Berufliche Orientierung

„Wir brauchen mehr bilinguale Ausbildungen“

d'Lëtzebuerger Land vom 23.09.2010

D’Lëtzebuerger Land: Frau Meyer, wie jedes Jahr ist der Run auf die Lehrstellen groß. Wie gut sind die Jugendlichen über ihre Ausbildungsmöglichkeiten informiert, die sich bei Ihnen in der Berufsberatung melden?

Karin Meyer: Ab Februar, März bekommen wir von den Arbeitgebern ihre freien Lehrstellen gemeldet. Sobald die Ergebnisse des zweiten Trimesters da sind, werden die Jugendlichen über die Ausbildungswege informiert. Die Schüler aus dem Régime préparatoire wissen in der Regel gut Bescheid, da sie von den Mitarbeitern der ‚Action locale des jeunes‘, begleitet werden. Die Betreuer zeigen ihnen, wie sie sich am Telefon oder bei einem Bewerbungsschreiben anlegen müssen.

Schwieriger ist es mit den Schülern der 9e pratique. Einzelne Lyzeen haben entschieden, den 9e-pratique–Schülern nicht mehr systematisch das Vorbereitungsatelier in Zusammenarbeit mit der Berufsberatung und der ALJ anzubieten. In der 9e polyvalente ist es noch dramatischer. Wir hatten diesen Sommer junge Leute, die mit ihren Eltern hierher kommen und aus allen Wolken fallen, wenn wir ihnen sagen müssen, dass sie die Anforderungen ihres Traumberufes nicht erfüllen.

Ist die neunte Klasse für die Berufsorientierung nicht zu spät? Erfahrungen lehren, dass Schüler den Einstieg in die Berufswelt am besten finden, wenn sie frühzeitig darauf vorbereitet werden.

Als Berufsberatung ist uns sehr an einer engen und frühzeitigen Zusammenarbeit mit den Schulen gelegen. Mit einigen arbeiten wir im Rahmen von Projets d’établissement zusammen. Das läuft in der Regel sehr gut. Aber die Entscheidung für einen solchen Themenschwerpunkt liegt bei der Schulleitung.

Die schulische Orientierung steht seit Jahren in der Kritik. Vor allem die Betriebe bemängeln, Jugendliche würden häufig falsch orientiert und kämen mit falschen Vorstellungen in die Lehre.

Ich leugne nicht, dass wir zum Teil erhebliche Probleme haben, wenn es um die schulische Orientierung geht. Die schulpsychologischen Dienste sind aber den Schuldirek-tionen unterstellt. Des Weiteren legen viele Schulen den Fokus vielleicht zu sehr auf die hauseigenen Berufausbildungen, ohne dass ich ihnen aber unterstellen möchte, sie hätten kein Interesse, umfassend und lückenlos über alle Berufsausbildungen zu informieren. Unsere Aufgabe als Berufsberatung ist es, landesweit eine professionelleOrientierung zu gewährleisten.

Mit der Reform der schulpsychologischen Dienste vor fünf Jahren sollte der Informationsfluss verbessert werden.

Es gibt Dienste, die bemühen sich sehr. Wir brauchen aber eine nationale Strategie, die sicherstellt, dass die Orientierung an jedem Lyzeum identisch und komplett ist. Es kann nicht sein, dass eine Schule ihre Jugendlichen besser informiert als andere. Wir haben in Luxemburg nur eine Ressource und das ist unser Intellekt. Wir können uns nicht leisten, dieses zu verschwenden.

Die Berufskammern drängen darauf, mit der Berufsausbildung auch dieOrientierung zu modernisieren. Das geschah aber nicht. Wie geht es weiter?

Die Misere ist spätestens seit der Veröffentlichung dem OECD-Bericht aus dem Jahr 2002 über die schulische und berufliche Orientierung bekannt. Darin steht unter anderem, dass die zuständigen Ministerien enger zusammenarbeiten sollen – das geschieht auch immer mehr. Im Forum de l’orientation sitzen zudem Vertreter aus Schule, Berufskammern, Arbeitswelt, Arbeitsamt und Ministerium, die gemeinsam an einer nationalen Strategie feilen. Erste Rückschlüsse sollen im Herbst gezogen werden.

Wie steht es mit dem Classique? Die Berufsorientierung richtet sich derzeit vorrangig an Schüler des technischen Sekundarunterrichts.

Wir haben ein Pilotprojekt auf der 2e-Classique zusammen mit dem Jongelycée der Hauptstadt, dem Escher Lycée Hubert-Clement, dem Lycée Robert Schumann; das Lycée Michel Rodage und das Echternacher Lyzeum haben ebenfalls Interesse angemeldet. Ziel ist es, die Schüler rechtzeitig darüber aufzuklären, was sie nach der Schule und nach dem Studium in der Arbeitswelt erwartet. Einigen öffnet das zum ersten Mal die Augen.

Inwiefern?

Wer Meeresbiologie studieren will, sollte wissen, dass Luxemburg in diesem Bereich nicht viel zu bieten hat. Auch die Arbeitsplätze für Sport-, Kunst- und Musikwissenschaftler sind begrenzt. Früher gaben Eltern oft den Rat: Studiert, wozu ihr Lust habt. Das ändert aber, inzwischen wird mehr auf die Arbeitsmarktsituation geguckt.

Weil die Wirtschaftskrise auch vor Luxemburg nicht halt gemacht hat und die Angst vor Arbeitslosigkeit umgeht?

Ich denke ja. Auch in Luxemburg realisieren immer mehr Menschen, dass es eine Wirtschaftskrise gibt und diese Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. Verschärfend kommt hinzu, dass auch die Universitäten sich im Zuge von Bologna ihre Kandidaten zunehmend selbst aussuchen.

Was ist, wenn für einen jungen Menschen ein Studium nicht in Frage kommt. Wo informiert er oder sie sich dann?

Wir haben seit dem letzten Jahr das Internetportal www.anelo.lu ins Leben gerufen, die sich an junge Leute nach der Schule richtet. Es gibt zahlreiche Berufe, wie den Fluglotsen oder BTS-Ausbildungen, die direkt an die Première anschließen. Das Internetangebot ist zunächst gut angekommen, aber dieses Jahr hat das etwas nachgelassen. Wir wollen die Plattform zusammen mit den zuständigen Ministerien und dem Service de la Jeunesse so ausbauen, dass dort alle wichtigen Informationen und Angebote rund um die Arbeitswelt und Aus- und Weiterbildung zusammen laufen.

Sorgenkinder sind schwer vermittelbare Jugendliche: Schulabbrecher, mit keinem Abschluss oder geringer Bildung.

Als François Biltgen noch Arbeitsminister war, war er sich der Problematik sehr bewusst, sein Nachfolger Nicolas Schmit ist es auch, die Unterrichtsministerin Mady Delvaux ebenso. Wir haben Akteure, die wissen, dass der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt immer schärfer wird. Machen wir uns nichts vor: Luxemburg ist ein Hochlohnland, und wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte, um die Löhne rechtfertigen zu können. Es wird immer schwieriger, junge Leute ohne Abschluss oder lediglich mit einer zweijährigen Berufsausbildung unterzubekommen.

Die Berufskammern sagen, es gäbe keinen Bedarf an geringeren Qualifika-tionen wie den CITP oder CCM.

Junge Menschen mit CCM-Diplom werden in erster Linie genommen, wenn der Arbeitgeber sie bereits kennt und gute Erfahrungen gemacht hat. Auch beim CITP-méchanique ist es klassischerweise so, dass der Jugendliche dem Betrieb schon durch das Berufspraktikum bekannt war. Fakt ist, dass in vielen Berufen die Anforderungen in den letzten Jahren gestiegen sind. Wir sind eine Gesellschaft, in der Rendite und Ertrag zählen. Der Druck auf die Betriebe ist groß, sie können es sich nicht leisten, auf schlecht qualifiziertes Personal zurückzugreifen. Und noch etwas: Die großen Betriebe, die früher viele gering Qualifizierte absorbiert haben, wie zum Beispiel Arbed, CFL oder Villeroy [&] Boch, bauen inzwischen in diesem Segment Arbeitsplätze ab.

Was also tun?

Die Jugendlichen, über die wir reden, haben oft jegliche Lust am Lernen verloren. Das heißt: Sie müssen besonders gut betreut werden. Wir stellen fest: Wenn Jugendliche sich bemühen, während eines Praktikums einen positiven Eindruck hinterlassen, dann finden sie oft eine Anstellung. Der modulare Unterricht kann ebenfalls helfen, das Problem der Sitzenbleiber zu reduzieren. Sie können das Modul, das sie nicht geschafft haben, im nächsten Semester nachholen, ohne deshalb ein ganzes Jahr zu verlieren. Das ändert aber nichts an dem Grundproblem.

Das da wäre ...?

Wir haben in Luxemburg immer mehr französischsprachige Schüler. Die Berufsausbildung hat es immer noch nicht geschafft, diesen Wandel strukturell zu begleiten. Für Schüler, die Lernschwächen haben, und das sind in unserem System nun mal oft Immigranten, gibt es nicht genügend Ausbildungsangebote. Wir haben zwar französischsprachige Ausbildungen, aber es sind nicht genug. Zudem scheint die Anzahl der Immigrantenkinder, die im Laufe des Jahres nach Luxemburg kommen, wieder zu wachsen. Darunter befinden sich viele Schüler, die das Potenzial für eine höhere Qualifizierung hätten – wenn unsere hohen Sprachanforderungen nicht wären. Fast alle unsere höher qualifizierenden Berufsausbildungen setzen Deutschkenntnisse voraus. Das geht völlig an unserer Realität vorbei. Zumal immer mehr Betriebe aus Frankreich sich in Luxemburg niederlassen.

Luxemburg ist seit jeher ein Einwanderungsland. Das Problem ist also bekannt. Warum ändert sich da nichts?

Fragen Sie die Verantwortlichen. Bei Goodyear beispielsweise arbeiten in der Mehrheit französischsprachige Mechaniker. Ich finde es befremdlich, dass unsere Ausbildung zum Mechatroniker noch immer überwiegend auf Deutsch geschieht. Warum nicht die Berufsausbildung konsequent bilingual – in Deutsch und in Französisch – anbieten? Die Reform jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, das endlich anzugehen.

Weitere Infos zur Berufsberatung: www.adem.public.lu/demandeur/orientation/biz/index.html
Ines Kurschat
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