Denis Scuto ist ein umtriebiger und medienpräsenter Akademiker. Nun hat er ein Buch über Bruce Springsteen herausgebracht

Der „Boss“ von Belval

Als wir den Professor am Dienstag in Belval treffen, um ihn zu fotografieren, ist er zufrieden: „der Hintergrund des Fotos steht
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 18.11.2022

„Ech kucken net“, behauptete Denis Scuto vergangenen Donnerstag im RTL-Kloertext. Aufgrund der Menschenrechtsverletzungen sei ihm die Lust vergangen, die Weltmeisterschaft im Katar zu schauen. Anschließend sinniert er darüber, dass Fußball Menschen zusammenbringt, erinnert sich an seine Trainer aus der Arbeiterklasse, die Solidarität und Fairness lebten und predigten. Zugleich können im Fußball nationalistische und rassistische Konflikte aufkommen und seit den 90-er-Jahren prägt das People-Phänomen den Sport, durch das Spieler zu plakativen und reichen Werbefiguren werden. Eingeladen wurde Denis Scuto als ehemaliger Jeunesse- und Nationalspieler, aber auch als Zeithistoriker, der aktuelle Geschehnisse einordnen soll. Sein Medien-Auftritt war nicht einmalig. Im Radio 100,7 und im Tageblatt bespielte er bis vor der Sommerpause seine Rubrik Zäithistoriker und verfasst Meinungsbeiträge wie im September über die Fehlplanungen von Esch-Belval und im Mai über die Lohnindexierung. Seine Medien-Beiträge der Jahre 2015 bis 2019 bündelte er in dem Band Une histoire contemporaine du Luxembourg en 70 chroniques, ein Werk das der damalige Journalist Pol Schock als Beleg für Scutos Profil als public intellectual sah. Er sei ein „belebendes Element für den öffentlichen Austausch“, er verstecke sich nicht im Elfenbeinturm, sondern ringe in und mit der Öffentlichkeit um Deutung, lobte ihn Pol Schock. Seine publizistische Tätigkeit geht allerdings noch viel weiter zurück, seine ersten Beiträge schrieb er 1988 fürs Tageblatt.

Am 15. November hat Scuto ein weiteres Buch vorgelegt, das im publizistischopulärwissenschaftlichen Bereich anzusiedeln ist. This hard Minett Land: Texte über Luxemburgs Süden, inspiriert von Bruce-Springsteen-Songs ist eine Ansammlung von Texten über Industriegebiete, Arbeiter/innen, Freundschaft und Fremdenfeindlichkeit. Als wir den Professor am Dienstag in Belval vor der Buch-Release-Party treffen, um ihn zu fotografieren, ist er zufrieden mit seinem Porträt: „der Hintergrund des Fotos steht in Resonanz zum Buch-Cover“; er hält das Buch hoch, auf dem ein nachgezeichneter Bruce Springsteen vor den Keeseminnen Gitarre spielt. Begeistert erzählt Denis Scuto, dass er vor Jahren das Management von Springteen anschrieb und vorschlug, dem „Boss“ zu zeigen, wo dessen Vater während der Ardennen-Offensive stationiert war. Es kam nie eine Antwort. Dass ihn Scuto als einen Minetter umdeutet, habe der Amerikaner aber erfahren und abgesegnet: Scuto hat das Buch nämlich auf Englisch übersetzt und dem Rocker zugesendet. Die Zustimmung kam einen Tag bevor das Buch in den Druck gehen sollte; über ein Jahr zogen sich zudem die Verhandlungen für die Rechte an den zitierten Songtexten zwischen Sony und dem Capybara-Verlag. Nun liegt das Buch endlich vor.

Unterschiedliche Autor/innen wie Michel Clees, Claudine Muno, Jérôme Quiqueret, Nathalie Ronvaux, Jeff Schinker und Nora Wagener trugen schließlich zu dem Projekt bei. Sie gehen mal sozialwissenschaftlicher, mal literarischer, mal autobiografischer an die Springsteen-Songvorlagen heran. So schreibt Guy Helminger über seinen Vater, der als Elektriker bei der Arbed eingestellt war: „Ich habe meinen Vater nie durch dieses Tor gehen sehen, das so viele in drei Schichten verschluckte. Bis ich zehn war, hatte ich noch nicht einmal eine Vorstellung davon, was er arbeitete.“ Der Rat seines Vaters lautete allerdings: „Do ni e bloe Kostüm un, soss ass et geschass“. Andreas Fickers, Leiter des C2DH (Centre for Contemporary and Digital History), bezieht sich auf einen Gedankenaustausch zwischen Bruce Springsteen und Barack Obama, und meint, beide wollen am American Dream festhalten, „obwohl sie sich seiner Fiktionalität und Unerfülltheit bewusst sind“. Der Historiker Andreas Fickers fragt sich, inwiefern dies ebenso für den luxemburgischen Wohlstandstraum gilt. Auf die sozialpolitischen Veränderungen ab den 1960-er-Jahren, als die ersten Hüttenwerke im luxemburgisch-lothringischen Eisenerzbecken stillgelegt wurden, geht EHESS-Professor Gérard Noiriel ein. Das Buch, das die Verlegerin Susanne Jaspers zunächst als „bisschen schräge Schnapsidee eines leidenschaftlichen Springsteen-Fans“ abtat, ist zu einem originellen Sammelsurium an Überlegungen über das Minett-Gebiet herangereift.

Als sich Denis Scuto vor drei Jahren eingehender mit Texten des Musikers beschäftigte, dämmerte ihm: „Dieser Springsteen ist auf seine Weise ein Minetter der USA!“ Seine Songs handeln vom Fehlen sozialer Gerechtigkeit, Hoffnung, der Arbeiterklasse und Migration. Der Verwandtschaft zwischen dem amerikanischen Rust-Belt und dem Minett müsse man nachgehen, entschied er damals. Springsteen-Fan ist der Escher allerdings schon länger. Er hat seine erste Begegnung mit dem Musiker in einem Tagebuch datiert: In der Nacht von Freitag, dem 14., auf Samstag, den 15. November 1986 um drei Uhr morgens, hörte er erstmals die Intro zu „The River“ – und war überwältigt. Dass die offizielle Buchpräsentation ebenfalls auf den 15. November fiel, sei Zufall, erwähnte Scuto; alle andern Abende waren bereits verplant. Dass sie zwei Tage nach seinem Geburtstag stattfand, ist vielleicht kein Zufall – man kann sich mal ein Buch zum 58. schenken.

Geboren wurde Scuto in Esch-sur-Alzette. Sein aus Sizilien stammender Vater war wie der von Bruce Springsteen ein ungelernter Arbeiter. Wie Denis Scuto hat der Musiker ein Elternteil italienischer Herkunft; bei ihm ist es die Mutter. Mit 14 Jahren begann Salvatore Scuto in Hayange, später in Esch/Alzette, in der Stahlindustrie zu arbeiten, wo er Denis Mutter, Thérèse Hoscheid, kennenlernte, eine Monopol-Angestellte. „Ich erinnere mich an einen Vater, der morgens früh gegen fünf aufstand und gelegentlich von der Schweißarbeit verblendet nach Hause kam. Um finanziell aufzurüsten, ging er manchmal zudem als Türsteher in Discos arbeiten. Die Stahlindustrie war im Alltag präsent – durch die Hochöfen am Horizont und Café-Kultur der Arbeiter, wenngleich der Zugang zum Gelände strikt verboten war“, erwähnt Scuto bei einem Espresso in einer neumodischen Kaffeebar auf Belval.

Die Familie sei politisch nicht aktiv gewesen; eigentlich typisch für Arbeitermigranten der ersten Generation: „Si hunn sech kleng gehalen, si hunn alles gemaach fir net opzefalen“. Bei ihm sei es umgekehrt, und vielleicht weil sein Vater politisches Engagement mied, ziehe ihn dieses an. Er war aktiv in der selbstverwalteten Jugendhaus-Bewegung, und später in der Friedensbewegung. Seine Diplomarbeit verfasste er schließlich beim CSV-nahen Historiker Gilbert Trausch und demULB-Professor Jean Puissant über den mehrwöchigen Arbeiterstreik im Jahr 1921, bei dem die Gewerkschaften scheiterten und dem Druck von belgischen und französischen Botschaftern und Hüttenpatronat nicht standhielten.

„Meine Leidenschaft für die Geschichtswissenschaft wurde allerdings erst in Brüssel an der Uni entfacht, als wir lernten, eigenständig zu recherchieren“, erwähnt Scuto. Ausschlaggebend sei die Begegnung mit dem Historiker Jean Stengers gewesen, dem Vater der Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers: „Er war ein Bilderbuch-Professor, ein verrückter und enthusiastischer Kopf, der Seminare zu ausgefallenen Themen wie beispielsweise der Geschichte der Masturbation anbot.“ Weil er sein Studium erst im Oktober 1988 abschloss und sich nicht mehr als Lehrer bewerben konnte, traute Gilbert Trausch ihm und Marie-Paule Jungblut die Koordination der Ausstellung 150 Jahre Unabhängigkeit 1839-1989 an. „Und so rutschte ich nach und nach in eine akademische Laufbahn hinein, obwohl mein Plan nach dem Studium eigentlich war, möglichst rasch als Lehrer zu arbeiten, weil ich meinen Eltern nicht auf der Tasche liegen wollte.“ Seine Dissertation legte er 2009 vor.

Seit 2019 ist Denis Scuto zudem Vizedirektor des interdisziplinären Forschungszentrums C2DH, an dem 110 Forscher/innen eingestellt sind. Das Institut geht teilweise auf die Robert-Krieps-Stiftung zurück, die in den 2010-er-Jahren in enger Zusammenarbeit mit dem Historiker begann, sich mit Erinnerungsarbeit zu befassen. Schließlich forderte die Stiftung ein Institut für Zeitgeschichte, das ans Kulturministerium angegliedert werden sollte (damit es unter der Leitung von Regierungsrat Bob Krieps, Sohn von Robert Krieps, gedeihen könne). Diese Forderung schrieben Ben Fayot und Marc Limpach – letzterer ein enger Freund von Denis Scuto – in das LSAP-Wahlprogramm und sie fand sich später im Koalitionsvertrag wieder. Marc Hansen (DP), damals Minister für Hochschulbildung, integrierte die Projektidee in die Uni.lu und mischte sie – unter Anweisung von Andreas Fickers – mit dem Buzzword „digital“.

In seiner Eigenbeschreibung bezeichnet sich das C²DH heute als ein Forschungszentrum, „mit einem Schwerpunkt auf Spitzenforschung in der luxemburgischen und europäischen Zeitgeschichte und deren Sichtbarmachung in Luxemburg“. Letzterem Anspruch wird Denis Scuto gerecht; Historikerkolleg/innen sehen es als sein Verdienst, dass er historisches Wissen über Medien vermittele, bemängeln aber gelegentlich, er würde kaum noch tiefgreifende zusammenhängende Recherchearbeit leisten. Als Inhaber eines akademischen Postens dürfe man dies jedoch verlangen, so die Argumentation. Zwar seien unter seiner Regie Sammelbände erschienen wie „Histoire de la justice au Luxembourg (1795 à nos jours)“, die Hauptarbeit sei allerdings auf seine Mitarbeiterinnen Vera Fritz und Elisabeth Wingerter zurückgefallen. Moniert wird ebenso, das Institut würde vermehrt Auftragsarbeiten angehen, die in populärwissenschaftlichen statt akademischen Formaten münden. So brachte das Institut gemeinsam mit dem Bahnunternehmen CFL ein Buch zu deren 75. Geburtstag heraus. Mit Esch2022 wurde rezent die virtuelle Ausstellung MinettStories lanciert.

Doch ohne die Medieninterventionen des Historikers wäre die Belval-Universität noch weniger sichtbar und die öffentliche Debattenkultur ärmer. Und tatsächlich sorgt Denis Scuto auch für politische Echos. Als er 2013 in einem Archiv eine Liste mit den Namen von 280 jüdischen Kindern fand, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von den Behörden erstellt und an die Besatzer übergeben wurde, veröffentlichte er diese prompt auf der Webseite von RTL. Aus der Chamber hieß es sogleich, eine Kommission müsse die Zusammenstellung der Liste und die Kollaborationsarbeit aufarbeiten. Eines seiner Vorbilder für seine Öffentlichkeitsarbeit ist Umberto Ecco, der in der Wochenzeitung L’Espresso eine eigene Kolumne besaß. Scutos neueste Idee sei, eine Beitragsserie über unterschiedliche Protestformen zu konzipieren: „Wer war beispielsweise beim Mai 1968 dabei? Wer beim Schülerstreik 1971 und wer bei den Anti-Cattenom-Protesten? Inwiefern war die Arbeiterklasse beteiligt? Und wer geht auf die Straße, wer empört sich nur vor dem Bildschirm?“, rattern die Fragen aus ihm heraus.

Am späten Dienstagnachmittag bricht Scuto schließlich zur Buchpräsentation auf: „An Bruce Springsteen habe ich ebenfalls eine Einladung verschickt. Die leise Hoffnung, dass er auftaucht, habe ich noch nicht ganz aufgegeben. Spätestens nächstes Jahr während seiner Europa-Tournee werde ich ihm das Buch übergeben“, behauptet er und verschwindet im Nieselregen von Belval.

Stéphanie Majerus
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