EU und der Friedensnobelpreis

Gerade noch rechtzeitig?

d'Lëtzebuerger Land du 26.10.2012

Die Europäische Union erhält den Friedensnobelpreis. „Wir alle“ bekommen den Preis. Erstaunlich, überraschend und ... relativ spät. Aber nicht zu spät: Es ist nie zu spät, um etwas Gutes zu tun, etwas Positives zu bewirken, Menschen eine Freude zu bereiten. Diese Preisverleihung – sie steht ja erst an, am 10. Dezember ist es so weit – freut sicher ganz viele Menschen, angefangen mit unseren Berufs-Europäern José Manuel Barroso, Herman van Rompuy und Martin Schulz. Dem fünfköpfigen norwegischen Nobelkomitee ist die Entscheidung nicht unbedingt leicht gefallen, immerhin ist Norwegen selbst ja kein EU-Mitglied. In der Regel wird ein Nobelpreis für vergangene Taten oder Forschungsergebnisse verliehen, manchmal auch – wie 2009 bei Barack Obama – in Erwartung der Dinge, die da kommen sollen. Oder auch nicht.
Bei der EU ist die Sachlage auf den ersten Blick eindeutig, aber nur auf den ersten Blick. In der offiziellen Begründung heißt es, die Union habe „über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung“ beigetragen. Da wird die deutsch-französische Ver- und Aussöhnung gepriesen („Heute ist Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar“), die EU-Beitritte Griechenlands, Spaniens und Portugals (nicht zu verwechseln mit dem griechischen Eurozonenbeitritt) und die Osterweiterung vom Mai 2004. Die solide Lebensleistung ist das Eine, die aktuelle, tiefe „Midlife“-Krise das Andere, wobei: Eine gestandene Sechzigjährige sollte eigentlich keine Mittlebenskrise mehr bekommen. Das Komitee tat dann auch gut daran, „ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten“ und „soziale Unruhen“, die die Union ja seit Jahren erlebt, nicht zu verschweigen. Das Wort „politische Krise“ fällt nicht, das wäre auch politisch unkorrekt.
Man wird das Gefühl nicht los, als Anhänger der europäischen Idee sollte uns das auch nicht stören, dass der Preis wenigstens soviel Ansporn, Ermutigung, Unterstützung, ja, Verpflichtung sein soll wie Erinnerung, Honorierung, Auszeichnung und Anerkennung zurückliegender Erfolge. So und nicht anders sollten die Medaillierten in spe mit dem Preis auch umgehen: bescheiden, den Ball flach haltend, sich auf ihre Hauptaufgaben besinnend und sich in den Dienst einer großen Sache stellend. Im Volk (anlässlich unserer Prinzenhochzeit war mehrmals vom „Fußvolk“ die Rede) und im Internet wurde die Verleihung des Friedensnobelpreises mehrheitlich positiv entgegengenommen, und das ist gut so. Fast hätte man meinen können, es sei so etwas wie ein „Wir-Gefühl“ im Entstehen, aber dafür ist die Auszeichnung und das ganze Drumherum dann doch zu weit weg vom Tagesgeschäft der meisten EU-Bürger, ganz zu schweigen von den Ängsten und Nöten all derer, die dabei sind, unter die Räder der europäischen Krise zu geraten.
Es gab auch kritische Stimmen. In Sachen Friedensstiftung und -sicherung ist die EU ein weltweit einzigartiges Erfolgsmodell, aber wie ist es um die Übertragbarkeit auf andere Weltregionen bestellt? Welche Rolle spielen wir in Syrien, im Nahen Osten, zwischen China und Tibet, um nur diese drei Brennpunkte zu nennen? Inwiefern sind Waffenlieferungen seitens EU-Staaten (etwa Deutschland und Frankreich) in aktuelle oder künftige Krisengebiete „friedensnobelpreiskompatibel“? Noch haben „wir“ ihn ja nicht bekommen, vielleicht hören diese Lieferungen ja am 11. Dezember auf. Dann wäre da noch die Frage des Preisgeldes, 930 000 Euro. Was man damit alles finanzieren könnte, etwa griechische Suppenküchen ...

Claude Gengler
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