Unabhängigkeit das entscheidende Schnittmuster. In dem sich die Cs seit den nationalen Wahlen 2019 heillos verstrickt haben. Zur damaligen Wahlwiederholung führte ja, dass die von Unternehmenskreisen aus einer regionalen Anti-Separatismus-Partei zum liberalen spanischen Flaggschiff aufgeblasene Partei nicht mit der – im Katalonienkonflikt als zu konziliant empfundenen – PSC koalieren wollte. Das Foto von Colón von vor zwei Jahren hat sich dabei ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Mit dieser gemeinsamen Demonstration gegen den Katalonienkurs vom Interimspremierminister Pedro Sánchez hatten die Anführer von PP und Cs die rechtsradikale Vox erst salonfähig gemacht. Im Überbietungswettkampf um den härtesten Kurs gegen die Unabhängigkeit trumpfen die spanischen Nationalisten mit dem Verbot aller Separatistenparteien auf und holen als viertstärkste Partei 7,69 Prozent. Damit überholen sie erstmals die konservative PP, die mit ihrer jahrelangen Eskalation des Konflikts in Katalonien verbrannte Erde zurücklässt und im Wahlkampf von ihren seit 2009 schwelenden gigantischen Korruptionsaffären um den ehemaligen Schatzmeister Luis Bárcenas eingeholt wird.

Die gute Nachricht für ein von über 65 000 Pandemietoten, davon 20 000 alleine in Katalonien, besonders gebeuteltes Spanien ist, dass die spanischen Regierungsparteien mit ihrer fragilen Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und linken Podemos in Katalonien gestärkt wurden. Was gegen die anfangs kritisierte These von nationalistischen Wahlgewinnern spricht. Von beiden Extremen war die Regierung nämlich wegen „Verrats“ unter Feuer geraten: Von rechts weil sie sich wie versprochen zu Gesprächen mit den Unabhängigkeitsparteien zusammengesetzt hatte. Von diesen, weil es sich bisher auf ein ergebnisloses Treffen beschränkte. Ein diskursorientierter Ansatz reichte aber bereits für die wohl wichtigste Entwicklung in der katalanischen Parteienlandschaft. Ohne den permanenten Druck einer kompromisslosen PP zerbröselt die unnatürliche Koalition von nationalistischen Junts und den republikanischen ERCs sowie der noch linkeren CUP. Was mit dazu führte, dass man auf den von der Justiz abgesetzten Hardliner Quim Torra keinen neuen Regionalpräsidenten fand und Neuwahlen unausweichlich wurden. Dem Nachfolger von Carles Puigdemont waren die vom Gericht während des Wahlkampfes 2019 untersagten Forderungen nach Freilassung der sogenannten „politischen Gefangenen“ an den Regierungsgebäuden zum Verhängnis geworden.

Dabei sorgen diese langjährigen Gefängnisstrafen für neun Politiker über das Separatistenlager hinaus für Empörung. Doch gerade der zu 13 Jahren verurteilte Oriol Junqueras ist die Schlüsselfigur einer möglichen Entspannung in Katalonien. Er fungiert weiterhin als ERC-Chef und hatte der spanischen Minderheitsregierung die überlebenswichtigen Stimmen besorgt, um endlich einen neuen Staatshaushalt zu stimmen. Wie sein moderater Spitzenkandidat Pere Aragonès setzt er mittlerweile auf den Dialog mit Madrid. Dass in der Pandemie nun über die Lagergrenzen hinweg eine linke Dreierkoalition aus PSC, ERC und En Comú mit stabilen 74 Stimmen die jahrelange Austerität in der Gesundheits- und Bildungspolitik der Gegenspieler PP und Junts auf nationaler, respektive regionaler Ebene revidiert, wäre für Spanien und Katalonien dann wohl doch zu einfach. Zwar hat sich Salvador Illa längst den Linksrepublikanern mit Zugeständnissen angeboten. Doch haben im Wahlkampf alle Separatistenparteien ein Abkommen unterschrieben, nicht mit den Sozialdemokraten zu koalieren. Weshalb mit den gleichen Sitzen und trotz aller Unterschiede ein Fortführen der bisherigen Koalition, allerdings unter moderaterer ERC-Führung, erstmals wahrscheinlicher ist.

Chrëscht Beneké
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