Inklusive Bildung endet in Deutschland meist nach der Kindertagesstätte

Stunden gemeinsamen Lernens

d'Lëtzebuerger Land vom 23.09.2011

Hannes ist acht Jahre alt. Er fährt gerne Rad, über Stock und Stein; er baut sich in seinem Kinderzimmer in einem Indianerzelt seine eigene Welt zurecht, in der vor allen Dingen seine jüngere Schwester nervt, die gerne mitspielen will und immer alles besser weiß. Mit dem Lernen hat Hannes seine Schwierigkeiten. Die Welt der Buchstaben und Zahlen mag sich ihm nicht erschließen. Er merkt sich Wörter als Bilder – und die Zahlen... das geht schon irgendwie. Neue Wörter sind eine Herausforderung für ihn, die ihm seine Schwester, die zwei Jahre jünger ist, gerne abnimmt – was Hannes sehr ärgert. Schon in der Kindestagesstätte wurde bei Hannes eine Wahrnehmungsstörung diagnostiziert. Das zuständige Schulamt konnte oder wollte ihm keinen Platz in einer Regelschule anbieten, weshalb Hannes nun eine integrative Schule in einer hessischen Kleinstadt besucht.

Die Schulklassen verstehen sich mehr als Lerngruppen. Höchstens zehn Schüler gibt es pro Jahrgangsstufe, zwei oder drei von ihnen haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Diesem nehmen sich mindestens zwei Pädagogen in jeder Schulstunde an, von denen sich jeweils einer den Schülern mit Bedarf annimmt. Das Lernen geschieht jahrgangsübergreifend. Die erste und die zweite Klasse lernen gemeinsam, die dritte und die vierte Klasse ebenfalls. Der Schultag ist lang: von acht Uhr bis halb fünf Uhr am Nachmittag. Verpflegung, Hausaufgabenbetreuung und weitere pädagogische Angebot inklusive. Im Unterricht kennt man den fragend-entwickelnder Frontalunterricht, wie er in Deutschland gang und gebe ist, nicht. Die Klassenräume sind erlebnispädagogisch gestaltet. Es gibt beispielsweise einen Matheraum, einen Erdkunderaum oder einen Informationsraum, in denen Hannes und seine Mitschüler ihren Aufenthalt weitgehend selbst planen und bestimmen können. Mithilfe der Pädagogen erobern sie die Welt des Wissens und Verstehens gemeinsam.

Hannes besucht die Schule gerne. Meistens jedenfalls. Er wurde – trotz großer Defizite beim Wissensstand – in die dritte Klasse versetzt. Doch wenn er in zwei Jahren sein kleines Universum, in dem er sich eingerichtet hat, verlässt, ist vieles ungewiss. Denn so perfekt, wie das inklusive Lernen an seiner Grundschule geschieht, so unsicher ist der weitere Weg des Jungen. Es wird sich dann zeigen, ob ihn eine weiterführende Regelschule aufnimmt, oder ob er auf eine Förderschule wechseln muss. Dann sind seien Zukunftsaussichten schlecht, denn über die Hälfte der Schulabgänger ohne Hauptschul-Abschluss kommt von einer solchen Schule.

Inklusive Bildung endet in Deutschland meist direkt nach der Kindertagesstätte, zieht die Bertelsmann Stiftung in einer nun veröffentlichten Studie zur Inklusiven Bildung als Fazit. „Während in den Kindestageseinrichtungen im Bundesdurchschnitt 68 Prozent der Kinder mit Förderbedarf gemeinsam mit Gleichaltrigen eine inklusive Einrichtung besuchen können, sinkt ihr Anteil in Grundschulen auf 35 Prozent und in den weiterführenden Schulen auf bundesweit nur 17,2 Prozent.“ Spätestens nach der Grundschule werden Kinder in eine exklusive Schule wechseln. In Zahlen ausgedrückt: Im Schuljahr 2009/2010 gab es in Deutschland rund 485 000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Von ihnen geht nur jeder Fünfte auf eine Regelschule.

Die Regelschulen in Deutschland sind durchgehend vom Leistungsprinzip geprägt. Gerade in diesen Jahren, da die Schulzeit auf zwölf Jahre verkürzt wurde, zählt schnelles Vorankommen mehr denn je. Kinder mit Förderungsbedarf werden in diesem Umfeld eher als Störfaktur, als Bremsklotz oder Aufmerksamkeitsfänger wahrgenommen. Die Pädagogen sind mit ihnen überfordert, verfügen kaum über eine Ausbildung zum Umgang mit behinderten Kindern und zur Wissensvermittlung. Eine Reform des deutschen Bildungswesens auch schulintern scheint dringend geboten, denn inklusives Lernen umfasst nicht nur die Inklusion von behinderten Schülern, sondern auch von Kindern mit Migrationshintergrund und Kindern aus sozial schwachen Familien. Kritiker des integrativen Ansatzes befürworten Sonder- und Förderschulen vor allen Dingen aus dem Grund, dass nur so eine individuelle, an das Handikap des einzelnen Kindes angepasste Förderung der jeweiligen Schülerinnen und Schüler möglich sei. Dass diese jedoch nicht sonderlich erfolgreich ist, belegen der Verweis auf die Schulabschlüsse der betroffenen Kinder.

Dabei sind sich die Experten einig: Der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Förderbedarf ist gewinnbringend – für beide Seiten. Er ist sogar gesetzlich geregelt: Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen sieht vor, dass kein Kind aufgrund möglicher körperlicher oder geistiger Behinderung vom Besuch einer Regelschule ausgeschlossen werden soll. Vor zwei Jahren wurde diese Konvention auch in Deutschland in geltendes Recht überführt – nur oftmals noch nicht umgesetzt. Dabei haben Eltern von Schülern mit Förderungsbedarf sogar einen Rechtsanspruch auf Unterricht in einer Regelschule.

Doch Bildung ist in Deutschland Ländersache und so gibt es große Unterschiede innerhalb der Bundesrepublik. In Bremen werden 89 Prozent der Kinder mit Förderbedarf im Grundschulalter gemeinsam unterrichtet, in Schleswig-Holstein und im Saarland sind es 70 Prozent. Schlusslichter sind hier Bayern und Hamburg. Bei weiterführenden Schulen haben Schleswig-Holstein, Berlin und Brandenburg das beste Angebot. Den niedrigsten Inklusionsanteil weisen weiterführende Schulen in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Sachsen-Anhalt auf. Doch diese Zahlen zeigen nur die quantitative Inklusion vor, nicht aber die qualitative. So werden seh- und körperbehinderte Kinder eher inkludiert, denn etwa lernbehinderte Schülerinnen und Schüler.

Wie inklusives Lernen funktionieren kann, zeigt das Beispiel einer Schule in Sachsen, in der Schüler mit und ohne Förderbedarf nach einem reformpädagogischen Ansatz gemeinsam lernen. „Die Kinder nehmen ganz selbstverständlich hin, dass sie Mitschüler haben, die sich nicht gut artikulieren können und vielleicht auch mal sabbern“, fasst die Schulleiterin das Miteinander zusammen. Das Ziel: „Wenn die Kindern auch nur einen Teil dieser Toleranz mit in ihr Erwachsenenleben nehmen, haben wir viel erreicht“, schließt die Schulleiterin. Auf der anderen Habenseite: „Wir hatten immer den Eindruck“, so der Vater eines behinderten Kindes, das eine Regelschule besucht, „dass unser Sohn sich gerade durch den Kontakt zu gesunden Kindern vor allem in Sachen Sprache und Orientierung viel abgeschaut hat.“

Doch diesem bildungspolitischen Idyll steht ernüchternde Realität entgegen: Denn inklusive Schulen setzen Willen auf beiden Seiten voraus. Insbesondere auf Seiten der Eltern von Kindern ohne Förderungsbedarf. Sie müssen bereit sein, auch ihre Kinder auf einer solchen Schule anzumelden – oder dazu bereit sein, dass die Regelschule, die ihr Kind besucht, auch Kinder mit Förderbedarf aufnimmt. Hier ist vor allem die Gesellschaft gefordert, anzunehmen, dass auch behinderte Kinder zum Lernen beitragen – und kein Störfaktor sind.

Hannes’ Schwester Elisabeth wurde Anfang September eingeschult. Die Eltern entschieden sich bewusst dazu, sie auf die gleiche Schule zu schicken wie ihren älteren Bruder. Dabei hatte das Schulamt der hessischen Kleinstadt Elisabeth eine Empfehlung für die Regelschule gegeben. Hannes ist darüber wenig glücklich, denn er muss nun die Schulwelt, die er sich ein klein wenig erobert hat, auch gegen seine Schwester verteidigen.

Martin Theobald
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