In vier Wochen sind in Bayern und Hessen Landtagswahlen. Überschattet werden sie von Affären und Glaubwürdigkeitsproblemen

Lasst wählen!

d'Lëtzebuerger Land vom 08.09.2023

Die Sau ist derzeit in der Hauptstraße des Weilers. Kurz vor dem Marktplatz. Hinter ihr die johlende Meute, Fernsehkameras, Radiomikrophone und jede Menge Kommentatoren, die munter und beflissen das Borstenvieh durchs Dorf treiben. Entweder wird sie alsbald auf dem größten Platz festlich geschlachtet, dramatisch geopfert oder einfach nur still und heimlich zum Tor rausgejagt. Sie hat auch einen Namen. Die Sau heißt Hubsi. Eigentlich Hubert Aiwanger, Vizeministerpräsident des Freistaats Bayern, Landesvorsitzender der dortigen Freien Wähler (FW) und derzeit im Hauptberuf Wahlkämpfer – in Vorbereitung auf die Landtagswahlen in vier Wochen. Ihn holt derzeit seine eigene Vergangenheit ein. Er soll im Schuljahr 1987/1988 als Schüler der Klasse 11 eines Gymnasiums in einer bayerischen Kleinstadt ein Flugblatt mit rechtsextremen und antisemitischen Inhalten verfasst haben, das dann auf der Schultoilette – anzunehmen ist, dass es ausschließlich das Herrenklo war – zirkulierte. Das berichtete am vergangenen Wochenende die Münchner Süddeutsche Zeitung (SZ). Laut zwei Personen, so die Tageszeitung weiter, „die damals nach eigener Aussage dienstlich mit der Angelegenheit betraut“ gewesen sein sollen, sei Aiwanger vom Disziplinarausschuss der Schule zur Verantwortung gezogen worden. Aiwanger habe damals laut Zeugen seine Urheberschaft nicht abgestritten und seinerzeit offen rechtsextremistische Ansichten vertreten. Damals. Irgendwo in der bayerischen Provinz.

Das Flugblatt ist von gnadenloser Geschmacklosigkeit und voll triefender rechtsextremistischer Phrasen, die sich auch Ende der 1980-er-Jahre nicht mit irgendeinem Zeitgeist entschuldigen ließen. In ihm wird ein Wettbewerb ausgelobt unter dem Titel „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“. Bewerber hätten „sich im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“ einzufinden. Für den „1. Preis“ gebe es einen „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“, heißt es in dem Flugblatt. Als folgende „Preise“ werden noch „ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“, „ein kostenloser Genickschuss“ und „eine kostenlose Kopfamputation durch das Fallbeil“ genannt, für die Plätze sieben bis 1 000 „eine Nacht Aufenthalt im Gestapokeller, dann ab nach Dachau“. Das Flugblatt ist in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau bei München archiviert.

Das Flugblatt ist von unglaublicher Ekelhaftigkeit, verharmlost den Holocaust und verhöhnt dessen Opfer. Punkt. Besser noch: Ausrufezeichen. Es fällt schwer dieses Pamphlet mit dem Übermut eines pubertierenden, vielleicht erstbesoffenen, bayerischen Schülers zu entschuldigen.

Dennoch bleibt die Frage, warum es 35 Jahre brauchte, bis es ans Tageslicht kam und seinem mutmaßlichen Verfasser zugeordnet werden konnte. Und warum es nun quälend lange Tage braucht, bis dieser – seit November 2018 Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Bayern – die Konsequenzen aus seinem Handeln zieht, Verantwortung übernimmt und sich seiner Vergangenheit stellt. Die Causa Flugblatt hätte zu einer historischen Randnotiz werden können, hätte Aiwanger schnell und deutlich reagiert. Selbstredend sind die Konsequenzen für die Freien Wähler katastrophal, wenn sich das beste Pferd im Stall vergaloppiert. Allem innerparteilichen Trotz zum Trotz. Sie hätten sich nach einem neuen Spitzenkandidaten umschauen müssen und hätten vielleicht auch die Nähe zum Stammtisch verloren, die Aiwanger so prächtig beherrscht.

So bleibt die Frage, wem nutzt dieses Treiben einer Sau durchs Dorf? Für die Christsozialen unter Ministerpräsident Markus Söder wird es zu einer Gratwanderung: Einerseits können sie den aussichtsreichsten Juniorpartner einer neuen Regierung schwächen und ihm das Selbstbewusstsein rauben, andererseits können sie ihn aber auch so sehr beschädigen, dass er abhandenkommt und sich Söder im Herbst nach einem neuen Partner für die Regierungsbank umschauen muss. Er ließ Aiwanger einen Katalog von 25 Fragen zukommen. Für die Bewertung der Antworten ließ er sich Zeit. Eine demolierte Partei „Freie Wähler“ nutzt in erster Linie der AfD. Denn unter der Flagge der FW haben sich in Bayern auch all diejenigen gesammelt, denen die CSU nicht rechts genug, die AfD jedoch zu extremistisch ist. Ein Abmeiern der FW brächte manchen Wähler dazu, Farbe zu bekennen und sich zwischen dem Hellblau der CSU und dem Dunkelblau der AfD zu entscheiden. Dem entspricht auch das Thema des Aiwanger-Flugblatts, das das Narrativ der „Das wird man wohl noch sagen dürfen“-Rechtsextremisten widerspiegelt. Die AfD hält sich augenfällig zurück, Söder laviert und alle anderen Parteien sind auf den Barrikaden – uneins darüber, welche Konsequenzen dies für alle haben soll. Es wird in München derzeit viel geredet, wenig gehandelt. Und das Volk, wird der Sautreiberei langsam satt, will es in unsicheren Zeiten doch Antworten auf seine Lebenslagen bekommen. Mehr nicht.

Auf die aktuelle Sonntagsumfrage für Bayern hat die Affäre Aiwanger noch keine Auswirkungen. Wären bereits an diesem Wochenende Wahlen im Freistaat, so kämen die Christsozialen – je nach Umfrage – auf 37 bis 39 Prozent der Stimmen. Dahinter liefern sich drei Parteien ein Kopf-an-Kopf-Rennen: die Grünen, AfD und Freie Wähler. Während die Bündnisgrünen in der Wählergunst bei nur noch zwischen 12,5 und 16 Prozent liegen, sind es für die AfD je nach Meinungsforschungsinstitut 13 bis 18 Prozent und für die Freien Wähler zwischen elf und 13,5 Prozent. Die Sozialdemokraten dümpeln zwischen zehn und elf Prozent. Ob FDP und Linke den Einzug in den Münchner Landtag schaffen, ist fraglich. Für die Liberalen würden sich derzeit zwischen drei und vier Prozent der Wählenden entscheiden, für die Linke gerade einmal zwei Prozent. Mit dem Ergebnis wäre eine Fortsetzung des Regierungsbündnisses von CSU und Freien Wählern möglich, gleichwohl aber auch Koalitionen mit der AfD und den Grünen. Am vergangenen Wochenende beeilte sich die bayerische SPD zu vermelden, dass sie eine Minderheitsregierung der Christsozialen tolerieren würde.

An jenem Sonntag in vier Wochen wird auch in Hessen ein neues Landesparlament gewählt. Und wieder einmal liefern die gemäßigten Parteien eine Steilvorlage für jedwede Politikverdrossenheit. Allen voran die Sozialdemokraten. Sie haben Bundesinnenministerin Nancy Faeser als Spitzenkandidatin aufgestellt. Sie will und will nicht Ministerpräsidentin in Wiesbaden werden, weshalb sie ihren Posten in Berlin behält. Mit der Folge: Nancy Faeser macht Wahlkampf gegen ihre ureigene Politik. Zusammengefasst: Am Morgen beschließt sie in Berlin Gesetze zum Wohle des Landes, die sie mittags in Wiesbaden verteufelt – zum Wohle des Landes. Von einem Glaubwürdigkeitsproblem möchte Faeser aber nicht sprechen, sie könne viel mehr zwischen Bundes- und Landesebene unterscheiden. Hin und wieder sind Gründe für das Erstarken von extremistischen Parteien sehr naheliegend.

Dennoch sieht es auch in Wiesbaden nicht danach aus, dass die Linken im kommenden Landtag von Hessen vertreten wäre. Schritte die Bevölkerung zwischen Bergstraße und Weser an diesem Sonntag zur Wahl, dann würde die Partei die Hälfte ihrer Wählergunst einbüßen und mit nur noch drei Prozent nicht mehr vertreten sein. Deutlich zulegen gegenüber den Wahlen von 2018 würden die Christdemokraten. Sie kämen auf 31 Prozent. Gefolgt von SPD mit 20 Prozent und Grünen mit 18 Prozent. Verhalten die Zugewinne bei der AfD auf 15 Prozent. Entspannter verliefe der Wahltag für die FDP. Sie könnte sich mit sechs Prozent beinahe auf der sicheren Seite wähnen. Die Freien Wähler spielen in Hessen keine politische Rolle auf Landesebene.

Zur Feuerprobe für die deutsche Demokratie wird es ohnehin im Herbst nächsten Jahres kommen. Dann wird am 1. September der Landtag von Sachsen, drei Wochen später in Brandenburg gewählt; noch ohne Datum, aber voraussichtlich auch im Herbst, sind die Landtagswahlen in Thüringen. Dabei bergen genau diese einigen Zündstoff. Denn gründet die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht eine eigene Partei, so hätte diese nach Meinungsumfragen in Thüringen das Potenzial stärkste politische Kraft zu werden und käme derzeit auf 25 Prozent der Wählerstimmen. Legt man die heutigen Wahlprognosen zugrunde, würde diese neue Partei vor allem der AfD zusetzen. Stefan Möller, Vizechef der AfD in Thüringen, dazu: „Das würde uns mit betreffen.“ Dennoch glaube er nicht an einen wirklichen Einbruch. Außerdem gäbe es mit der neuen Partei für die AfD „eine Option mehr“. „Wenn ich mir Wagenknechts Positionen anschaue“, so Möller in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen, „dann scheint mir eine Partnerschaft mit ihr am wahrscheinlichsten.“

Martin Theobald
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