Idiot!

"Unfug und Chaos finden sich überall"

d'Lëtzebuerger Land du 13.03.2003

Lieber reich und gesund als arm und krank, sagt der Volksmund. Als Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, der letzte seiner Familie, aus der jahrelangen Genesungskur in der Schweiz zurück nach Sankt Petersburg kommt, ist er schon viel weniger krank; seine epileptischen Krisen haben deutlich nachgelassen. Und weil das Schicksal von Romanfiguren immer so gut durchdacht ist, erbt der Gute auch noch gleich von einer reichen Tante genug Geld, damit dies leidige Problem auch aus der Welt geschaffen ist. Also kann er nachher nur noch rumhängen und sich mal in diese, mal in jene Frau verlieben und kiloweise sehr, sehr große Wahrheiten vom Stapel lassen. So ist er nun mal, Der Idiot, den Dostojewskij 1868 in seinem Roman beschrieb: zwischen Messias und Dummkopf.

Oder besser: so ist die Figur, die die Regisseurin Anna Maria Krassnigg für ihre Bühnenfassung aus dem Roman herausdestilliert hat. So wie sie schon letztes Jahr Büchners Leonce [&] Lena zu Chez Pipo verarbeitet hatte (d'Land 15.03.02). Am gleichen Ort, der gleichen, äußerst schäbigen Spielstädte (den „Anciens établissements Peusch" des Théâtre national, in denen man sich einen abfriert) mit den gleichen, brillanten Schauspielern, ein Jahr später also nun die Fortsetzung der „Trilogie de la jeunesse baisée". Als Generation Golf hatte der Roman von Florian Illies die gelangweilten, wohlbetuchten jungen Erwachsenen von heute bezeichnet. Anna Marie Krassnigg  und dem Théâtre national scheint besonders viel daran zu liegen, die Ausweglosigkeit dieser Generation in ihrer beängstigenden Freiheit zu beschreiben. Darum gleich eine Trilogie zum Thema. 

Das gute daran ist: die Schauspieler sind hervorragend, außergewöhnlich im Spannungsfeld zwischen geballter Energie und präzisem Einsatz, klarer Mimik und aggressiver Gestik. Daniel Kamen als illuminierter, fragiler und kindlicher Fürst, der allen die Wahrheit ins Gesicht wirft, Jan Ole Schneider als körperlicher, aggressiver Prolet Rogoschin, Katrin Stuflesser als zerbrechliche und unberechenbare Aglaja Iwanowna Jepantschina, Bernd Rehse als Nihilist und geldgieriger Emporkömmling Ganja, besonders aber Nina Gabriel als angespannte, überkandidelte Luxustussi par excellence, Generalin Lisaweta Jepantschina, sind eine Labsaal für unsere Bühnen.

Der Nachteil an der Trilogie: es schmeckt alles ein bisschen nach Déjà-Vu: die Grufti-Atmosphäre im schwarzen Dekor, die radikalen Brüche im Spielfluss durch zeitgenössische Musikeinlagen - von Hardrock bis zur Ballade des armen Ritters -, das sorgfältige Einmischen von Referenzen der Pop- und Trivialkultur unserer Zeit - Gala, Ozzy Ozborne, Julia Roberts, der Titelong aus Ghostbusters!, das Mobiltelefon, Yoga und, und, und... -, die sehr freie Adaptation, die trotzdem sehr werktreu bleibt, man hat das Gefühl, alles schon einmal so oder so ähnlich erlebt zu haben. 

Zudem ist die Geschichte an sich in Dostojewskijs Der Idiot äußerst konfus, eine unmögliche Dreierbeziehung mit einer Ikone, der „Verdammten" Nastassja Filippowna im Russland des späten Neunzehnten Jahrhunderts, das zwischen Nihilismus und Mystizismus hin- und hergerissen scheint. Wer sie nicht kennt, wird sicherlich so seine Schwierigkeiten haben, den Erzählstrang in all dem Dekonstruktivismus wieder zu finden. Letztendlich hat man des Öfteren das Gefühl, hier würde ein Kompendium sinnschwangerer Zitate serviert, die dann doch etwas verstaubt wirken. Vielleicht funktionieren extreme Inszenierungen und extravagante Ideen ja einfach nur einmal.

 

josée hansen
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