Er kommt auf sanften Pfoten, ganz in Weiß

Worst Case Scenario

d'Lëtzebuerger Land vom 22.01.2016

„Worst Case Scenario“ heißt es im Printmedium mit dem verheißungsvollen Namen L’ Essentiel, und die Leserin zuckt zusammen. Das musste ja so kommen, sie hat es gewusst, eigentlich schon immer. Schaudernd beugt sie sich über die Lettern, da steht es schwarz auf Weiß: Das Schlimmste kommt erst noch!

Leider, das ist ihr seit langem bewusst, will die Menschheit der Wahrheit nicht ins Auge sehen, alle stecken den Kopf in den Wüstensand. Jetzt ist es aber so weit! Die Leserin sieht Apokalyptisches vor sich, Szenen des Grauens, die sich abspielen, in allernächster Nähe, vor ihrem Garagentor gar. Erstarrte Käfer liegen auf dem Rücken, sind es gar Automobile?, in einem Straßengraben, in einer Landschaft, die es nicht mehr gibt, sie ist verschwunden. Überall kracht es, die Verkehrs- und Gesellschaftsordnung bricht zusammen, nur vereinzelt krabbeln vermummte Wesen durch die Geografie, sie schauen aus wie der Revenant. Irgendwann bleiben sie auf der Strecke. Nichts geschieht mehr. Alles steht still, wie in der Stillen Nacht, auch am Tag.

Dann herrscht Frieden auf dem Autofriedhof.

Schneewellen, wird gewarnt, es schüttelfröstelt die seriöse Leserin, eine Panikwelle bricht über ihr zusammen. Wo sind die guten, alten Flüchtlingswellen, die es sonst immer gibt? Dann wird ein Wetterfrosch zitiert: Die seriöse Leserin ist irritiert, schaut so seriöser Journalismus aus? Er sagt, ein Modell mit der höchsten Schneemenge hätte Recht gehabt, was die seriöse Leserin noch mehr irritiert, sie wusste nicht, dass Modelle Recht haben können. Aber die Lage ist zu ernst für solche Sensibilitäten.

Sie zwingt sich, die Prognosen und Diagnosen zu analysieren, sie darf die Panik nicht überhand nehmen lassen, wir schaffen das, yes, we can. Vielleicht kann sie ja noch was tun, Bucheckern bunkern oder Buchweizenmehl, noch etwas sammeln. Ihr Gepaxter kann vielleicht schnell noch ein Mammut jagen oder wenigstens in den Mammut fahren, aber die sind ausgestorben.

Vielleicht sollte sie die andern warnen. Die posten die ganze Zeit Schneemänner, Selfies mit Schneemännern, Kuscheln mit Schneemännern. Sie ignorieren den Ernst der Lage. Sie posten, wie ihr Hund oder ihr Kind im Schnee tollt, den Hund mit der Hundeschneemütze, oder ihren Lieblingsbaum im Pelz. Sie sind die ersten Menschen im Schnee. Die vom Schnee Betäubten posten Dächer und Felsen und Wälder und Türme im Schneeflaum, mit Schneesaum.

Er kommt herein geschneit, sie begrüßen ihn wie einen Verschollenen, einen Vermissten, sie flechten ihm Eisblumenkränze. Dabei hatten sie ihn schon abgeschrieben, flirteten mit allem, was herum spross, gingen fremd mit jedem daher gelaufenen Blümchen, prosteten auf Dezemberterrassen. Klimawandel, flöteten sie, so schlimm war der ja augenscheinlich gar nicht! Klimawandel light. Und jetzt sind sie voll auf Astrid Lindgren, am Uewen potert d‘Feier, deuten auf das gläserne Bächlein hinterm Haus, auf die Eiszapfen in ihren Bärten.

Wenn die wüssten! Er kommt auf sanften Pfoten, Ganz in Weiß, lullt sie alle ein. Sie nennen ihn liebevoll-neckisch Väterchen Frost. Dabei dachten sie eigentlich, er, so einer, sei überholt, out, sein Typ nicht mehr gefragt, dieses Patriarchale, Strenge. Aber dann steht er wieder vor der Tür und bricht auch gleich ein, ein eiskalter Typ, ein Wiederholungstäter.

Angst ist aber eine schlechte Ratgeberin, hört man in der letzten Zeit immer wieder. Gott sei Dank gibt es ja die Medien mit ihren Warnungen und Verhaltensmaßregeln und ihren Survival-Tipps, die seriöse Leserin, die auch Fernseherin ist und hin und wieder aus dem Fenster schaut, informiert sich laufend. Dass man sich warm anziehen soll, wird zum Beispiel immer wiederholt. L‘Essentiel verweist darauf, Windschutzscheibe und Seitenfenster des Automobils vom Eis zu befreien, auch kein schlechter Rat. Man sollte sich nicht in rollenden Iglus fortbewegen, da werden gleich Strafen verhängt! Irgendwie beruhigend, dass mitten in der Eiszeit ein paar einen kühlen Kopf bewahren.

Und ein mitfühlendes Herz. Aus einem tiefgekühlten Teich retten zwei mutige Feuerwehrleute im allerletzten Augenblick ein einsames Entenwesen. Wenn das nicht Anlass zur Hoffnung ist. Mitten im Worst Case Scenario.

Michèle Thoma
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