Die kleine Zeitzeugin

Bitte heirate mich!

d'Lëtzebuerger Land vom 31.03.2017

Der Name klingt polnisch, das Foto zeigt einen dunkelblonden Jüngling, er will mein Facebook-Freund werden. Warum eigentlich, etwas rätselhaft, inwiefern gehöre ich zu seiner Zielgruppe? Viel erfahre ich nicht unter seinem Profil. Aber warum nicht, ich grenze niemand aus, und ich bin so verdammt neugierig. Immer die gleichen Weisheiten und Witze wiederkäuen mit ähnlich Tickenden, Klickenden, ist etwas eintönig. Ich schaue mir Babys aus Bangladesh, tätowierte Rentnerinnen aus Nordrhein-Westfalen und junge Afrikaner mit Cola-Dosen in der Hand an, die nicht müde werden, Dieu zu loben, den gleichen, den wir haben, wenn wir einen hätten.

Bonjour, schreibt der junge Pole, und comment ça va?, und ich schreibe: Ça va, und ça va? Und warum französisch? Ob er kein Pole sei? Nein, er ist Algerier. Es ist der Name eines polnischen Fußballspielers, mit einem algerischen Namen würde ihn niemand annehmen. Ich frage ihn nach seinem Alter. Er ist 19. Ich frage ihn, was er von mir will. Ich könnte seine Großmutter sein, warum kontaktiert ein junger Araber eine alte Europäe-
rin? Er sei Kabyle, präzisiert er, Berber. Und ich très belle. Das finde ich schön, aber bestimmt gibt es auch schöne Frauen unter 60 in seiner Nähe. Ich solle

mich nicht alt nennen, rügt er. Ich sei nicht alt. Und das wäre ihm auch egal, außerdem. Alter wäre egal. Was er von mir wolle?, interviewe ich. Ich will dich heiraten, schreibt er. Ich bin verheiratet, antworte ich. Er suche also eine Frau, die ihn nach Europa hole? Ja.

Mein neuer Facebook-Freund schreibt gutes Französisch, zwischendurch Englisch, auch nicht schlecht. Warum er weg wolle, es gebe keinen Krieg in Algerien? Er würde in den Bergen wohnen, es sei im Winter sehr kalt, die Ziegen erfrieren. Die Ziegen würden schon seit Jahrhunderten erfrieren, antworte ich, die Menschen hätten dort weitergelebt. Es wäre doch schön, mit der Familie, in der Natur, und warum geht er nicht in die Stadt, wenn es ihm nicht gefällt? Als Kabyle habe er in Algerien null Chancen, schreibt er, Kabylen seien diskriminiert und unterdrückt. Er habe keine Zukunft dort. Bitte, ich solle nach Algerien kommen, bald. Ihn heiraten, mitnehmen nach Europa. Dass ich verheiratet bin, beeindruckt ihn nicht. Und dann? Dann sei er in Europa. Und dann? Dann habe er ein Leben, alles sei möglich.

Ich schreibe, ich würde ihn nicht heiraten und nicht nach Europa holen. Er solle nicht kommen. Bloß nicht. Europa sei schrecklich. Voll von Jungs wie ihm, die vor einem Krieg flüchten oder einen Traum verfolgen. Den Traum von Europa, Freiheit, alles möglich. Dann würden sie durch die Straßen laufen und betteln und Drogen nehmen und komplett verrückt werden. Europa wolle sie nicht, schon gar nicht, wenn sie nicht aus Kriegsgebieten kommen. Wegen dem Terror würden sich die Europäer vor solchen wie ihm fürchten. Er sei kein Terrorist, schreibt er trotzig, er sei nicht mal fromm. Und ich soll ihn heiraten. Bitte. Bitte. Und wenn ich nicht käme, steige er in ein Boot. Egal in welches.

Er würde umkommen, schreibe ich. Egal, ihm sei alles egal. Er käme auf jeden Fall. Seine Mutter würde weinen, schreibe ich.

Ich sitze die halbe Nacht am Computer. Ich schildere Europa in den abscheulichsten Farben, bediene mich bewährter mütterlicher Erpressungsmethoden, prophezeie ihm eine schreckliche Zukunft. Gar keine.

Es ist noch vor Köln-Hauptbahnhof, der Begriff Nafris existiert noch nicht. Aber Straßen und Fernsehsendungen sind voll von desorientierten Menschen, Menschen werden aus dem Meer geborgen, oder auch nicht. Es ist der Höhepunkt der großen Welle.

Bitte, komm nicht!, flehe ich.

Ein paar Tage später bekomme ich ein Dankschreiben. Dafür, dass ich mir so viel Zeit genommen habe, um ihn von seinem Plan abzubringen. Er sei sich nicht mehr so sicher, vielleicht sei es doch keine gute Idee.

Wie ich jetzt in meiner chaotischen Freundestruppe nach dem polnischen Fußballspieler suche, finde ich ihn nicht mehr. Wo er wohl sein mag?

Michèle Thoma
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