Europäische Union / Türkei

Verfahrungen

d'Lëtzebuerger Land du 07.04.2017

Die Türkei hat sich verstrickt. In einem Netz aus Agenten, Spionen und Geheimdienstlern. Es agiert weltweit und kennt viele Feinde. Mit dem Netzwerk soll Ankara in letzter Zeit Regierungskritiker und Gegner des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bespitzelt haben. Dies legen sowohl Recherchen des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel nahe, als auch Informationen, die der österreichische Grünen-Politiker Peter Pilz erhalten hat.

„Ich besitze geheime Botschaftsdokumente aus 35 Staaten“, so Pilz Mitte Februar in der österreichischen Kronen Zeitung. „In 35 Ländern von Belgien bis Australien ist dasselbe passiert wie in Österreich.“ Erdogan erteile, so Pilz weiter, über seine Religionsbehörde Diyanet Spitzelaufträge, die an die türkischen Botschaften in aller Welt ergehen. „Dann gehen Spitzel in Kaffeehäuser und Vereine und hören bei Gesprächen zu. Was sie hören, wird über die Botschaft wieder nach Ankara gemeldet.“ Es habe dann auch zu Jahresbeginn die ersten Fälle gegeben, in denen Österreicher mit türkischen Wurzeln bei Verwandtschaftsbesuchen in der Türkei noch vor der Passkontrolle in Istanbul verhaftet worden seien, weil sie angeblich Erdogan in einem österreichischen Kaffeehaus beleidigt hätten. Das Außenministerium in Wien bestätigte die Vorfälle.

Ihr Augenmerk haben die türkischen Spitzel auf mutmaßliche Anhänger und Mitglieder der Bewegung des Geistlichen Fethullah Gülen gelegt. Auch in Deutschland stehen diese auf der Liste des türkischen Geheimdienstes MIT. Grund genug für die deutsche Bundesanwaltschaft Ermittlungen gegen Unbekannt aufzunehmen. Es gehe dabei um den Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit. Der Ermittlungserfolg hänge allerdings davon ab, so eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, was die deutschen Spionageabwehr-Behörden mitteilten. Der MIT hatte, wie die Süddeutsche Zeitung Ende März berichtete, am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar eine Liste mit rund 300 Namen, Adressen, Telefonnummern und teilweise Fotos von angeblichen Unterstützern der Gülen-Bewegung an Bruno Kahl übergeben, den Präsidenten des deutschen Bundesnachrichtendiensts (BND). Kahl reichte die Liste weiter an die Bundesregierung, den Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt sowie die Polizeibehörden in den Bundesländern. „Es steht fest, dass der türkische Geheimdienst MIT hier in Deutschland lebende Menschen ausforscht“, stellte der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius fest. In der türkischen Regierung herrsche offensichtlich „eine fast schon paranoid zu nennende Verschwörungsangst“ vor. Auch die Schweizerische Bundesanwaltschaft hatte bereits Mitte März ein Strafverfahren wegen „Verdachts auf politischen Nachrichtendienst“ – ebenfalls im Zusammenhang mit Vorfällen im Umfeld der türkischen Gemeinde in der Schweiz.

Doch auch Politikerinnen und Politikern wurden von den türkischen Spionen ins Visier genommen: alles zum Wohle Ankaras. Die dortige Regierung hatte sich von der deutschen Regierung offenbar erhofft, Unterstützung bei der Beobachtung und Ausforschung der Menschen auf der umfangreichen Liste zu bekommen. Doch diese „Amtshilfe“ unterblieb. „Unabhängig davon, wie man zur Gülen-Bewegung steht“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière, „gilt hier deutsches Recht und hier werden nicht Bürger, die hier wohnen, von ausländischen Staaten ausspioniert.“ Doch die Spitzelwut verfehlt nicht ihre Wirkung in den türkischen Gemeinden Europas. „Wir haben hier eine Atmosphäre der Denunziation“, berichtet ein Türke aus Berlin in den Lokalnachrichten von Radio Berlin Brandenburg. „In der türkischen Community gehen E-Mails rum, ich sei Gülen-Anhänger und PKK-Unterstützer.“ Die auch von Deutschland als Terror-Organisation eingestufte kurdische PKK ist ein weiteres Feindbild des Erdogan-Regimes.

Längst schon bestimmt der innertürkische Konflikt im Vorfeld des Verfassungsreferendums am kommenden Sonntag die innenpolitische Agenda der europäischen Staaten. Politiker und Parteien müssen sich gegen Vergleiche mit Hitler oder Kreuzrittern erwehren und sehen sich zudem dem Vorwurf ausgesetzt, sich durch das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zur Marionette Ankaras gemacht zu haben. Andererseits verkneifen sich nur wenige Politiker in der EU rhetorische Retourkutschen gegenüber Ankara, wenn es ihrem eigenen Wahlkampf nützt. Erdogan nutzt geschickt den Freiraum, den man ihm gibt. Der EU ist es in der Vergangenheit nicht gelungen, die Türkei in die Werteunion einzubinden. Es blieb stets bei einer laschen Beitrittsperspektive und langwierigen Beitrittsverhandlungen. Die Einbindung der Türkei über die Nato wurde als ausreichend erachtet. Doch genau hier setzt Erdogan den nächsten Hebel an: In Hinblick auf die Syrien-Strategie macht er unverhohlen deutlich, dass ihm die Bekämpfung der Kurden wichtiger ist als der Kampf gegen den Islamischen Staat. Im Zweifel verbündet er sich mit Russland – gegen die USA. Eine europäische Antwort an den Autokraten aus Ankara blieb bislang aus. Man übt sich im Appeasement.

Martin Theobald
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