Staatsbeiträge zur Sozialversicherung

Im Räderwerk der Automatismen

d'Lëtzebuerger Land du 05.01.2006

Das Wort des Jahres 2006, wenn nicht schon 2005, dürfte „Automatismus“ heißen. Mit der Onomatopöie eines Fallbeils, einem scharfen „Zack!“, hatte CSV-Haushaltsminister Luc Frieden am 7. Dezember dem Parlament vorgeführt, wie seine Ausgaben bei der Aufstellung des Haushaltsentwurfs für 2006 automatisch stiegen: um 5,1 Prozent durch Index, Sozialbeiträge und Gehälterpolitik. Dies alles „als Folge von Automatismen, die das Parlament in Gesetzen eingeführt hat“. Dass die Regierung diese Gesetze eingebracht hatte, vergaß er zu erwähnen, wie auch die automatischen Beiträge für internationale Organisationen oder BIP-gebundene Ausgabenziele in der Entwicklungs-, Forschungs- und Militärpolitik.

Schon zwei Monate zuvor hatte Premier- und Finanzminister Jean-Claude Juncker in seiner Erklärung zu den politischen Prioritäten der Regierung gemeint, dass seine Haushaltsprobleme weniger auf der Einnahmen- als auf der Ausgabenseiten lägen (S. 20), „und das Phänomen der automatischen Ausgabensprünge erklärt dieses Problem fast ganz“. Deshalb beauftragte er die Tripartite, bis nächsten Mai über einen der nach seiner Meinung bedrohlichsten Automatismen zu diskutieren, die Finanzierung der sozialen Sicherheit, die zu 2,4 Milliarden Euro aus der Staatskasse erfolge und sogar zu Überschüssen führe, die zu einem großen Teil aus dem Staatshaushalt stammten (S. 23).

Die Automatismen der staatlichen Bezuschuss der Sozialversicherung sind allerdings keine Erfindung der letzten Monate oder Jahre. Sie sind eigentlich schon 115 Jahre alt. Denn bereits 1891 wurde ein Gesetz verabschiedet, das eine staatliche Bezuschussung der Knappschaftskassen und anderer Arbeiterunterstützungsvereine, der Vorläufer der gesetzlichen Sozialversicherung, gewährte. 

Bei der schrittweisen Einführung der allgemeinen Zwangsversicherung gegen Krankheit, Unfall und Alter Anfang des 20. Jahrhunderts beschränkte sich der liberale Staat auf Organisations- und Kontrollfunktionen. Die ersten Krankenkassen wurden 1901 zu zwei Dritteln von den Arbeitern und zu einem Drittel von den Unternehmern gespeist. 1974 stellte der Staat endgültig die Parität zwischen Versicherten und Unternehmern her, weil die Arbeiterkrankenkasse strukturell in die roten Zahlen rutschte. Er übernahm eines der beiden Beitragsdrittel der Versicherten und bezahlte es aus Steuermitteln. Heute zahlt der Staat nach den Artikeln 29, 31 und 40 des Sozialversicherungsbuchs 37 Prozent der Naturalleistungen und zehn Prozent der Geldleistungen der Krankenversicherung sowie sämtliche Kosten der Mutterschaftsversicherung. Dadurch kam der Staat in den letzten  Jahren für etwa 37 Prozent der Einnahmen der Krankenversicherung auf. Seit dem Jahr 2000 steigen diese Zuschüsse durchschnittlich um etwa drei Prozent pro Jahr.

An der allgemeinen Rentenversicherung begann sich der Staat schon ab 1911 zu einem Drittel an den Beiträgen zu beteiligen, beziehungsweise zu zwei Neunteln und die Gemeinden zu einem Neuntel. Durch die von ihren Gegnern als „Rentenklau“ bezeichnete Reform von 1984 wurde die paritätische Beitragsaufteilung festgeschrieben. 2004 stiegen diese staatlichen Verpflichtungen nominal um 5,7 und inflationsbereinigt um 3,5 Prozent, größtenteils als Folge der Zunahme der Erwerbstätigenzahl und der Lohnmasse. Im statutarischen Regime des öffentlichen Dienstes kommt der Staat für drei Viertel der Kosten auf. Daneben bezahlte der Staat bisher die Hälfte der Verwaltungskosten, doch mit dem Staatshaushalt für 2006 gingen alle Verwaltungskosten der Rentenversicherung fast unauffällig zu Lasten  dieser Kassen.

Mit 936,7 Millionen und 772,9 Millionen Euro stellen die Transfers an die beitragspflichtigen Rentenversicherungen und die Krankenversicherungen die mit Abstand größten Posten staatlicher Sozialabgaben im Staatshaushalt für 2006 dar. Doch die staatliche Beteiligung  an den verschiedenen Formen der Sozialversicherung ist im höchsten Maße unterschiedlich. Kommt der Staat nur zu 15 Prozent für die Unfallversicherung auf, finanziert er zu 95 Prozent und mehr die Leistungen des Nationalen Solidaritätsfonds – aus dem das garantierte Mindesteinkommen, die Erziehungspauschale und Teuerungszulagen gezahlt werden –, des Beschäftigungsfonds und der Familienzulagen. Letztere reichen vom Kindergeld über die Zulagen für Mutterschaft, Geburt, Schulanfang, Erziehung bis zum Elternurlaub und werden vollständig aus der Staatskasse bezahlt,Doch selbst wenn für diese drei Versicherungen keine direkten Beiträge erhoben werden, wird beispielsweise der Beschäftigungsfonds, der unter anderem das Arbeitslosengeld auszahlt, zu einem großen Teil aus einer Zwecksteuer, der Solidaritätssteuer, finanziert, deren Funktion an diejenige von Sozialversicherungsbeiträgen erinnert. Auf der Ausgabenseite wird ebenfalls ein und dieselbe Leistung manchmal unterschiedlich finanziert, etwa der Elternurlaub, der je nach Bezugsberechtigten aus der Staatskasse oder dem Beschäftigungsfonds bezahlt wird.

Insgesamt machten im Jahr 2004 die Beiträge der öffentlichen Hand 51,1 Prozent der Einnahmen der Sozialversicherung aus. Dies stellt einen Anstieg seit 1990 dar, als der Beitrag noch 47,2 Prozent entsprach. Der eben erschienene Rapport général sur la sécurité sociale au grand-duché de Luxembourg 2004 erklärt den Anstieg der staatlichen Beteiligung seit 1990 damit, dass in denselben 15 Jahren der Arbeitgeberbeitrag von 23,8 auf 20,6 Prozent gefallen ist (S. 11). Der Anteil der Versicherten stieg dagegen parallel zu demjenigen des Staates, von 21 auf 24,6 Prozent. Zu diesen Verschiebungen trug bei, dass 1994 die Arbeitgeberbeiträge zu den Familienzulagen abgeschafft und von der Staatskasse übernommen wurden. Gleichzeitig wurden die Beiträge der größtenteils von den Unternehmen finanzierten Unfallversicherung gesenkt und so die Krankenversicherung stärker belastet, die zu 40,8 Prozent aus der Staatskasse finanziert wird.

Gab der Staat 1990 45,5 Prozent seiner laufenden Ausgaben ohne Kapitalausgaben für die Sozialversicherung aus, waren es 15 Jahre später 56,8 Prozent. Ein Teil dieses Anstiegs hat mit der rasch wachsenden Zahl der Erwerbstätigen und damit der Versicherten in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre zu tun. Denn für jeden neuen Renten- und Krankenversicherten schießt der Staat ein Beitragsdrittel zu. Bei Leistungen, für die der Staat keine Beiträge zahlt, sondern die Kosten übernimmt, kommt hinzu, dass die meisten von ihnen bei der automatischen Anpassung der Einkommen an den Index der Lebenshaltungskosten erhöht werden.

Ein anderer Teil des Anstiegs der Staatsbeteiligung an der Sozialversicherung erfolgt keinesfalls automatisch, sondern ist das Produkt politischer Entscheidungen. Dazu zählen in erster Linie die Einführung der Pflegeversicherung und der Erziehungspauschale. Durch die Einführung der Pflegeversicherung im Rahmen einer europäischen Richtlinie wurden die staatlichen Zuwendungen an die Sozialversicherung sprunghaft erhöht. Denn laut Artikel 375 des Sozialversicherungsbuchs muss der Staat 45 Prozent zuschießen. Zwischen 1999 und 2004 ist der jährliche Beitrag von 69,4 Millionen auf 112,7 Millionen Euro gestiegen. Gegenüber dem Budget vom vergangenen Jahr, als 40,5 Millionen Euro vorgesehen waren, verdoppeln sich dieses Jahr die Ausgaben für die Mammerent auf 80,53 Millionen Euro.

Im umgekehrten Sinn hatte die Regierung 2004 den staatlichen Beitrag zur Pflegeversicherung willkürlich von 45 auf 40 Prozent gesenkt und gleichzeitig den staatlichen  Beitrag zu den Einnahmen der Krankenkassen herabgesetzt, indem sie einen Transfer von 130 Millionen Euro aus der Rentenversicherung beschlossen hatte. Und es vergeht kaum eine Legislaturperiode, in der die christlichsozialen Familienpolitiker nicht ihre Wählerschaft mit einer reellen Erhöhung des indexgebundenen Kindergeldes belohnen, so dass es seit 1999 von 19,76 auf 28,46 Euro Index 100 oder um ansehnliche 44 Prozent gestiegen ist.

So vielfältig in der Vergangenheit die Ursachen für den Anstieg der staatlichen Transfers an die Sozialversicherung waren, so vielfältig sind auch die wirtschaftlichen und politischen Ursachen dafür, dass sie nun außer Kontrolle zu geraten scheinen. In Zeiten der Hochkonjunktur, wenn die Erwerbstätigen- und Versichertenzahl steigt, wird die zusätzliche Belastung der Staatskasse tendenziell ausgeglichen durch einen parallelen Anstieg der Steuereinnahmen, darunter der Lohnsteuer. Es ist in Zeiten schwächeren Wirtschaftswachstums, wenn der Anteil der staatlichen Transfers an die Sozialversicherung relativ am stärksten auffällt.

Hinzu kommt, dass sich durch die Steuersenkungen von 2001 und 2002 die staatlichen Einnahmen und die Zahl der Erwerbstätigen auseinander entwickeln, die Sozialbeiträge als Folge der allgemeinen Lohnpolitik und der Arbeitslosigkeit nicht mehr Schritt mit den Produktivitätsgewinnen bei den Leistungsanbietern halten. Zudem lässt die Konzentrierung der Wirtschaftspolitik auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit den Fortbestand des Sozialstaats einseitig als Kostenfaktor erscheinen.

Ziel des nach skandinavischem Vorbild hohen Fiskalisierungsgrads der Sozialversicherung sind niedrige Lohnnebenkosten, welche die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts erhöhen. Laut den Vergleichszahlen des statistischen Amtes der Europäischen Union, Eurostat, liegt der Arbeitnehmeranteil an der Sozialversicherung 2002 in Luxemburg mit 27,4 Prozent weit unter dem EU-Durchschnitt von 38,9 Prozent. Niedrigere Lohnnebenkosten gibt es nur in Dänemark und Irland. Der Anteil der öffentlichen Hand in Luxemburg liegt aber mit 43,3 Prozent weit über dem EU-Durchschnitt von 36,8 Prozent. Auch der Anteil der Beträge der Versicherten lag über dem EU-Durchschnitt.

In ihrem Gutachten zum Haushaltsentwurf für 2006 begrüßt die Handelskammer (S. 93) ausdrücklich die niedrigen Unternehmerbeiträge zur Sozialversicherung als Wettbewerbsvorteil. Wenn der Staat aber seine Beteiligung an der Sozialversicherung senkt, hält sie eine parallele Senkung der Leistungen im selben Umfang für unumgänglich.

 

Romain Hilgert
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