Gut möglich, dass die Pädiatrie auf die Haupstadt konzentriert wird. Was den Leuten im Norden aber schwer zu erklären sein dürfte

All an d’Stad?

d'Lëtzebuerger Land du 05.12.2014

Mittwoch Nachmittag waren sie verabredet: die Gesundheitsministerin, der Sozialminister, die Krankenhausdirektoren aus Esch, Ettelbrück und vom CHL und die Fachgesellschaft der Kinderärzte. Gemeinsam wollten sie eine Lösung suchen für die Pä-diatrie-Krise im Centre hospitalier Émile Mayrisch im Süden und im Centre hospitalier du Nord. In beiden Spitälern haben vor zwei Wochen sämtliche Kinderärzte zum Jahresende ihre Verträge gekündigt.

Bleibt es dabei und finden Chem und CHdN bis dahin keine neuen Pädiater, dann müssten im Escher und im Ettelbrücker Krankenhaus nicht nur die pädia-trischen Dienste schließen, sondern vor allem auch die Maternités: Ohne einen Kinderarzt in ständiger „Rufbereitschaft“ darf keine Geburtenstation betrieben werden. In Esch aber kamen zuletzt knapp 1 200 Kinder zur Welt, in Ettelbrück über 800. So viel in die Hauptstadt zu verlagern, würde die Zahl der Entbindungen im CHL und in der Bohler-Klinik ganz kurzfristig um 50 Prozent erhöhen. Alle sind sich einig, dass das gar nicht zu bewältigen wäre.

Doch dass aus der Pädiatrie-Krise eine Maternité-Krise wird, ist unwahrscheinlich – so weit wollen es die Kinderärzte nicht kommen lassen. Fragt sich nur, wie die Pädiatrie ansonsten beschaffen sein soll. Geklärt wurde das am Mittwoch noch nicht.

Denn die Kündigungen vom 19. November sind die Fortsetzung der Probleme von vor anderthalb Jahren. Im Mai 2013 hatten die CHdN-Kinderärzte schon einmal demissioniert. Die im Chem drohten, das gleiche zu tun, ließen es dann aber bleiben, weil die Nord-Pädiater politisch genug Druck ausgelöst hatten: Der damalige Minister Mars Di Bartolomeo (LSAP) empfing sie und ihre Fachgesellschaft, und gemeinsam erfand man ein „Pilotprojekt“. Im Ettelbrücker Krankenhaus wurde ein Behandlungsraum Maison médicale pédiatrique getauft. Dort sollte wochentags zwischen 19 und 22 Uhr und an Wochenenden und Feiertagen von zehn und zwölf und 17 bis 20 Uhr ein Kinderarzt anwesend sein.

Am 1. Oktober startete das Pilotprojekt, nach einem Jahr sollte es ausgewertet werden. Die Pädiatrie schaffte es sogar ins Regierungsprogramm der blau-rot-grünen-Koalition, die festhielt, „gegebenenfalls“ würden Maisons médicales pédiatriques auch im Süden und im Zentrum eingerichtet. Doch ob das so geschieht, ist fraglich. Und in Ettelbrück könnte Ende des Jahres Schluss sein. Wer sollte das Kindermedizinerhaus im Krankenhaus weiterführen, wenn kein Arzt mehr da ist? Ganz abgesehen davon, empfahl die Evaluation des Pilotversuchs, eine Maison médicale speziell für Kinder allenfalls im Zentrum und „notamment auprès du service de pédiatrie du Centre hospitalier de Luxembourg à partir du 1er janvier 2015“.

An dieser Stelle wird die Geschichte kompliziert – und in mehrerlei Hinsicht politisch. Tritt ein, was die Empfehlung vorwegnimmt, und wären Kinderärzte im Süden und im Norden nur noch für die Maternités da, dann wäre das ein Rückschritt im Angebot. Vor allem im Norden: Ein akut erkranktes Kind von Petingen in die Hauptstadt ins Spital zu bringen statt nach Esch macht keinen allzu großen Unterschied; eines von Huldingen nach Luxemburg statt nach Ettelbrück fahren zu müssen dagegen schon. Man sieht es an den Zahlen: Im Escher Krankenhaus suchten im vergangenen Jahr pro Tag zwischen elf und 22 Kinder die Urgence auf. In Ettelbrück empfing die Maison médicale pédiatrique an Wochentagen im Schnitt fünf Kinder, an Wochenenden und Feiertagen dagegen 25 bis 35 pro Tag, an dem sie fünf Stunden geöffnet hatte. Das ist gar nicht so wenig, die CHL-Kinderklinik zählte im vergangenen Jahr 8 500 Passagen am Wochenende, davon 40 Prozent „leichte Fälle“. Auf Samstage und Sonntage umgelegt, sind das jeweils 33 Kinder bei Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeit. Bedarf im Norden, wo viele Dörfer in ihrer Einwohnerzahl seit Jahren schneller wachsen als die meisten Städte im ganzen Land, besteht also offenbar zumindest am Wochenende. Und weil im ländlichen Raum besonders viele wahlberechtigte Luxemburger wohnen, kann die Gesundheitsministerin, aber vor allem der aus Wiltz stammende Sozialminister, diesem Bedarf gegenüber nicht gleichgültig bleiben.

Doch: Krankenhausmedizin zu organisieren, ist noch etwas anderes als ein kindermedizinisches Angebot über die Öffnungszeiten der Pädiater-Praxen hinaus zu schaffen. Bisher gilt, dass ein Spital, das im 24-Stunden-Notdienst steht, einen Kinderarzt nicht nur für die Maternité abrufbereit haben muss, sondern auch für andere Notfälle an Kindern. An Chem und CHdN aber gibt es keine festangestellten Kinderärzte wie in der Kannerklinik: Die Pädiater in Esch und Ettelbrück sind Belegärzte. Als freiberufliche Mediziner betreiben sie eine Praxis in Diekirch, Ettelbrück oder Wiltz; vier der fünf Chem-Pädiater haben ihr Cabinet in Esch, der fünfte hat seines in der Hauptstadt. In ihrem Krankenhaus hospitalisieren sie ihre jungen Patienten, falls das nötig ist, und behandeln sie; ansonsten sind sie abwechselnd in 24-Stunden-Rufbereitschaft fürs Spital. Das Problem ist nur, dass der Bereitschaftsdienst allein an den Beleg-Kinderärzten hängenbleibt. Und das ist es, was die Pädiater an Chem und CHdN vor allem beklagen: den wachsenden Verlust an Lebensqualität durch die vielen Rufbereitschaftsdienste und die Ungerechtigkeit, dass so viele Kollegen, die an kein Spital gebunden sind, sich nicht am Service de garde beteiligen.

Das ist das zweite politische Problem für die Gesundheitsministerin und den Sozialminister: Die Pädiatrie-Krise im Süden und im Norden ist in Wirklichkeit eine der in Luxemburg vorherrschenden liberalen Klinikmedizin. Schwierigkeiten mit den Bereitschaftsdiensten gibt es seit Jahren, nicht nur in der Pädiatrie, sondern auch in anderen Disziplinen, etwa in der Ophtalmologie. Sie lauern vor allem in Branchen, die immer „ambulanter“ werden und wo die meiste ärztliche Arbeit im Cabinet erledigt werden kann: Laut Pädiatrischer Gesellschaft macht für einen Beleg-Kinderarzt der Klinik-Anteil an seiner Aktivität oft nur noch zwei Prozent aus. Sich auch an ein Spital zu binden, haben freiberufliche Kinderärzte immer weniger nötig. Weshalb es im Süden neben den vier am Chem als Belegarzt akkreditierten Pädiatern noch mehr als doppelt so viele gibt, die mit keiner Klinik liiert sind.

Sollte man die auch zum Bereitschaftsdienst heranziehen? Das Gesetz über den Arztberuf macht die Teilnahme daran schon seit 30 Jahren zur Pflicht. Doch noch kein Gesundheitsminister traute sich, die großherzogliche Verordnung zu schreiben, die Näheres regeln soll. Lydia Mutschs Vorgänger Mars Di Bartolomeo drohte ab und zu damit, beließ es jedoch dabei. Denn die Verordnung auch durchsetzen zu können, würde voraussetzen, die Vergütung der ärztlichen Arbeit zu überdenken und zu klären, ob der Bereitschaftsdienst der freien Ärzten als Service public honoriert wird. Die delikate politische Frage, zumal für eine zum Sparen entschlossene Regierung, lautet aber, ob das mit mehr Ausgaben verbunden sein darf oder ob man von den Ärzten erwartet, das unter sich zu regeln, ohne dass der Gesamtkostenpunkt stiege. Weil das ziemlich illusorisch wäre, pocht auch die aktuelle Regierung nicht zu sehr auf die Dienste. Am Mittwoch wurde festgehalten, dass auch künftig in allen drei Regionen „Basisprobleme“ von Kindern außerhalb der Pädiaterpraxen betreut würden. Was genau das hieße, soll noch geklärt werden. Möglich wäre aber, dass in Chem und CHdN küftig nur ein Notfall-Mediziner die Kinder sieht und sie dann, falls nötig, weiterverweist ans CHL.

Dabei schwören die Kinderärzte mit den gekündigten Verträgen Stein und Bein, dass es ihnen nicht darum geht, was sich verdienen lässt, wenn man am Wochenende ins Spital gerufen wird. Aber wenn dort lediglich ein Kind mit einer Warze an der Hand wartet, wie es ein Escher Pädiater unlängst erlebte und dem Land berichtete, dann fragt ein Arzt sich schon, weshalb er schon wieder für so was ins Spital geeilt ist und was das einbrachte. Die Gebührenordnung sagt: Für eine Konsultation im Bereitschaftsdienst, und den verrichten Chem und CHdN ständig, können zwischen sieben und 20 Uhr 36,30 Euro in Rechnung gestellt werden. Von 20 bis 22 Uhr kann ein Kinderarzt 65,60 Euro aufschreiben, von 22 bis sieben Uhr 89,80 Euro. Das ist nicht viel, wenn man es mit Handwerkerpreisen vergleicht. Und es ist einer der Gründe, weshalb Kinderärzte ohne Krankenhausbindung sich nicht für die regelmäßige Teilnahme an der Rufbereitschaft interessieren. Um sich der Pflicht nicht ganz zu entziehen, helfen sie ab und an für einen halben Tag in der CHL-Kannerklinik aus, denn dort ist mitunter ebenfalls Not am Arzt.

An dieser Stelle sollte die Maison médicale pédiatrique den Test auf Abhilfe machen. Zum einen sollte sie Patienten mit „Kleinigkeiten“ an bestimmte Öffnungszeiten gewöhnen, zum anderen Pädiater aus anderen Gegenden zur Mitarbeit interessieren. Geld vom Staat sollte helfen: Ein Arzt, der im Kinderärztehaus in Ettelbrück Dienst tut, kann nicht nur die Leistung laut Gebührenordnung in Rechnung stellen, sondern erhält obendrein 51 Euro die Stunde aus der Staatskasse. So, wie die Allgemeinmediziner in den drei Maisons médicales für Generalisten in Esch, Ettelbrück und im Bahnhofsviertel der Hauptstadt.

Doch als Ende September die Pilotphase vorbei war, zogen die meisten der Pädiater aus Mersch, Junglinster und Echternach, die sich bis dahin beteiligt und die Kollegen aus dem Norden entlastet hatten, sich wieder zurück. Sei es, weil der Aufwand ihnen zu groß war oder es doch nicht genug zu verdienen gab. Am Ende hätten die Nord-Pädiater die Maison médicale zumindest am Wochenende durchaus weiterbetrieben, sofern andere Ärzte mitgemacht hätten. Auch das Ministerium war nicht abgeneigt, aber die Idee war in der Pädiatrischen Gesellschaft nicht mehrheitsfähig: Nur für eine Maison gebe es genug Ärzte, hieß es. Ob sich das ändert, ist nach der Sitzung vom Mittwoch noch nicht abzusehen. Möglicherweise erhält die Kannerklinik also eine Vorhut.

Aus der Welt wäre das Problem damit aber nicht. Der Entwurf zum neuen Spitalplan will die Kindermedizin – vor allem, wenn sie ein Klinikbett erfordert – noch stärker auf die Kannerklinik konzentrieren. Die CHL-Direktion aber hat die Gesundheitsministerin darauf aufmerksam gemacht, dass Pädiatrie ein defizitäres Geschäft ist. Weil der starke Ärzteverband sich bisher noch immer damit durchsetzen konnte, dass Medizinerleistungen hierzulande nur nach dem Akt abgerechnet werden dürfen, geschieht das auch im CHL. Die Einnahmen wandern in einen Topf, aus dem später die Arztgehälter bezahlt werden, und hochdotierte Disziplinen wie Radiologie oder Anästhesie subventionieren schlecht gestellte – wie die Pädiatrie. Noch mehr davon anzubieten, verlange noch mehr Personal, schrieb die CHL-Leitung, und vor allem mehr Ärzte. So dass die Frage, wie man Pädiater vergütet und was Bereitschaftsdienste von Ärzten wert sind, sich auch von dieser Seite her stellt. Vielleicht hilft es ja beim Entscheiden.

Peter Feist
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