Ist der Globale Süden in der hiesigen Kirche angekommen? Eine Spurensuche

Verschränkter Katholizismus

Foto: Stéphanie Majerus
d'Lëtzebuerger Land vom 16.05.2025

Antoine Do ist gestern von einem einwöchigen Retreat in sein Kloster in Clairefontaine zurückgekehrt. Am Samstag während der Oktav wird er zum Priester geweiht. Um sich vorzubereiten hatte er sich in die Nähe von Namur in ein Kloster zurückgezogen. „Ich habe in Stille gebetet, das Mysterium der Eucharistie meditiert sowie darüber nachgedacht, wie man heute als Priester das Leben Jesu nachahmen kann“. Aufgewachsen ist er in einem überwiegend katholischen Dorf im Mekong-Delta in Vietnam. Während seines Mathematikstudiums in Ho-Chi-Minh-Stadt lebte er in einem Wohnheim, das von Herz-Jesu-Priestern geleitet wurde. Schon früh spürte der diskret wirkende Mann eine Ordensberufung.

Gab es eine Art religiös-kulturellen Schock nach seinem Umzug nach Europa? „Zunächst lebte ich in Paris und Metz und habe den Säkularisierungstrend nicht sofort festgestellt. Durch die Migrantengruppen sind die Kirchenbänke in Großstädten voller als im Nordwesten Luxemburgs,“ urteilt er, der nun seit sieben Monaten in der bewaldeten belgisch-luxemburgischen Talschlucht wohnt und vor allem in den Pfarreien des Kanton Redingen eingebunden ist. Ein großer Unterschied zu Vietnam sei der Altersdurchschnitt der Bevölkerung, der dort bei 36 Jahren liege – auch die Kirchgängerinnen und Kirchgänger seien demnach jünger. „Die Menschen scheinen mir dort insgesamt religiöser als hier; im Dorf meiner Eltern gibt es zwei Messen pro Tag. Womöglich hält die Gemeinschaft zudem stärker zusammen, weil Christen in Vietnam in der Vergangenheit mehrfach verfolgt wurden“, analysiert der 35-Jährige. In punkto Expressivität seien die Luxemburger den Gläubigen in Vietnam allerdings ähnlich – „man könnte sagen verinnerlicht und zurückhaltend“.

Anders sei es in Madagaskar, wo Katholiken 27 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, erzählt der Mönch Joseph: „Dort singt man das Gloria doppelt so lange wie hier – dabei wird getanzt und gelacht. Überhaupt schaut niemand auf die Uhr; eine Messe kann bis zu zwei Stunden dauern, eine Priesterweihe sogar bis zu fünf“. Joseph Randrianaimanga der in Zentral-Madagaskar geboren wurde, lebt seit 2019 in Clairefontaine. „Ich hatte wirklich nicht erwartet, dass die Kirchen hier so leer sind. Ich dachte, in Europa gäbe es viele Christen“, wundert er sich. Der Priester Gérard Schumacher, der 25 Jahre lang in der Nähe von Kisangani im Kongo lebte, kommt in der Kaffeestube vorbei, in der Joseph von seinen Eindrücken berichtet. Er erinnert sich an seine Zeit mit den Bantu; vor allem die Begräbnisse im Kongo, die er durchgeführt hatte, seien mit den westeuropäischen nicht zu vergleichen. „Teilnehmer können sich schreiend auf den Boden werfen, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Und man will möglichst nah am Leichnam sein, der in ein Leinentuch gehüllt ist. Hier geht man auf Distanz.“ Vor ein paar Jahren wurde er in ein Dorf in die Nähe von Ulfingen gerufen, um mit der kongolesischen Gemeinschaft ein Begräbnis abzuhalten. „Es lief auf die kongolesische Art ab, anschließend zeigten sich die luxemburgischen Dorfbewohner erschrocken“. Erschrocken sind wiederrum aus dem Kongo stammende Priester, die in Belgien Begräbnisse durchführen; in Internetbeiträgen berichten sie, die Passivität der Anwesenden sei „eine echte Herausforderung“.

Als Gérard Schumacher sich als Missionar im Kongo niederließ, war Mobutu Sese Seko an der Macht, und der Missions-Eifer hatte bereits nachgelassen. Wie Régis Moes in der Hémecht schreibt, fiel die Hochphase der Missionsaufenthalte in die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1960. Das Archivmaterial der Herz-Jesu-Brüder sei bislang noch nicht aufgearbeitet worden und bisher schwer zugänglich, da es sich in Rom befindet. Allgemein hält der Historiker Moes fest, dass Missionare im Kongo zugleich eine Nähe sowohl zu den Kolonialherren als auch zu den Einheimischen pflegten – was zu paradoxen Situationen führte. Je nach politischen, ökonomischen und kulturellen Spannungsverhältnisen unterstützten sie das koloniale Regime oder halfen den Einheimischen beim Kampf um Unabhängigkeit. Moes schätzt, dass sich die katholische Kirche nach der Kolonialzeit unter anderem deshalb halten konnte, weil es den Missionaren gelang, die Religion zu „indigenisieren“.

In Clairefontaine analysiert der Mönch Joseph diese Woche: Früher sei Afrika durch europäische Missionare evangelisiert worden – heute hingegen seien es Priester aus dem subsaharischen Raum, die dafür sorgen, dass es in Belgien überhaupt noch Priesternachwuchs gibt. Er bewegt sich in den Kirchengemeinden von Steinfort, Koerich, Barnich und Saint-Martin in Arlon. Besonders in letzterer komme es zu einem „mélange et échange“ zwischen Migranten und Einheimischen. Aus dem Bistum heißt es, die Entwicklungen in Luxemburg verliefen derzeit anders als im Nachbarland; von den 165 Priestern kämen nur sechs aus Afrika. Mittlerweile seien aber ein Drittel der Priester Nicht-Luxemburger, die Mehrheit unter ihnen Portugiesen und rezent seien drei Brasilianer in die Diözese hinzugekommen. In der Ausbildung befinden sich neben zwei Luxemburgern unter anderem vier Vietnamesen, ein Italiener, ein Ruander und ein Kolumbianer.

Das Kloster von Clairefontaine geht entweder auf das 12. oder das 19. Jahrhundert zurück – je nachdem, wo man historisch ansetzen will. Im Jahr 1147 wurde im heutigen Grenzgebiet eine Quelle vom sogenannten Heiligen Bernhard geweiht. Etwa ein halbes Jahrhundert später gründete Gräfin Ermesinde dort ein Zisterzienserinnen-Kloster, das Professen (Chor-Nonnen) aus adligen Familien aufnahm. Die Abtei wurde von Priestern der Mutterabtei Clairvaux verwaltet und dabei kam es immer wieder zu Konflikten zwischen den Dorfbewohnern und der Abteiverwaltung – insbesondere wegen Waldrodungen im gemeinsam genutzten Forstgebiet. Zeitweise vertrieben die Dorfbewohner im 15. Jahrhundert deshalb sogar die Geistlichen. 1794 wurde die Abtei während der Französischen Revolution verwüstet. Doch rund 100 Jahre später kauften Jesuiten die Ruinen auf, legten die Quelle erneut frei und bargen Überreste von Gräfin Ermesinde und bewahrten sie in einem Sarkophag in einer neu errichteten Kapelle auf.

Clairefontaine gehörte vor der Revolution von 1830 zur Pfarrei der Gemeinde Eischen-Hobscheid, wurde dann allerdings dem belgischen Staatsgebiet zugeschlagen. Dennoch bleibt das Kloster teilweise ans Großherzogtum angebunden – die Grenze in Clairefontaine verläuft porös. Im Jahr 1889 erwarb Pater Dehon, Gründer der Herz-Jesu-Priester, das Gelände und richtete dort ein apostolisches Gymnasium ein. Zu den Absolventen zählen unter anderem Jean-Claude Juncker und Jean-Claude Hollerich. 1986 wurde die Schule in ein ökumenisches Zentrum umgewandelt; heute werden dort Seminare zu weitestgehend spirituellen Themen angeboten – Yogakurse und Diskussionen über psychoanalytische Theorien nicht ausgeschlossen. Neun Geistliche wohnen dort dauerhaft.

Der Missionsdrang, der einst aus Clairefontaine kam, ist nahezu erloschen, christliches Sendungsbewusstsein aus der europäischen Gesellschaft am Rückzug. Ab 1960 tritt man in eine postkoloniale Epoche ein und die Säkularisierung des Nordens schreitet voran: Während früher die Kirchen die Höhen und Tiefen des Lebens begleiteten, ist „Religion heute zu einer sozialen Option unter vielen“ geworden, wie der Religionssoziologe Detlef Pollack in einem Interview mit dem Land erläuterte (13.5.2022). Die Individualisierung hat stark zugenommen; Menschen geben sich selbstbestimmt und zeigen sich skeptisch gegenüber institutionalisierter Religion. Die katholische Musik spielt woanders: „Wer die Zukunft des Katholizismus verstehen will, muss in die Sahara und südwärts schauen“, sagte der Nigerianer Stan Chu Ilo, Professor für Weltchristentum, in einem Gespräch mit Aljazeera vor der Papstwahl. Mittlerweile leben in Afrika 272,4 Millionen Katholiken, fast gleich viele wie in Europa. Besonders hohe Anteile hat die Demokratische Republik Kongo, Uganda, Angola und Nigeria – mit teilweise hohen regionalen Unterschieden. In Südamerika machen Katholiken etwa 70 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Größere Gemeinschaften gibt es auch in Asien, in den Philippinen liegt ihr Anteil bei über 80 Prozent, im Vietnam bei acht. Laut der offiziellen Zählung des Vatikans hat es bisher 266 Päpste gegeben. Mehr als 200 kamen aus Italien, mit Papst Franziskus wurde erstmals ein Lateinamerikaner gewählt.

Wurde vor der Papstwahl in Clairefontaine darüber diskutiert, ob jemand aus Afrika, Asien oder Südamerika Papst werden sollte, weil sich die Vitalität des Katholizismus dorthin verschoben hat? Antoine Do verneint: „In meinem Umfeld haben manche Hoffnungen in den Patriarch von Jerusalem gesetzt, Pierbatista Pizzaballa, denn er kennt Konfliktregionen und könnte zur Friedenspolitik beitragen.“ Dem in Madagaskar geborenen Joseph, ist die Herkunft des Papstes gleichgültig: „Ich will einen Papst, der an der Seite der Armen und der Leidenden steht und der sich für Menschenrechte einsetzt.“ Er war längere Zeit mit Hilfsprojekten in Südmadagaskar unterwegs. „Dort kannst Du Reis an Menschen verteilen, die dir dann sagen, dass ihnen das Wasser zum Reiskochen fehlt – derart existenziell sind ihre Probleme“. Der angehende Priester Do meint, man schätze Robert Prevost, er stehe in der Kontinuität zu Franziskus, „Umwelt und Armut werden weiterhin ein Thema bleiben, sowie die Kurienreform.“

Der sogenannte Globale Süden ist allerdings längst in der hiesigen Kirche präsent. Sei es durch Missionare, die einst auszogen, um andere zu belehren – mitunter mit einem ausgeprägten Überlegenheitsanspruch – und zurückkehrten mit Wertschätzung für außereuropäische liturgischen Ausdrucksformen. Sei es durch die Zuwanderung aus Afrika, Asien oder Südamerika. Sei es durch diplomierte Priester aus Vietnam, Brasilien oder Nigeria, die mittlerweile die in den 1950er-Jahren geborenen Dorfpfarrer ablösen. Sei es durch katholische NGOs oder das Internet. Auch theologische Impulse schwappen vom Süden nach Norden; zu veranschaulichen ist dies in der Person des Papstes Leo XIV: Robert Prevost, der mehr als 30 Jahre im Peru lebte, scheint von der dort verbreiteten Befreiungstheologie beeinflusst zu sein – wie schon bei seinem Vorgänger ist für ihn die Frage nach sozialer Gerechtigkeit zentral.

Oder sei es durch den demografischen Wandel, der sich in den Zusammensetzungen der Synoden zeigt. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn sagte in einem Gespräch mit dem Journalisten Marco Politi (siehe. S. 5), er habe 1985 erstmals an einer Synode teilgenommen und damals seien „die Europäer alles gewesen, und die anderen waren europäisiert“. Heute hingegen stehe der Globale Süden im Mittelpunkt. Die große Mehrheit der teilnehmenden Bischöfe, Frauen und Männer, stamme inzwischen aus nicht-europäischen Ländern. Sie brächten „ihre Themen und Sorgen“ ein. „Wir aus dem reichen Norden sind zu einer Minderheit geworden“, so Schönborn. Der Journalist Marco Politi stellt fest, dass die afrikanischen Delegierten durch ein neues Identitätsbewusstsein auf sich aufmerksam machten. Kardinal Fridolin Ambongo etwa lehnt es ab, die Segnung homosexueller Paare zu akzeptieren – mit Verweis auf den afrikanischen Kontext (eine Analyse, inwiefern diese Ablehnung auf koloniale Gesetzgebungen zurückgeht, lässt er dabei jedoch offen.) In seinem Grundtenor schwingt mit: Das afrikanische Christentum erlebt derzeit eine Blütezeit, während Europas Kirchen leer bleiben – es gebe daher keinen Grund, weshalb der Norden die inhaltliche Agenda vorgeben sollte.

Kardinal Hollerich erwähnte im Mai 2024 mit dem katholischen Nachrichtendienst (KNA) dieses neue Selbstbewusstsein von nicht-europäischen Katholiken und Klerikern. Und sagte, es sei „nicht der böse Vatikan“, der gegen das Frauenpriestertum sei. Aber würde man Frauenweihen demnächst einführen, würde „ein Sturm in anderen Kontinenten ausbrechen“ und es könnte zu einem erneuten Schisma kommen (das letzte Schisma war 1054 mit der Ostkirche). Wie schwierig diese Reformen seien, habe man bereits bei der vergleichsweise „kleinen Sache“ erlebt, wie der Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren, so Hollerich. Fragen wie die Priesterweihe würden von vielen nicht-europäischen Katholiken als Probleme individualistischer Gesellschaften wahrgenommen werden und als „neokolonialistische“ Ideen abgetan werden. Allerdings ist diese Position nicht vereinbar mit den Menschenrechten, womit weitere virulente Debatten bezüglich LGBT-Themen und der Frauenfrage stattfinden dürften.

Wie steht Antoine Do zu Kardinal Hollerich, der die Bibel hermeneutisch-historisch liest, eine Lockerung des Zölibats und die Frauenweihe zur Diskussion stellt? Er hält sich mit einer Positionierung zurück: „Frauen haben schon in der Urkirche eine zentrale Rolle gespielt, wie genau sich die Kirche auf diese Fragen weiterentwickeln wird – da sind wir in einem Prozess.“ Auf einer Linie sieht er sich mit Kardinal Hollerich, der den Bibeltext nicht wortwörtlich nimmt. „Ich bin Mathematiker und natürlich gibt es Atome und physikalische Gesetze.“ Die Genesis sei kein „récit de création“, sondern werfe Fragen auf, bezüglich der Beziehung zwischen Gott und Mensch.

Der junge Mann steht vor der Klosterkapelle in Clairefontaine. Vermisst er seine Familie in Vietnam nicht? „Nein, die Herz-Jesu-Gemeinschaft ist meine Familie – hier ist meine Heimat.“ Im Flur geht ein 88-jähriger Missionar vorbei, der sein Leben im Ostkongo verbracht hat. Er kam nur für ein paar Wochen nach Clairefontaine; aufgrund des Konflikts konnte er bislang jedoch nicht zurückfliegen. Ein Gespräch lehnt er ab. Er ist müde und ungeduldig. Er will zurück in seine Heimat.

Stéphanie Majerus
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