Die Gemeindebibliotheken Hollerich und Eich 1905-1940.
Eine verdrängte Bibliotheksgeschichte

Ville du quart d’heure, anno 1905

d'Lëtzebuerger Land du 07.01.2022

„Aussi la Municipalité d’Esch peut-elle se glorifier à bon droit d’avoir créé la première bibliothèque populaire luxembourgeoise […]“, liest man in La Ville d’Esch de 1839 à 1939. So schön diese Aussage (welche erneut während der 100-Jahr-Feier der Escher Stadtbibliothek im Oktober 2019 hervorgehoben wurde) auch klingen mag, sie entspricht nicht den historischen Tatsachen.

Es war in Hollerich im Januar 1905, der zweitgrößten (!) Kommune des Landes mit 12 000 Einwohnern. Dort wagte es tatsächlich ein Schöffenrat die erste reine Gemeindebibliothek des Landes im 20. Jahrhundert zu gründen. Seit der Ex-Stadtbibliothek Luxemburg (1803-1848) ein absolutes Novum im Großherzogtum. Der spätere Bürgermeister Jules Fischer (1852-1914) schenkte der neu geschaffenen Volksbibliothek 151 Bücher in französischer Sprache aus seiner Privatbibliothek. Die überwiegende Mehrheit aller Bibliotheksbestände war damals allerdings deutschsprachig.

Am 1. März 1905 wurde sie eröffnet. Geöffnet war sie zwei Stunden pro Woche, sonntags, damit die arbeitende Bevölkerung nicht die angeblich langweiligen Sonntag-Nachmittage in Wirtshäusern bei Trunk und Kartenspiel vergeudeten. Zur Attraktivitätssteigerung kostete die Bücherausleihe damals nichts. Allerdings existierten Mahngebühren, als Anreiz zur Rückgabe der damals allgemein teuren Bücher. Zu finden war die Volksbibliothek im ersten Stockwerk des Hollericher Rathauses. Sie war für ihre Zeit innovativ: statt eines unzugänglichen Raums mit Schalter gab es einen Lesesaal, sprich einen Freihandbereich. Der Leser durfte die Bücher dort selbständig aussuchen, in die Hände nehmen, darin blättern und dann ausleihen. Eine Revolution! Die Anfangseuphorie der neu gegründeten Bibliothek sorgte für spektakuläre Ausleihstatistiken. 852 Bände zählte die Hollericher Gemeindebibliothek im Januar 1906, deutlich mehr als der übliche Bücherschrank einer Schülerbibliothek.

Nicht so revolutionär war die Tatsache, dass ein Lehrer-Bibliothekar sich um die Gemeindebibliothek kümmerte. Lehrer Pierre Broos (1867-1940) war ein überaus engagierter Bibliothekar, jedoch wie damals üblich, kontrolliert durch den Staat (als Lehrer durch den staatlichen Schulinspektor) und eine kommunale Bibliothekskommission. Die Bibliothekskommissionen vor 1940 waren wahre Überwachungskommissionen. Den vor 1940 ausnahmslos männlichen Bibliothekaren die alleinige Erwerbungsverantwortung zu überlassen, galt als politisch gefährlich oder gar fahrlässig. Wissenswert ist der Fakt, dass der Bürgermeister diese Kommission präsidierte. Dies zeigt, welchen Stellenwert eine Volksbibliothek als Meinungsbildungsinstitution damals innehatte.

Es gab, dank Zollvereinsanschluss mit Deutschland, Hilfe aus dem Ausland: die Gemeindebibliothek Hollerich wurde ab 1910 Mitglied der Gesellschaft für Volksbildung in Berlin (GfV). Eine Mitgliedskarte (15 Mark) beinhaltete eine sofortige Überweisung von ausgewählten Büchern im Werte von 200 Mark. Wer konnte einem so verlockenden Angebot widerstehen? Hollerich – und später auch Eich – jedenfalls nicht!

Am 23. März 1911 schaffte die Hollericher Volksbibliothek (31.01.1911: 1 793 Bände) es als Modellbibliothek des Landes auf die Titelseite der Luxemburger Bürger-Zeitung. Der Modellcharakter Hollerichs erstreckte sich im Jahre 1911 landesweit. Sogar bis nach Rümelingen, wo der Gemeinderat François Schmit-Vandyck meinte: „Die Gem[e]inde sollte hier ihre Bibliothek haben, wie Hollerich ein[e] solche hat“ (LW, 16.06.1911).

Bereits 1906 waren Forderungen lautgeworden, dass die Volksbibliothek in Hollerich-Ville sich viel zu weit entfernt von Hollerich-Bahnhof, Bonneweg oder Cessingen befand. 1911 kam deswegen ernsthafte Konkurrenz auf: die Volksbildungsvereine Bonneweg und Hollerich(-Gare) eröffneten Volksbibliotheken in ihren jeweiligen Gemeindesektionen. Sogenannte „bibliothèques de proximité“, nicht weiter als in 15 Minuten erreichbar, unabhängig der Fortbewegungsmittel („Ville du quart d’heure“), würde man diese Bibliotheken heutzutage nennen.

Waren auch katholische Volksbibliotheken in Hollerich aktiv? Natürlich, wie landesweit in quasi jeder Sektion jeder Gemeinde. Mindestens ab 1908 konnte jeder Hollericher Katholik in der örtlichen Pfarrbibliothek Zugang zu Büchern erhalten, ohne zu riskieren in einer „neutralen“ Volksbibliothek durch einen über Text übertragbaren ketzerischen Virus infiziert zu werden.

Ebenfalls 1911 gründete die sechstgrößte Gemeinde des Landes, Eich (ca. 6 600 Einwohner), ihre, eigentlich schon seit 1907 geplante, Volksbibliothek. Ein genaues Eröffnungsdatum ist nicht überliefert. Sicher ist hingegen, dass (schon wieder) ein aufgeklärter gewählter Volksrepräsentant, Bürgermeister Pierre-Eloi Schoué (1849-1919), an der Gründung maßgeblich beteiligt war. Folgende Daten sind bekannt: 25. Februar 1911, Gründung einer Bibliothekskommission; 30. April 1911, Votum einer Benutzungsordnung; 02. Juli 1911, Ernennung des Lehrer-Bibliothekars Jean Wolff. Ab Oktober 1911 war die Eicher Gemeindebibliothek sonntags von 10.30-12.00 Uhr und mittwochs von 20.00-21.00 Uhr geöffnet. Spätestens ab 1913 war sie in der Weimerskircher Schule untergebracht. Im Juni 1913 zählte sie 1 695 Bände, also circa mehr als fünf übliche Bücherschränke, d.h. Schülerbibliotheken.

In Hollerich, in der Gemeinderatssitzung des 28.08.1913, geschah ein Novum in der Geschichte der öffentlichen Bibliotheken des Großherzogtums: die selbst für Gemeindebibliotheken übliche Praxis des staatlich kontrollierten Lehrer-Bibliothekars wurde über Bord geworfen. Ein Gemeindebeamter wurde als Bibliothekar eingesetzt: Jean Beck (1892-1946), Kommis des Gemeindessekretariats, Bruder des Stadtsekretärs Henri Beck (1884-1958). Die Gemeinde „kontrollierte“ erstmals ihren eigenen Bibliothekar. Damals ein skandalöser anti-zentralistischer; aus heutiger Sicht ein absolut normaler und demokratischer Vorgang.

Mit dem Gesetz des 07. April 1914, „wodurch der Gemeindesektion Hollerich-Bonneweg die Benennung als Stadt beigegeben wurde“, wandelte sich eine kommunale Bibliothek formalrechtlich in eine Stadtbibliothek um: die Hollericher Gemeindebibliothek wurde die erste Stadtbibliothek des Landes im 20. Jahrhundert. Allerdings zog diese Titeländerung keine weiteren bedeutenden Veränderungen mit sich. In der Eicher Gemeindebibliothek wurde 1917, nach dem Tode von Jean Wolff, der Lehrer Pierre Thorn neuer Leiter. Thorn sollte bis 1921 im Amt bleiben.

Am 26. März 1920 fusionierte die Stadt Hollerich-Bonneweg und drei Monate später die Gemeinde Eich mit Luxemburg-Stadt. Luxemburg-(Ober-)Stadt erbte 1920 zwei Gemeindebibliotheken. Sie blieben unbeliebte Kinder bis zu ihrem Ende. Vorerst wurden sie vom Stadtrat jahrelang vergessen. Erst 1924 tauchte ein Artikel „bibliothèques populaires“ für Hollerich und Eich im Budgetprojekt der Stadt Luxemburg auf.

Das Ignorieren dieser Peripherie-Bibliotheken trieb seltsame Blüten: im Gemeinderat des 20. Juni 1925 und sogar im Parlament des 11. Mai 1927 verschwieg überraschenderweise ausgerechnet Bibliotheksmilitant René Blum (1889-1967) die Existenz der Volksbibliotheken Hollerich und Eich. Bürgermeister Gaston Diderich, der seit 1921 von ihrer Existenz wusste, erwähnte die „Volksbibliotheken von Hollerich und Eich“ am 02. Juli 1927 zum ersten Mal überhaupt im Stadtrat. Die dazugehörigen Bibliothekskommissionen waren längst Geschichte. Man kann, aber muss nicht verstehen, dass andere Kommissionen kommunalpolitisch einfach wichtiger waren. Wie etwa die Kommission für ein neues Glockenspiel in der Kathedrale.

Das Budget war lächerlich: für zwei Gemeindebibliotheken zusammen war 1928 halb so viel Geld (1 000 Franken) vorgesehen wie für die Bibliothek des Stadtsekretariats (2 000 Fr.)! Ab 1931 bis 1940 sollte sich das Verhältnis leicht ändern: 2 500 Fr. für die interne Sekretariatsbibliothek, 3 500 Fr. für zwei Bibliotheken für das ganze Stadtvolk, allerdings Bibliothekspersonalentschädigungen mitinbegriffen. Ein Vergleich mit den kommunalen Schulbibliotheken (im Durchschnitt 12 000 Fr.) bezeugt das vorherrschende Desinteresse. 1927 betrug das Budget der einzigen Stadtbibliothek in Esch/Alzette 10 000 Fr., das für die Düdelinger Stadtbibliothek im Jahre 1929 sogar 15 000 Fr.

Nachdem der Eicher Lehrer-Bibliothekar Nicolas Schmit am 02. September 1934 gestorben war, konnte sich das Schulamt auf keine Nachfolge einigen. Resultat: die Gemeindebibliothek Eich in Weimerskirch blieb bis zu ihrer Auflösung geschlossen. In Hollerich war Jean Beck, wahrscheinlich 1922, durch den zum Unterbürochef der Zentralverwaltung beförderten François Hoffmann (1886-1975) ersetzt worden. Hoffmann war der letzte Bibliothekar Hollerichs. Im November 1941 wurde er von den Nazis als „Sie bieten nicht die Gewähr“-Beamter vom Dienst enthoben.

Diese „städtische[n] Bibliotheken nur in Hollerich und Eich, als Überbleibsel dieser früheren Gemeinden“ (Lambert Schaus, Sitzung des Gemeinderates vom 16.12.1938) wurden vom Gemeinderat von Luxemburg-(Ober)Stadt seit 1920 eindeutig als minderwertig angesehen und dementsprechend behandelt. Zwar galt eine (staatliche) Nationalbibliothek als perfektes Alibi, um keine eigene Bibliothek aufbauen zu müssen (im ländlichen Raum bis heute der staatliche „Bicherbus“), dennoch dachte der Stadtrat fast 20 Jahre mehrfach über eine eigene Volksbibliothek in der Oberstadt, natürlich im Stadtzentrum, nach.

Dann folgte die wohl schlimmste Blamage: das NS-Regime eröffnete im Juli 1942 die Stadtbücherei Luxemburg (Anfangsbestand: 8 000 Bände), im Untergeschoss des Rathauses. Zentraler ging nicht! Es folgte im April 1943 eine erste Zweigstelle dieser Stadtbücherei in Bonneweg (8, rue Irmine). Obschon die Quellen schweigen, ist davon auszugehen, dass die Bestände der Gemeindebibliotheken in Hollerich und Eich/Weimerskirch in der neuen (Ober-)Stadtbibliothek, genauso wie alle konfiszierten Bibliotheken, integriert wurden.

Nach Kriegsende wurden die Bestände der NS-Stadtbücherei untersucht, um den früheren Bibliotheksbesitzern ihre Bücher zurückzuerstatten. Allerdings muss der Hass auf alles Deutsche so groß gewesen sein, dass eine Gründung einer eigenen Stadtbibliothek mehr als 15 Jahre lang tabu war. Erst die Entmistung der Nationalbibliothek, mit zu verschenkender Unterhaltungsliteratur im Jahre 1962, konnte den Schöffenrat Luxemburgs (Sitzung des 30.09.1963) überzeugen, eine Bibliothèque municipale de Luxembourg, heute Cité Bibliothèque, zu planen. Denn die Nationalbibliothek lieh gemeinerweise „keine Unterhaltungslektüre mehr aus.“ (Stadtratssitzung vom 23. Oktober 1967) Die offizielle Einweihung einer eigenen Stadtbibliothek fand schließlich am 20. Dezember 1967 statt.

Ironie der Geschichte: Um 1910 informierten sich die Bibliothekspioniere aus Esch/Alzette in der damals nationalen Modellbibliothek Hollerich, wie man eine Gemeindebibliothek einrichtet. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, genau am 22. April 1967, besuchte die Lesekommission der Stadt Luxemburg, zwecks Inspiration zur Errichtung einer Stadtbibliothek, die damalige nationale Modellbibliothek Esch/Alzette und bis Anfang der 2000er Jahre bestandsmäßig größte öffentliche Bibliothek des Landes.

Und heute? Die Hauptstadt Luxemburgs verfügt über so viele oder sogar mehr Einwohner wie die kulturell strahlenden regionalen Metropolen Metz und Nancy (nicht zu vergleichen mit den deutschen finanzknappen Provinzstädten Trier oder Saarbrücken). Allerdings besitzen diese Grand-Est-Zentren nicht nur eine einzige, sondern mehrere „Volksbibliotheken“. Die Vororte verfügen über eigene sogar auf bestimmte Benutzergruppen spezialisierte Zweigstellen („annexes de bibliothèque“). Metz und Nancy nennen seit Jahrzehnten erfolgreiche und vorzeigbare moderne Peripherie-Bibliotheken ihr Eigen. Dort setzen sich progressive Kommunalpolitiker bis heute für (ihre) „bibliothèques de quartier“ ein. Im Gegensatz zu Luxemburger Politikern stammen deren heutige Vorstellung und oft letzter Besuch einer öffentlichen Bibliothek nämlich nicht aus der Zeit vor 1970 (d’Land 17/2020). Und in der näheren Umgebung dieser natürlichen Frequenzbringer für Bevölkerungsschichten aller Art, alle Stadtviertelbewohner anziehende „dritte Orte“ (troisième lieu), entwickeln sich kommerzielle und soziale Zentren... Wie einst in Hollerich und Eich.

Weitere interessante Details zu den Gemeindebibliotheken Hollerich und Eich können in der Studie des Autors, mitsamt Quellen und dazugehörenden (492) Fußnoten, im Stadtarchiv Luxemburg (AVL, Signatur: CL:2021/14) eingesehen werden.

Jean-Marie Reding
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