Der älteste Gesetzentwurf im Parlament wurde diese Woche 35 Jahre alt. Er soll das Streikrecht bei der Bahn regeln. Weder die Gewerkschaften noch die CFL-Führung wollen das

Das Vermächtnis von Marcel Schlechter

d'Lëtzebuerger Land du 12.03.2021

Am 19. Januar 1998 legten um drei Uhr morgens die Luxemburger Eisenbahner für 48 Stunden die Arbeit nieder. Damit nahmen sie an dem Streik teil, mit dem auch die Staatsbeamten und die Gemeindebediensteten gegen die Pensionsreform im öffentlichen Dienst protestierten.

Der damalige CSV-Premier Jean-Claude Juncker hatte die Spitzenleute der beiden Eisenbahnergewerkschaften Landesverband und Syprolux zuvor zu sich gerufen: Bei den CFL gebe es kein geregeltes Streikrecht, erklärte er ihnen. Deshalb müssten die Gewerkschaften sich an die „allgemeine Streikprozedur“ halten. Die Gewerkschafter entgegneten ihm, dass ihr Streik kein „wilder“ sei, sondern Teil einer Aktion im gesamten öffentlichen Dienst, an den die CFL assimiliert sind. Außerdem sei alles mit der Bahndirektion abgesprochen, damit der Betrieb so wenig wie möglich beeinträchtigt werde.

Aus dem Landesverband wurde später kolportiert, dass seine Vertreter noch hinzugefügt hätten: „Wenn Sie uns unter Druck setzen, beginnen wir noch früher zu streiken.“ Worauf Juncker nur geantwortet habe „macht doch was ihr wollt“.

Dass dieser Teil des Wortwechsels sich so zutrug, ist nicht sicher. Sicher ist dagegen, dass die damalige CSV-LSAP-Regierung für ein geregeltes Streikrecht bei der Bahn hätte sorgen können – wenn das so wichtig gewesen wäre: Ein Gesetzentwurf dazu lag seit 13 Jahren in der Abgeordnetenkammer. Und da liegt er heute noch. Er trägt als Document parlementaire die laufende Nummer 3000 und wurde diese Woche 35 Jahre alt. Eingereicht hatte ihn am 11. März 1986 der damalige LSAP-Transportminister Marcel Schlechter ebenfalls für eine CSV-LSAP-Regierung.

Es gibt Gesetzentwürfe der Regierung, die im Parlament als Karteileichen liegenbleiben. Kann sein, dass Wahlen dazwischenkamen, die nächste Regierung andere politische Prioritäten setzte und den Text zurückzuziehen vergaß. Ob Gesetzentwurf 3000 um Instanzewee in Vergessenheit geriet, ist nicht so klar: Nach den Regierungsbildungen 2009, 2013 und 2018 verwies der jeweilige Transportminister – Claude Wiseler von der CSV 2009 und anschließend François Bausch von den Grünen – den Text in den zuständigen parlamentarischen Ausschuss. Bausch tat das im Dezember 2018 zum zweiten Mal. Als ehemaliger Eisenbahner dürfte er wissen, warum. Dennoch erklärt seine Sprecherin Dany Frank: „Das ist kein Dossier, mit dem der Minister sich beschäftigt. Das hat keine Priorität.“ So dass sich vermutlich auch in dieser Legislaturperiode nichts daran ändern wird, dass die Bahn der einzige Sektor ist, für den es kein geregeltes Streikrecht gibt.

Am Recht, streiken zu können, ändert eine „Regelung“ des Streikrechts nichts. Als 1956 das Streikrecht in der Verfassung verankert wurde, lautete die Erklärung dazu: „La Constituante déclare que la garantie des libertés syndicales inscrite à la Constitution luxembourgeoise comprend le droit de grève pour la sauvegarde des revendications sociales légitimes de ceux qui travaillent.“ In Verfassungsartikel 11, Absatz 4 steht: „La loi garantit les libertés syndicales et organise le droit de grève.“ Es ist diese „Organisation“ des Streikrechts, über die es für die Bahn noch kein Gesetz gibt. Für den Privatsektor regelt der Code du travail, unter welchen Umständen gestreikt werden darf. Für die Staatsdiener und für den kommunalen Sektor bestehen jeweils eigene Streikgesetze.

Dass es für die Eisenbahn fehlt, stört offenbar niemanden. Die CFL-Führung stört es definitiv nicht: Bahn-Verwaltungsratspräsident Jeannot Waringo sagt: „Für uns ist so ein Gesetz nicht nötig, und von mir aus könnte der Minister den alten Entwurf ruhig zurückziehen.“ Der sei ohnehin „widersprüchlich“ und „holperig geschrieben“.

Auf der Gewerkschaftsseite war schon als Marcel Schlechter vor 35 Jahren seinen Gesetzentwurf herausbrachte, der Landesverband davon überzeugt, dass keine Streikregelung besser wäre als diese: Sie würde Aktionen eher behindern. Der Gesetzentwurf ist an das Staatsbeamten-Streikgesetz angelehnt, das unter der DP-LSAP-Koalition am 4. April 1979 verabschiedet worden war. Schlechters Text nach könnte bei der Bahn nur nach dem Scheitern einer Schlichtungsprozedur zum Streik aufgerufen werden, und nur nachdem der Streik vorab bei der Regierung beantragt worden wäre. Eisenbahner mit besonders wichtigen Funktionen für den CFL-Betrieb könnten von der Regierung beschlagnahmt werden.

„Wir streiken, wenn wir streiken“, erklärte dagegen der Landesverband damals. Und sah sich damit in der Tradition des eintägigen Eisenbahnerstreiks vom 11. Oktober 1949, zwei Jahre nachdem die beiden privaten Luxemburger Eisenbahngesellschaften zu den CFL zwangsfusioniert worden waren. Damals gab es noch kein Streikrecht in der Verfassung, und das Statut der Eisenbahner, welches sie Staatsbeamten angleicht, stellte bei Arbeitsniederlegung die sofortige Entlassung in Aussicht. 4 619 Eisenbahner nahmen an dem Streik von 1949 teil. 31 wurden deshalb entlassen, weiteren 50 wurde damit gedroht. Als der Landesverband einen unbefristeten Streik ankündigte, machten die CFL die Entlassungen rückgängig. Die Symbolik von 1949 beschwörten die Gewerkschaften noch Jahrzehnte später: Der Streik damals hatte um drei Uhr morgens begonnen. Deshalb fing im Januar 1998 der Eisenbahnerstreik gegen die Pensionsreform im öffentlichen Dienst auch um diese Uhrzeit an.

Der Widerstand des dem linken Flügel der LSAP nahen Landesverbands gegen den Streikgesetzentwurf für die Bahn war ein Grund, weshalb LSAP-Transportminister lieber nicht auf ihn zurückkamen. Der andere war, dass es Eisenbahnerstreiks zwar gab, aber die Gewerkschaften immer so handelten, als gebe es ein Streikgesetz für sie. Schon 1982 beim eintägigen Streik für die volle Wiedereinführung der Lohnindexierung besprachen sie mit der Bahndirektion die Durchführung des Streiks. Und sie meldeten die Arbeitsniederlegungen immer im Transportministerium an, so wie Staatsbeamte das beim Staatsminister tun müssen. Nur, dass es für diese in einem Gesetz steht.

Und genau betrachtet, richtete sich nur ein Eisenbahnerstreik in der jüngeren Vergangenheit gegen die CFL-Führung und war nicht Teil einer großen Aktion im öffentlichen Dienst: Am 9. Mai 2003 protestierten Landesverband und Syprolux mit einem eintägigen Ausstand dagegen, dass die CFL-Direktion Versprechen auf Verbesserungen der Arbeitsbedingungen nicht eingehalten habe, und sie fürchteten eine Auftrennung der CFL in Filialen, die für sich rentabel sein sollten. Es war die Zeit, als in der EU der Schienengüterverkehr liberalisiert wurde, öffentliche Monopole verschwinden sollten und die CFL mit ihren Kosten und ihrem Geschäftsmodell im Frachtbereich rangen. Damals sah es so aus, als könnte das mit dem Staat assimilierte Eisenbahnerstatut in Frage stehen.

Denn eigentlich gehören die Bahn und die Eisenbahner mit ihrem Statut zum geschützten Sektor. Dass es für die CFL keine Streikregeln gibt, ist Ausdruck eines Kräfte- und Interessengleichgewichts à la luxembourgeoise: Keine Regierung will einen Streik bei den CFL erleben. Dazu ist die Bedeutung der Bahn zu groß; ähnlich wie Ärztestreiks können Eisenbahnerstreiks von den Bürger/innen schnell als Folge von politischem Versagen aufgefasst werden.

Dass den Eisenbahnergewerkschaften damit zugestanden wird, politisch einflussreich zu sein, wissen diese wiederum zu schätzen und halten sich an ungeschriebene Streikregeln. Beim Termin für den letzten Streik im Jahr 2003 gingen Landesverband und Syprolux sogar so weit, ihn auf den 9. Mai zu legen, weil der damals auf einen Freitag fiel und von vielen lothringischen Grenzpendlern als Brückentag nach dem in Frankreich gesetzlichen Feiertag 8. Mai genutzt wurde. Die Auswirkungen des Streiks auf den Berufsverkehr waren dadurch kleiner.

Solange das so funktioniert, müssen auch die CFL kein Interesse an einem Streikgesetz haben: „Was wir brauchen, ist eine Mentalität, die so ist, dass man sich einig wird“, sagt Bahn-Verwaltungsratschef Waringo. „Wir streiten mit den Gewerkschaften, aber in der Regel kommen wir klar und wir wurden uns bisher immer einig.“

Wo Waringo Recht hat, hat er Recht: Seit der letzten CFL-Tripartite Ende 2005 herrscht Ruhe bei der Bahn. Damals wurde für den Güterverkehr das Eisenbahnerstatut an kontraktuelle Bedingungen gebunden, die in dem Fracht-Jointventure CFL Cargo zwischen den CFL und Arcelor-Mittal gelten sollten. Damit ebnete die Tripartit diesem Gemeinschaftsunternehmen den Weg. Die Mitbestimmung für die Gewerkschaften war in dem Frachtunternehmen von Anfang an ähnlich stark ausgebaut wie sonst bei der Bahn.

Für Minister/innen wäre das Streikrecht bei der Bahn durch ein Gesetz regeln zu wollen, deshalb eine politische Übung, bei der man sich Probleme holt, die man zu akzeptieren bereit sein müsste. Das war am Ende auch die Juncker-Polfer-Regierung nicht, unter deren Transportminister Henri Grethen (DP) Diskussionen mit den Gewerkschaften um das Streikrecht bei der Bahn geführt wurden. Aber nicht lange: Wenn schon eine Regelung, dann verlangte der Landesverband in dem Gesetz auch Warnstreiks zuzulassen, sowie politische Streiks, mit denen auf Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene zur Bahnliberalisierung Einfluss genommen werden könnte. So etwas ist in Luxemburg in keiner Streikregelung für irgendeinen Sektor erlaubt. Darüber eine Auseinandersetzung zu riskieren, erschien der damaligen Regierung ein viel zu großer politischer Preis für ein Gesetz, das an der Praxis vermutlich nicht viel geändert und bei der Bahn das Klima verschlechtert hätte.

Gut kann dieses Klima solange bleiben, wie das paraststaatliche Eisenbahnerstatut nicht in Frage steht. Das heißt: Solange wie der Staat weiterhin den Personenverkehr im Inland als öffentliche Dienstleistung den CFL zu erledigen überträgt. Dass sich daran etwas ändern könnte, ist nicht abzusehen. Zwar wurde in der EU die Bahnliberalisierung weitergetrieben und hat nun auch den Inlands-Passagierverkehr der Mitgliedstaaten erreicht. Doch in Luxemburg, weil es klein ist, kann der Staat auch weiterhin Verträge mit den CFL abschließen und muss nicht zu öffentlichen Ausschreibungen greifen. So dass, solange eine Regierung an der Bahn nicht sparen zu müssen meint, das Eisenbahnerstatut nicht in Gefahr gerät. Solange herrscht Ruhe mit den Gewerkschaften. Solange wäre ein Streikgesetz für die Bahn nur unnötig formell. Georges Melchers, Generalsekretär des Landesverband sagt, „wir kommen doch klar mit den CFL“. Da müsse man mit keinem Gesetzentwurf „wulle goen“.

Peter Feist
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