Die Kunst der Neurochirurgie besteht vor allem darin zu wissen, wann man etwas nicht macht. Beobachtungen einer Hirntumor-Operation am CHL

Acht Zentimeter tief im Kopf

Chirurgischer Eingriff mit Hilfe eines Mikroskops
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 09.11.2018

In Operationssaal 2 des Centre hospitalier de Luxembourg herrscht routinierte Geschäftigkeit. Eine Chirurgie-Krankenpflegerin legt Operationsinstrumente bereit, Skalpelle, Scheren, Pinzetten, Saugrohre. Eine Kollegin verpackt ein knapp drei Meter hohes fahrbares Mikroskop in Plastikfolie. „Instrumententisch und Mikroskop sollten Sie besser nicht zu nahe kommen, sonst werden hier alle ein bisschen nervös“, sagt Frank Hertel seinem Journalistenbesuch. Hertel, Leiter des neurochirurgischen Dienstes am CHL, wird heute einen Hirntumor operieren. Auf dem Plan im Flur des Bloc opératoire ist Saal 2 bis 16.30 Uhr reserviert. Jetzt ist es kurz nach halb zehn. Ja, die Operation werde wohl den ganzen Tag dauern, meint Hertel. Soll heißen: Sie dauert so lange sie dauert. Wie lange, ist bei Eingriffen im Innern des Schädels nicht leicht vorhersehbar.

Der Patient ist eine Frau, die schon unter Narkose steht. Am Fußende des Operationstischs kontrolliert eine Anästhesie-Pflegerin einen ganzen Gerätepark: Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfunktion per Bildschirm; bei jedem Pulsschlag ist der leise Piepton zu hören, den man aus Krankenhausfilmen kennt. Das Narkosemittel wird über eine Dosiermaschine zugeführt. „Das hier ist eine Anästhesie, die den Patient besonders ruhig hält, weil das Gehirn möglichst stabil bleiben soll.“ Deshalb würden „keine Gase“ zur Narkose benutzt, sondern Medikamente, die über einen Katheter bis ins Herz der Patientin geleitet werden. „Die anderen operieren, alle Lebensfunktionen überwache ich“, sagt die infirmière-anésthésiste. Höchstens vier Meter weit dürfe sie sich von der Patientin entfernen. Das sei Vorschrift.

9.40 Uhr Frank Hertel steht vor einem Bildschirm mit IRM-Aufnahmen seiner Patientin. Er deutet auf ein Schnittbild, das ungefähr die Schädelmitte zeigt. Man sieht die Nase, die Augen, die Ohren, oben das Großhirn, unten das Kleinhirn. Ziemlich in der Mitte sitzt, was aussieht wie eine deformierte Kugel, vielleicht so groß wie ein Tischtennisball. „Wahrscheinlich ist das ein gutartiger Tumor.“ Hertel nimmt an, er könnte aus der Hirnhaut heraus gewachsen sein, ein „petrocliviales Menin-
geom“. Das Problem ist nur seine Lage, so mitten im Kopf. Drei Zugangswege seien möglich, sagt Hertel. Entweder könne er von einer Seite des Kopfes aus nahe der Schläfe durch den „Temporallappen“ zum Tumor vordringen. Das wäre der vermutlich kürzeste Weg. Doch der Temporallappen ist der Teil des Großhirns, in dem unter anderem das Sprachzentrum sitzt. Das Risiko, es bei dem Eingriff zu beschädigen, ist Hertel zu hoch. Alternativ könnte er ein Stück weiter davon entfernt einen Gang durch den Schädelknochen „fräsen“. Aber davon würde mit einiger Wahrscheinlichkeit der Hörnerv in Mitleidenschaft gezogen, der nah am Tumors liegt. „Das Taubheits-Risiko wäre beträchtlich.“

Deshalb hat Frank Hertel sich für den dritten Weg entschieden: Kanäle im Schädelinnern zu nutzen. Weder würde dabei ins Hirn geschnitten, noch lange im Knochen gebohrt. Halb seitlich vom linken Ohr der Patientin würde der Schädel geöffnet; anschließend ginge der Chirurg nach und nach durch freie Räume. Doch ohne Risiko ist auch das nicht: Der Tumor sitzt nahe am Hirnstamm, jener Region, die überlebenswichtige Funktionen steuert, Atmung, Blutdruck und die Reflexe zum Beispiel. Und unweit vom Tumor verlaufen wichtige Nerven: der Hörnerv sowie der Trigemnius-Nerv für das Gesichtsempfinden. Eine Schlagader liegt ebenfalls nicht weit.

Wegen solcher Zusammenhänge hat die Neurochirurgie in der Öffentlichkeit nach wie vor einen ziemlich mythischen Ruf, vor allem was Operationen im Schädelinnern betrifft. Frank Hertel wehrt ab: Das sei auch nur eine chirurgische Disziplin, die man mit professioneller Routine verrichte. Aber gerade in der Neurochirurgie gehört zur professionellen Routine, abzuwägen, wie weit man geht, und die Balance zwischen Risiko und Nutzen zu halten. Unter den Neurochirurgen wird der geflügelte Satz erzählt, das Handwerk erlerne man in drei Wochen, innerhalb von drei Jahren dagegen, was man wann macht, und innerhalb von drei Jahrzehnten, was man wann unterlässt. So ein Balanceakt wird auch im Falle der Patientin an jenem Morgen im CHL zu finden sein: Von dem Tumor möchte Hertel möglichst viel entfernen, am besten alles. Ein Rest könne im Radiotherapiezentrum in Esch/Alzette mit dem sehr präzisen Cyberknife bestrahlt werden. Den ganzen Tumor durch Bestrahlung zu beseitigen, wäre nicht möglich, dazu sei er zu groß. Bliebe ein Rest unbehandelt, wüchse er wieder, und obwohl der Tumor aller Voraussicht nach gutartig ist, verursachte er der Patientin schon Beschwerden. Ihr Gang war beeinträchtigt und ihre Sprache auch.

10 Uhr Noch wird die Patientin auf die Operation vorbereitet. Sie liegt auf der rechten Seite, auf der linken hinterm Ohr soll der Eingriff erfolgen. Krankenpfleger legen an Händen und Füßen der Patientin Elektroden an, an ihrer Schädeldecke sind ebenfalls Elektroden befestigt. Über sie wird während der Operation ein „Neuro-Monitoring“ erfolgen, eine Art EEG, das aufzeichnet, welche Sinnesreflexe zum Hirn geleitet werden und welche Bewegungsreflexe das Hirn in Armen und Beinen veranlasst. Was nicht heißt, dass die Patientin sich bewegt – es geht darum zu sehen, ob die Operation womöglich den Hirnstamm beeinträchtigt, dem der Tumor so gefährlich nah liegt. Und weil auch der Hörnerv nicht weit entfernt davon verläuft, wird in die Ohren ein akustisches Signal gegeben und seine Weiterleitung durch den Hörnerv überwacht. Fürs Neuromonitoring besteht am CHL ein eigenes Team. Heute hilft dabei obendrein Peter Grunert, Neurochirurg und Professor an der Universität des Saarlandes in Homburg. Frank Hertel und er kennen sich schon lange, haben an der Uni-Klinik in Mainz gemeinsam operiert. 2008 übernahm Hertel die Leitung des Service national für Neurochirurgie am CHL. Daneben ist er Professor an der Uni Luxemburg.

10.20 Uhr Die Vorbereitungen sind abgeschlossen, die Eingriffsstelle wird desinfiziert. Eine grüne Markierung zeigt an, wo der Schädel geöffnet werden soll. Um den Kopf der Patientin nehmen Frank Hertel und ein junger Arzt in Fachausbildung zum Neurochirurgen Platz, der ihm assistieren wird; Dritte im Bunde ist eine Krankenpflegerin, die beiden zur Hand geht. Peter Grunert sitzt am Neuromonitor. Die Anästhesiepflegerin ist kaum mehr als einen Meter von der Patientin entfernt.

10.45 Uhr Als die Operation beginnt, hört sich das an wie beim Zahnarzt: Nachdem Hertel die Haut aufgetrennt hat, setzt er mit einer schnelldrehenden Fräse Loch auf Loch um die Eingriffsstelle und hebt am Ende eine vielleicht fünf Zentimeter breite Knochenplatte heraus. Die Zeiten sind lange vorbei, dass Neurochirurgen große Partien des Schädels öffneten. Stattdessen gilt „Schlüsselloch-Chirurgie“: Die Öffnung ist klein, und operiert der Chirurg in die Tiefe, nimmt er das über zwei Meter hohe Mikroskop zur Hand. Es vergrößert den Ort des Geschehens so stark, dass hinter der kleinen Öffnung nicht nur weiträumig operiert werden kann, sondern dem Operateur das Aktionsfeld immens groß erscheint.

11.30 Uhr Hertel ist an der Hirnhaut angekommen, die den gesamten Hirnraum umgibt. Die Optik des Mikroskops leitet ein Panoramabild des Operationsgeschehens auch im Fullscreen-Modus auf Bildschirme nach draußen. Frank Hertel steht am OP-Tisch, die Augen am Okular des Mikroskops. In dieser Stellung wird er Stunden zubringen. „Ich öffne jetzt die Hirnhaut“, ruft er nach hinten. Die weißliche Schicht misst dort, wo er arbeitet, nur zwei Zentimeter im Durchmesser.

Die Atmosphäre im Raum ist konzentriert. Wer nicht am Mikroskop steht, und das tun nur Hertel und sein Assistenzarzt, schaut auf einen der Bildschirme im Raum. Dort ist zu sehen, dass die Wunde ziemlich stark blutet. Anfangs war das Muskelgewebe, nun aber meldet Hertel: „Keine klare Blutungsquelle, es blutet von überall her.“ Möglicherweise liege das daran, dass man dabei sei, einen Tumor zu operieren, denn Tumoren verschaffen sich ihre eigene Blutversorgung, erläutert Professor Grunert. Dann und wann löst Grunert einen Reiz zu den Elektroden an den Händen und Füßen der Patientin aus und beobachtet die Signalverläufe. Je stärker die Signale sind, die er aufzeichnet, umso besser, und je mehr ihre Wellenform der von vorigen Aufzeichnungen ähnelt, desto besser ist das wiederum.

12.10 Uhr Zum Tumor bleiben Frank Hertel schätzungsweise noch etwas mehr als zwei Zentimeter zurückzulegen. Gemessen an der Komplexität des Eingriffs ist das ein weiter Weg. An der Operationsstelle sammelt sich Hirnwasser an, Hertel nähert sich dem Kleinhirn. Nicht schneidend, sondern immer nur Gewebe beiseite schiebend. Doch er kommt „nicht so richtig weiter“, sagt er. Denn die Blutung ist noch immer recht stark. Einen Tupfer nach dem anderen versenkt Hertel im Opera-
tionskanal und spritzt dann und wann blutstillenden Schaum ein. Mit einem elektrisch beheizten Instrument versucht er das blutende Gewebe zu beruhigen: Wärme fördert die Blutgerinnung. Die Pflegerin, die Hertel assistiert, schneidet mit einer Schere blutstillendes Textil zu kleinen Stücken zurecht, die Hertel in die Wunde legt.

12.20 Uhr Hertel meldet, er sehe das Tentorium cerebelli. Das „Kleinhirnzelt“ ist eine härtere und festere Hirnhautstruktur, die wie ein Dach die untere Schädelgrube überdeckt. Sie trennt Großhirn und Kleinhirn und stabilisiert das ganze Gehirn. Vorsichtig schiebt Hertel mit einem Spatel Gewebe zur Seite und kommt am Kleinhirn vorbei. Dahinter liegt der Tumor, dem Hertel sich nun schon so weit genähert hat, dass er Blutgefäße berührt, die zu dessen Versorgung dienen. Hertel umgeht das Kleinhirn von unten her und blickt kurz darauf auf den von Blut umgebenen Tumor. Als er das Blut aufgesogen hat, ist der Tumor deutlich zu erkennen: Seine Oberfläche sieht mit ihrer Schraffur wie eine hellgraue Walnuss aus. Das sei aber „nur die Spitze des Eisbergs“, bemerkt Peter Grunert, nachdem er die Signale des Neuro-Monitorings abgelesen und festgestellt hat, alles sei in Ordnung.

Die moderne Neurochirurgie wurde in Europa und den USA Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt. Auslöser war nicht zuletzt, dass in Kriegen am Hirn verletzte Soldaten behandelt werden mussten. Als die wichtigsten Wegbereiter gelten die Amerikaner Cushing und Darby aus Boston: Sie entwickelten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur Operationsmethoden, sondern auch Instrumente, die noch heute verwendet werden, zum Beispiel den Sauger zum Entfernen von Gewebe. Aber Eingriffe ins Schädelinnere wurden schon in der Antike vorgenommen: Man hatte erkannt, dass Traumata zu Blutungen im Hirn führen können – tatsächlich pumpt das Herz ein Viertel des Bluts ins Gehirn. Doch dass von Neurochirurgie auch nur in Ansätzen die Rede sein konnte, machte Anatomie-Kenntnisse nötig. Die wurden erst in der Renaissance gewonnen, etwa durch den flämischen Arzt Andreas Vesalius. Mit seinen Sieben Büchern über den Aufbau des menschlichen Körpers legte Vesalius Mitte des 16. Jahrhunderts den Grundstein für die neuzeitliche Anatomie.

12.30 Uhr „Ich bin jetzt so tief im Kopf drin!“, zeigt Frank Hertel an einem Operationsinstrument. Das dürften acht Zentimeter sein. Nun beginnt eine Arbeit, die sich als überaus langwierig herausstellen soll: Den Tumor mit einem Mal zu entfernen, ist nicht möglich. Seine Oberfläche ist ziemlich hart, und wie stark so ein großer Schnitt bluten würde, ist nicht abzusehen. Hertel trennt deshalb Stück für Stück, Bröckchen für Bröckchen vom Tumor ab und sorgt nach jedem der kleinen Schnitte für Blutgerinnung durch Wärmezufuhr. „Verkochen“ nennt er das. Der geöffnete Tumor sieht aus wie ein helles Gewebe mit dunklen Einschlüssen. Hertels Ansatz ist, ihn von innen auszuhöhlen.

Eine Tumorprobe erhält Felix Kleine-Borgmann, ein Neurowissenschaftler vom Luxembourg Institute of Health. Er und Hertel sind Mitglieder einer Forschungsgruppe, die an einem Verfahren zur Tumordiagnostik arbeitet: Die Probe wird durch einen Laser bestrahlt, daraus entsteht ein Raman-Spektrogramm. Es erlaubt Rückschlüsse auf die biochemische Zusammensetzung des Tumors. Kleine-Borgmann trägt die Probe in einer Metallpfanne nach draußen zu einer Maschine, die die Spektroskopie vornimmt. Die Daten schickt er weiter, damit sie mit schon bestehenden Erkenntnissen abgeglichen werden. Ein lernfähiger Algorithmus soll – das ist das Fernziel – dafür sorgen, dass solche Diagnosen gleich im OP-Saal vorgenommen werden können. Der Chirurg würde dann bei seinen Entscheidungen, wie er weiter vorgeht, wesentlich unterstützt.

13.10 Uhr Hertel ist mit der Reduktion des Tumors schon ziemlich gut vorangekommen. Auch die Ansicht auf dem Bildschirm zeigt, dass an der Operationsstelle mittlerweile mehr Platz herrscht. Von den schlanken Organen, die als helleres Gewebe im Bild auftauchen, ist eines der Hörnerv, der in den Hirnstamm mündet, daneben ein kleinerer Nerv zum Bewegen der Augen. In der Wirklichkeit sind Nerven ein paar Millimeter dick. Der besonders dicke Sehnerv misst fasst einen Zentimeter.

13.30 Uhr Peter Grunert stellt fest, dass auf seinem Monitoring-Bildschirm eine Welle deutlich schwächer geworden ist – eine der Antworten aus dem Hörnerv im Hirnstamm auf das Signal hin, das in ein Ohr gegeben wird. „Es sieht aber so aus, als ob die Welle sich wieder erholt.“ Frank Hertel versucht unterdessen, größere Stücke aus dem Tumor zu schneiden. Er nutzt dazu ein Tellermesser, ein langes Instrument mit einer tellerförmigen Schneide am Ende. Wieder und wieder senkt er das Messer in die Operationsöffnung und übergibt das weggeschnittenene Gewebe seinem Assistenten. Eine langwierige Arbeit. Und immer wieder muss Hertel Blut stillen, mal mit Tupfern, mal durch Verkochen.

Möglichst viel von einem solchen Tumor zu entfernen, soll nicht nur dafür sorgen, einen Rest durch Bestrahlung beseitigen zu können. Bei der Erst-Operation eines gutartigen Tumors besteht immer eine klare Grenze zwischen Tumor und gesundem Gewebe. Müsste nachoperiert werden, weil der Tumor wieder gewachsen ist, wäre er nicht mehr so gut unterscheidbar und viel mehr ins gesunde Gewebe eingewachsen. Ähnlich wie das bei Krebs der Fall ist.

14 Uhr Grunert erzählt, Neurochirurgen seien während einer Operation „so voll Adrenalin“, dass sie weder Hunger verspürten, noch ermüdeten. „Sie sind voll in ihrem Flow.“ Hertel steht nun seit über drei Stunden ununterbrochen am Mikroskop. Aber er ist die Ruhe selbst. Auch dann, wenn seine Assistenten Witze zu reißen beginnen. Wie wäre das, wenn man zu Weihnachten operieren müsse, das könne ja sein, meint eine Krankenpflegerin. „Dann machen wir es uns schön!“, entgegnet eine andere. „Genau“, sagt die erste, dann würden Austern und Wein in den Operationssaal mitgenommen. „Qu’est-ce que tu en penses, Frank?“ Hertel, der Pfälzer, scheint das Wort huitres nicht zu kennen. Vielleicht aber doch, schließlich hat er seine Ausbildung unter anderem in Straßburg absolviert; vielleicht steckt er zu tief in seinem Flow. Doch selbst wenn die Stimmung im Raum mal kurz steigt und Gelächter aufkommt, sagt Hertel nie so etwas wie: „Seid doch mal still!“ Offenbar versteht das Team sich ausgezeichnet.

1 000 bis 1 200 neurochirurgische Eingriffe nimmt der Service national am CHL pro Jahr vor, damit ist das Krankenhaus auf diesem Gebiet so aktiv wie eine mittelgroße Universitätsklinik. Nicht nur Patienten aus Luxemburg werden behandelt, sondern auch aus der Großregion, vor allem aus Lothringen. Unter den tausend sind nur an die 150 Tumor-Operationen, aber das macht immerhin an fast jedem zweiten Tag eine. Das Operations-Spektrum ist ziemlich breit am CHL, reicht von Eingriffen am Rückenmark bis hin zu tiefen Hirnstimulationen, bei denen zum Beispiel Parkinson-Patienten ein Implantat gesetzt wird, das Hirnregionen künstlich aktiviert. Solche Operationen werden mit hohem Technikaufwand realisiert: Dann kommt die Neuro-Navigation zum Einsatz, eine Art GPS des Hirns, für das alle möglichen Informationen, von IRM-Bildern und CT-Scans bis hin zu Stoffwechseldaten des Hirns, in einem großen Datensatz vereint und zu einer 3D-Landkarte werden, mit deren Hilfe der Chirurg sich vorwärts bewegt. Für die heutige Operation hat Frank Hertel darauf verzichtet: Der von ihm gewählte Zugang zum Tumor enthalte so viele „anatomische Landmarken“, dass immer klar sei, wo man ist.

15.30 Uhr Frank Hertel legt eine Pause ein, reckt die Arme und geht nach draußen. Augenblicklich löst sich die Stimmung. Eine Krankenpflegerin beginnt „Sur les ponts d’Avignon“ zu singen, eine andere erklärt, heute Abend gehe sie ein Bier trinken. Peter Grunert hat Lust auf ein Essen in einem nepalesischen Restaurant. Eine Viertelstunde später ist Hertel wieder da. Seine Schnitte am Tumor führt er nun immer näher am Hirnstamm aus, jener überaus empfindlichen Region.

16 Uhr Grunert macht eine der beiden Wellen über den Hörnerv zum Hirnstamm Sorgen. Heißt das, der Hörnerv ist in Mitleidenschaft gezogen? Das könne sein, meint er, aber die Welle habe sich bisher stets wieder „erholt“. Und viel wichtiger seien die motorischen und sensorischen Signale. „Die sind gut!“

16.15 Uhr Hertel ist am Hirnstamm angelangt und nähert sich dem Tumor vorsichtig von der Seite. Immer mit demselben Prozedere: Ein kleines Stück vom Tumor entfernen, dann Blut stillen. Und so fort.

16.45 Uhr Im Neuro-Monitoring ist eines der beiden Motorik-Signale, die zu den Muskeln führen, schwächer geworden. Ein sensorisches Signal wird ebenfalls kleiner. Peter Grunert löst einen weiteren Motorik-Impuls aus. Jetzt könne sich die Frage stellen, wie es weitergeht, sagt er. „Denn wir sind so nah am Hirnstamm.“

17 Uhr Grunert stellt fest, auf der Seite, an der Hertel operiert, erhole sich das Sensorik-Signal wieder. Das sind die Erregungen aus den Elektroden an der linken Hand beziehungsweise dem linken Fuß Richtung Hirn. Aber während das Motorik-Signal auf der „Nicht-OP-Seite perfekt“ sei, sei es dort, wo Frank Hertel schneidet, anhaltend niedriger. Das Motorik-Signal sei das entscheidendere, sagt Grunert. „Die die Motorik betreffenden Nervenbahnen im Hirnstamm liegen näher am Tumor.“

17.03 Uhr Frank Hertel beschließt, die Operation zu beenden. Das Risiko, eine Nervenbahn zu beeinträchtigen, ist ihm zu groß geworden. „Gut dass wir das Monitoring gemacht haben“, sagt er zu Peter Grunert. Während Hertel sich aus dem Operations-Schlüsselloch zurückzieht, beginnt sein Assistenzarzt, einen künstlichen Knochendeckel zu fräsen, der am Ende die Öffnung im Schädel abdecken wird. Vorher wird Muskelgewebe vernäht. Die Öffnung ist ja nicht groß.

17.10 Uhr Peter Grunert hat die Wellenformen auf seinem Monitor nach wie vor im Blick und kann berichten, die Wellen aus den sensorischen Erregungen erholten sich schon wieder. Vielleicht sei es nur eine Frage der Zeit, bis die entscheidendere Motorik-Welle ebenfalls stärker werde.

17.20 Uhr Der Assistenzarzt hat den Knochendeckel eingesetzt und vernäht die Kopfhaut der Pa-
tientin. Die nächsten 24 bis 48 Stunden wird sie auf der Intensivstation versorgt werden. Frank Hertel und sein Team beginnen zu besprechen, was am nächsten Tag auf dem Programm steht. Sechseinhalb Stunden sind vergangen, seit Hertel an seiner Patientin den ersten Schnitt setzte. Das sei schon ziemlich lange, sagt er, normalerweise dauere eine solche Operation um die vier Stunden. Aber die Blutungen hätten alles verlängert. Und er erinnert sich, schon sechzehn Stunden am Stück operiert zu haben. Die Anästhesisten, sagt er, würden Operationsdauern sogar noch länger rechnen: vom Beginn der Narkose bis der Patient wieder erwacht. Aber nur sie rechneten so: „Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Bullterrier und einem Anästhesisten? – Der Bullterrier lässt von seinem Opfer ab, wenn es tot ist!“

38 Stunden später Frank Hertel schreibt dem Land in einer E-Mail, die Patientin werde noch immer künstlich beatmet. Ein CT-Scan nach der Operation habe eine kleine Blutung „direkt in der motorischen Bahn“ gezeigt. Das erkläre, weshalb die motorischen Wellen kleiner wurden, während die sensorischen Wellen sich wieder erholten. Die Blutung liege nicht an der Operationsstelle, sondern etwas weiter im Hirngewebe. „Ich denke, die Patientin wird eine längere Erholungsphase brauchen“, schreibt Hertel. „Das ist nicht so schön, aber auch das entspricht der Realität in der Neurochirurgie.“

Peter Feist
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