Immunologie

Vom "Selbst" der Zellen

d'Lëtzebuerger Land vom 26.10.2012

Der internationale Fachkongress, den das Centre de recherché public de la Santé am 15. und 16. November in Luxemburg organisiert, hört sich in seiner Beschreibung für Laien ziemlich metaphysisch an: Es geht dort um das zelluläre „Selbst“ und dessen Rolle im menschlichen Immunsystem. Haben Zellen tatsächlich eine Identität?
In der Tat – die haben sie. Und nicht etwa nur die Zellen im Menschen, sondern die in allen Wirbeltieren ab den Knorpelfischen. Die Identität trägt den komplizierten Namen Major histocompatibility complex, abgekürzt MHC. Das ist eine Gruppe von Genen, in denen eine Information steckt, um Protein-Komplexe zu produzieren, die anschließend auf der Zelloberfläche ausgebildet werden. Diese Protein-Komplexe sind von vitaler Bedeutung für den Organismus. Sie zeigen an, welche Zellen tatsächlich zum Körper gehören und welche nicht. Findet das Immunsystem eine Zelle vor, die eine andere Signatur trägt, wird eine Immunreaktion ausgelöst.
„Weil diese Funktion so fundamental ist, behandelt unser Kongress ein ganzes Spektrum damit verbundener Themen“, sagt Jacques Zimmer, Immunologe am Institut für Immunologie und Allergologie des CRP-Santé, der die Kongressvorbereitungen koordiniert. Denn dass die Signatur-Proteine körpereigener wie körperfremder Zellen richtig gedeutet werden und die richtige Immunantwort erfolgt, ist sozusagen der Idealfall. Krebszellen zum Beispiel können diesen Vorgang beeinflussen; zum Beispiel indem sie Identitäts-Signaturen für sich „kidnappen“, oder sie nachahmen, oder aber die Immunreaktion torpedieren, die erfolgen sollte, um Krebszellen zu bekämpfen.
Wer vermutet, dass die zelluläre Identität auch eine Rolle bei Immunkrankheiten spielt, liegt ganz richtig. Eine davon, die so genannte TAP-Defizienz, ist am CRP-Santé zu einem Forschungsthema geworden, das Zimmer bearbeitet. „Es handelt sich um eine recht seltene Erkrankung, von der bislang weltweit erst an die 30 Fälle dokumentiert sind“, sagt Zimmer. TAP ist ein Protein, das dazu dient, die Darstellung eines bestimmten  Identitäts-Komplexes auf der Zelloberfläche zu regulieren. Fehlt TAP, wird das Immunsystem fundamental gestört. Zimmer schließt jedoch nicht aus, dass die TAP-Defizienz wesentlich häufiger sein könnte, als bisher bekannt ist. „Ihre Symptome sind chronische Infektionen der Lunge und Geschwüre an der Haut.“ Dass ein Arzt einen Patienten auf die Symptome hin behandelt und nichts von dem dahinterliegenden Problem ahnt, sei möglich. Leider sei die TAP-Defizienz noch nicht heilbar: Hervorgerufen wird sie durch einen genetischen Defekt, der die Bildung des TAP-Proteins unterdrückt. Therapiert werden müsste der entsprechende Gen-Abschnitt. Doch so weit ist die Medizin noch nicht.
TAP-Patienten bleibt bisher im Grunde nur die Einnahme von Antibiotika, und zwar lebenslang. Die Infektionen, die ihre Lunge und ihre Haut befallen, sind ausschließlich bakteriellen Ursprungs. Dieser Punkt ist es, dem das Forschungsinteresse von Jacques Zimmer und seinen Kollegen gilt: Die verschiedenen Komplexe zellulärer Identität im Organismus beeinflussen jeweils verschiedene Abwehrmechanismen des Immunsystems. Die wiederum wirken auf verschiedene Typen von Erregern. „Dass von der TAP-Defizienz gerade jener Mechanismus betroffen ist, der auf bakterielle Erreger reagieren sollte, ist überraschend.“ Diesen Zusammenhang will man am CRP-Santé nun näher untersuchen.

Peter Feist
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