Brexit

Knaben-Charme

d'Lëtzebuerger Land du 23.08.2019

Am Anfang war die Drohung. Bevor der neue britische Premierminister Boris Johnson Mitte dieser Woche zu seinen Antrittsbesuchen in Berlin und Paris aufbrach, drohte er kurz mal eben der Europäischen Union: Falls diese nicht seinen Forderungen nachkäme, käme es zu einem ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU in etwas mehr als zehn Wochen. In Berlin angekommen, stürmte er dann mit einem spitzbübischen Lächeln – was kümmert ihn seine Drohung von gestern – auf die Bundeskanzlerin zu, als müsse diese mal eben seinem Knaben-Charme erliegen. Man setzte sich zusammen zu Hymne und Gespräch. Anschließend gab es professionellen Optimismus. Johnson sagte, er sei zuversichtlich, dass ein No-Deal-Brexit auf dem Verhandlungswege noch verhindert werden könne. Und ergänzte auf Deutsch: „Wir schaffen das!“, schaute die Kanzlerin an und fuhr in seiner Muttersprache fort: „Das ist, glaube ich, der Ausdruck, nicht wahr?“

Wo Johnson auf humorige Überrumpelung setzte, ließ Merkel ihre gewohnte analytische Betrachtung folgen: Der „Backstop“ sei doch nicht mehr als eine „Rückfalloption“, führte sie aus. Wenn eine andere Lösung gefunden sei, werde auch der „Backstop als Platzhalter“ überflüssig. Bislang sei man davon ausgegangen, dass man in den kommenden zwei Jahren eine endgültige und einvernehmliche Lösung der Grenzfrage zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland finden werde. „Aber man kann sie vielleicht auch in den nächsten 30 Tagen finden. Warum nicht?“ Es müsse möglich sein, den strittigen Punkt bei der Gestaltung der künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU „dingfest“ zu machen, sagte Merkel.

Doch dies war Gerede um den heißen Brei: Sowohl der Premier als auch die Kanzlerin machten keine Aussagen dazu, wie sie das grundsätzliche Problem des Brexit lösen können. Merkel will – wie alle anderen EU-Vertreter auch – ein Aufschnüren des Austrittsvertrags verhindern und sieht eine Lösung bei der Gestaltung der so genannten Politischen Erklärung, in der die künftigen Beziehung zwischen Großbritannien und der EU skizziert werden. Johnson hingegen will den Austrittsvertrag ändern. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, blieb Johnson wenig diplomatisch. Selbst die unverzügliche Aufhebung der Freizügigkeit für EU-Bürgerinnen und -Bürger brachte er ins Gespräch.

Doch dies verfing nicht in Berlin. Weder bei der Politik, noch bei der Wirtschaft. Selbst Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), erklärte, dass der Wunsch Londons nach einem Aufschnüren des Deals „unverantwortlich“ sei. Die deutsche Industrie unterstütze die EU-Kommission und die Bundesregierung dabei, am ausgehandelten Scheidungsvertrag festzuhalten. Er sei nicht nur für die deutsche Industrie „von riesengroßer Bedeutung“. Die Unternehmen in Deutschland vertrauten auf möglichst wenig Friktion im Außenhandel, stabile Verhältnisse an den Außengrenzen und Sicherheit in Arbeitnehmerfragen. „Brüssel und London müssen die Weichen richtig stellen, um den drohenden harten Brexit abzuwenden“, so Lang. Auch in Paris wird Johnson auf wenig Entgegenkommen hoffen können, denn Präsident Emmanuel Macron gilt als härtester Verfechter des ausgehandelten Brexit-Deals.

Johnson wird auf den G7-Gipfel an diesem Wochenende im französischen Biarritz hoffen. Hier möchte er in einem größeren Kreis für seine Brexit-Idee werben. Einen Unterstützer hat er dort: den US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der Großbritannien für die Zeit nach dem Austritt aus der EU bereits ein „fantastisches Handelsabkommen“ in Aussicht gestellt hat. Trump hat sein erstes bilaterales Treffen während des Gipfels für den britischen Premier reserviert.

Das taktische Spiel Johnsons: Er glaubt, dass die EU so lange Härte gegenüber London zeigen wird, wie in Brüssel der Eindruck vorherrscht, das britische Unterhaus werde Johnsons Durchmarsch in Richtung No Deal noch irgendwie stoppen – können. Dieses Stimmungsbild wird noch eine Weile die Szene bestimmen, denn das Parlament ist noch nicht einmal aus der Sommerpause zurückgekehrt. Und auch dann ist die Lage unübersichtlich: Oppositionsführer und Labour-Chef Jeremy Corbyn möchte zwar Johnson mithilfe eines Misstrauensvotums stürzen, weiß aber noch nicht, wie er das anstellen soll, denn es zeichnet sich keine Mehrheit für diesen Vorstoß ab. Einige No-Deal-Brexit-Gegner wollen den Premier per Gesetz dazu zwingen, die Frist für den Austritt ein weiteres Mal zu verlängern. Doch schließlich könnten die britischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier von der endlosen Brexit-Debatte derart ermüdet sein, dass sie lieber ein Ende mit Schrecken wollen, denn ein Schrecken ohne Ende. Völlig unklar ist hingegen die Situation in Schottland, Nordirland und Wales. Hier wurde Johnson bei einem Besuch mit den Auswirkungen des Brexit konfrontiert. Vertreter der Agrarindustrie rechneten dem Premier die Subventionen vor, die sie jedes Jahr aus Brüssel erhalten, und forderten von Johnson eine verbindliche Zusage, diese Zahlungen zu kompensieren. In diesem Moment half keine humorige Übertölpelung.

Martin Theobald
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